1 (Joost)

5 2 0
                                    

Kalt und metallisch lag der Lauf des Revolvers auf seiner Zunge. Mit geschlossenen Augen flüsterte er sich immer wieder Mut zu. Wann hatte er endlich, endlich den Mut, es zu tun?

Seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr gebetet, zu welchem Gott auch? Es gab einfach zu viele, zu viele Götter und doch so wenig Göttliches. Die Menschen brachten Leid auf die Welt, sie taten es ihren Freunden an, ihren Familien und letztlich sich selbst. Wie konnte es in einer solchen Welt einen Gott geben? Alles was einem Gott gleichkommen könnte, musste doch auf die Erde blicken und in einem Zustand der Wut alles einreißen.

Tränen liefen Jo die Wangen herunter, schluchzend schleuderte er den Revolver durch den Raum. Seine Hand zitterte, während er sich immer wieder an die Stirn schlug. „Wann?", fragte Jo schreiend. „Wann du verdammter Feigling?"

Niemand konnte ihn hören, denn keiner war da. Alle hatten sie ihn verlassen, niemand war ihm geblieben, niemand für den er etwas übrighatte. Selbst der Alkohol war aufgebraucht. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen, die Dunkelheit war einfach unerträglich. Wenn seine Augen geschlossen waren, dann war es still. Die Schatten brachten die Bilder, jene Bilder, die sich in seine Netzhaut eingebrannt hatten.

Seine kleine Wohnung glich einer Müllhalde, doch er fühlte sich wohl, sie war der perfekte Spiegel seines Inneren. Die Akten des letzten Falls waren auf dem ganzen Tisch verteilt, ein Kunstwerk aus Blut. Immer wieder überraschte es ihn selbst, auf welch eigenartige Art und Weise er den Tod eines Menschen betrachten konnte. Doch darauf kam es ihm nicht an, es zählte das Ergebnis. Der Mörder war ein Metzger und kein Spieler. Diese zwei Arten gab es. Die Metzger waren langweilig und schnell überführt, kaum des Überlegens wert, selbst die Zeitungen vergaßen sie nach einem Jahr. Schlimmer waren die Spieler, ihre Taten vergaßen die Menschen nie. Im Gegenteil, viele strebten nach ihrem zweifelhaften Ruhm, nach ein paar Minuten Aufmerksamkeit.

Dabei waren sie unwissend, keiner verstand, dass Einsamkeit nicht durch Ruhm geheilt werden konnte. Nichts konnte sie heilen, sie war das letzte große Geheimnis. Einsamkeit war ein Virus, es schlummerte in der Brust eines jeden und war jederzeit bereit auszubrechen.

Die Metzger waren leicht zu erkennen, sie machten irgendwann einen Fehler. Jo hatte es in den Augen des Ehemanns gesehen, er kannte solche Augen. Sie schrien Schuld, jeden Morgen musste er in diese lautrufenden Augen blicken. Als er die Augen des Mannes sah, war der Fall schon so gut wie abgeschlossen.

Es waren keine Kinder im Spiel, deshalb gab es wohl keine Opfer, nur zwei Täter. Die Frau machte ihrem Mann das Leben zur Hölle und der arme Tropf sah keinen Ausweg mehr. Er fühlte sich einsam, während er Tag und Nacht bei seiner Frau war. Vielleicht hatte sie es verdient, vielleicht auch nicht - Jos Arbeit war getan. Politik und Medien waren glücklich, alle konnten sie erneut ihr Lied der Sicherheit singen. Diese große Lüge, die alle ihren Kindern vor dem Schlafengehen erzählen. Erneut hatte die Arbeit nicht geholfen, weder die Bilder noch die Kopfschmerzen verschwanden. Nichts konnte ihn mehr ablenken, die Einsamkeit ergriff ihn ein ums andere Mal.

Schlaf fand er nicht, Mut fand er nicht, wie ein Schatten lebte er in der alten Hülle seines Körpers und tat eben, was er am besten konnte. Lange fragte Jo sich schon, wieso er gerade in dieser Sache gut sein musste. Andere, die nur sahen, was er tagtäglich ertragen musste, zerbrachen daran. Erneut rannen ihm Tränen herunter und neuer Mut packte ihn, langsam schielten seine Augen zum Revolver herüber. War es endlich an der Zeit?

Jo stand vorsichtig auf und bewegte sich zum anderen Ende des kleinen Zimmers. An der Wand war der Revolver abgeprallt und lag auf dem Boden, zwischen den Bildern des letzten Falls. Der Ehemann hatte seine Frau in Stücke gerissen, die unterdrückte Wut war in ihm hochgekommen. Nach und nach fanden sie die verschiedensten Körperteile, jedes war in eine blaue Mülltüte gehüllt. Hundert Mal erzählte der Mann, wie ihn seine Frau dazu trieb, genau diese Mülltüten nach draußen zu bringen. Die Beiden führten viele kleine Streitigkeiten, doch mit diesen blauen Mülltüten verband der Mann etwas.

Für immer schlafende Kinder - Gerechter ZornWhere stories live. Discover now