[ 11000 ]

96 18 1
                                    

Die Sonne geht auf.

Wie langen sind wir schon hier oben? Meine Hände sind kalt, aber es macht mir nichts aus.

Weiß der Geier woher Karl darüber im Bilde ist, dass heute ein so klarer Tag ist und man den Sonnenaufgang beobachten kann, als wäre er direkt vor einen auf eine besonders große Leinwand gemalt worden. Ein Gemälde, das sich immer wieder verändert, denn mit jeder verstreichenden Minute wechselt das Licht in einen noch unglaublicheren Farbton und das Spiel vom dunklen Himmel und dem aufkommenden Licht, das den Horizont, aber auch die unpersönlichen Betonklötze hier immer mehr in atemberaubende Schattierungen aus Rosa und Hellblau taucht.

Zuerst nur ein heller Streifen am Horizont, so geht das Schauspiel in eine Explosion aus Farben und Licht über, von dem nur die allerwenigsten Hausdächer dieser Stadt verschont bleiben. Ich bin kurz versucht, ein Foto mit meinem Handy zu machen, aber kein Schnappschuss kann diesen Moment festhalten.

Es würde was fehlen.

Die kühle Morgenluft, die um meine Ohren weht, der feuchte Windhauch, der mich frösteln lässt, die ersten Sonnenstrahlen, die mich an der Nase kitzeln. Das kleine Fünkchen Hoffnung in meinem Herzen, dass es noch so etwas Schönes in dieser abgefuckten Welt gibt.

Etwas so alltägliches in einem ganz neuen Kontext.

Immerhin stehe ich hier was weiß ich wo auf einem verdammt hohen Dach und während ich noch geglaubt habe, dass mein Leben am Ende ist, überströmt mich die Gewissheit eines neuen Tages, an dem ich alles erreichen kann, was ich nur will.

All diese Empfindungen würden auf einem Foto gänzlich fehlen. Genauso wie Karl.

Karl, der still und lächelnd hinter mir sitzt, seine Augen auf den Horizont gerichtet, aber doch huschen sie immer mal wieder zu mir, wohl um zu beobachten, ob sein Plan aufgegangen ist und mir die Spucke wegbleibt. Ich ärgere mich nicht einmal über seinen Triumph, so viel Stille und Besinnlichkeit hat von mir Besitz ergriffen und ich gönne ihm seinen Sieg.

Das wollte er mir also zeigen.

Irgendwie total nett und schön, aber-- irgendwie auch komplett schwul, wenn ich mal so drüber nachdenke.

Nie habe ich mich besonders für sowas interessiert, nicht einmal als ich in einer Beziehung war, kam es mir überhaupt in den Sinn, gemeinsam einen Sonnenaufgang geschweige denn -untergang anzuschauen. Auch wenn man der Sache etwas Romantisches nachsagt und es wirklich geil aussieht, aber-- hey, was soll das? Immerhin ist das hier weder Sarah noch irgendeine andere hübsche Frau.

Sondern Karl, der irgendwie sehr zufrieden aussieht und nur noch ganz sanft über seine Beine reibt, als könne er mal zur Ruhe von der andauernden Nervosität kommen. Und selbst wenn Karl schwul wäre und das hier sein unterschwelliges Liebesgeständnis an mich - ich bin zumindest mal nicht schwul!

"Danke", sage ich leise, als die Sonne komplett zu sehen ist und das grelle Morgenlicht ein bisschen ernüchternd im Gegensatz zum sanften Farbenspiel wirkt.

Ich gähne und halte mir sogar die Hand vor den Mund. So weit ist es schon gekommen, ich entwickle Manieren, das ist ein bisschen furchteinflößend.

Karl lächelt nur und zuckt mit den Schultern, ehe er sich mir wieder zuwendet und abermals beginnt, vor und zurück zu wippen.

Ich bin unglaublich müde und es ist fast eisig hier oben, Wind kommt auf, und ich muss ebenfalls lächeln. Mir ist nach einem heißen Kaffee, nach ein oder zwei Brötchen und dann ins Bett. Mein Schlafrhythmus ist sowieso seit Jahren nicht mehr existent und es ist mir herzlich egal, ob die Sonne gerade auf oder unter gegangen ist. Ich bin sowieso meistens nachtaktiv.

Die Ratte Alina hat das wundervolle Schauspiel wohl komplett verpennt, aber sie streckt jetzt wieder das Schnäuzchen aus der Kapuze und schnuppert in die kühle Morgenluft. Karl streichelt ihr über das Köpfchen und sagt:

"Lass uns wieder nach unten gehen. Vielleicht sollten wir uns noch ein paar Stunden hinlegen und dann mit der Programmierung beginnen." - Ich nicke nur.

"Viel Zeit bleibt uns ja wohl nicht mehr", schätze ich, "Also ran an die Arbeit!"

Alina kuschelt sich wieder ein und Karl springt von der Mauer. Ich tue es ihm gleich, wenn auch nicht so energisch, sondern schlurfe ihm eher wie ein Zombie hinterher. Es ist so dieses Gefühl, dass man mit dem vergangenen Tag - beziehungsweise der vergangenen Nacht - abschließen kann und etwas Ruhe finden.

Wir laufen wieder durch die Gänge bis zum Aufzug. In dem flackernden Licht sieht Karl doch ziemlich müde aus, mit dunklen Schatten unter den Augen.

"Eins verstehe ich aber immer noch nicht", sage ich, als wir unten wieder durch das Labyrinth laufen, in dem ich nicht einmal versuchen würde, mich allein zurechtzufinden,

"Was hat Luke mit der ganzen Sache zu tun? Wieso hast du ausgerechnet ihn beauftragt, dass er mich zu dir bringt?"

Ich sehe von schräg hinten, dass Karl lächelt.

"So war das nicht beabsichtigt", sagt er ruhig, "Ich habe ihn lediglich getroffen und in Anbetracht der aktuellen Lage, bat ich ihn um den Gefallen, auf dich aufzupassen, falls du was Dummes tun solltest. Er sollte dich nicht zu mir schleusen - er sollte dich lediglich im Auge behalten und dir aus der Patsche helfen, bevor du DIZZORDER direkt in die Arme läufst."

Ich verstehe nicht.

"Halt mal, wieso DIZZORDER? Ich war hinter DEINER falschen Fährte her!", jetzt bin komplett verwirrt, "Dieses Internetcafé, aus dem du mir das Video geschickt hast-- das war ja nicht DIZZORDER!"

"Natürlich nicht", sagt Karl sanft, "Aber hast du gedacht, dass er es nicht mitbekommt? Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass er sogar in der Nähe war, als du von Luke erwischt wurdest. Und es ist recht wahrscheinlich, dass DIZZORDER auch so ein-- so ein-- teuflisches Ding hat wie du!"

"Teuflisches Ding?", frage ich belustigt und zwinkere Karl zu, "Ich weiß ja nicht, wie du teuflisch definierst, aber wenn du meinst, dass mein Ding jederzeit bereit zur Sünde ist, dann"-- Karl unterbricht mich:

"Dom! Ich meinte deine Pistole!"

Ach so, ja. Klar. Das wusste ich natürlich.

Schweigend laufen wir die letzten Gänge entlang, ehe mir wieder alles bekannter vorkommt und wir in der von mir so genannten Überwachungszentrale ankommen. Das dumme Grinsen kann ich zwar den restlichen Weg über nicht aus meinem Gesicht wischen, aber Karl scheint sich nicht sonderlich für den debilen Ausdruck auf meinem Gesicht zu interessieren. Teuflisches Ding, hahaha!

"Also", sage ich schließlich und grinse schief, als ich mich der Tür zum Gästezimmer zuwende.

Karl nickt mir zu und sein Blick streift wenige Sekunden lang sogar meine Augen.

"Mach du auch nicht mehr so lang", höre ich mich selbst sagen, während ich sehe, wie er wieder zu seinem Arbeitsstuhl läuft.

Karl dreht sich um und nickt nochmals. Ich zwinkere ihm zu und deute ein Winken an, meine Hand schon am Türgriff.

"Leg dich auch ein bisschen hin, wir brauchen nachher alle Kräfte, die wir mobilisieren können!", sage ich und klinge vielleicht ein bisschen wie eine Mama.

Karl grinst leicht und hebt zaghaft die Hand zum Winken:

"Schlaf schön, Dom!"

"Du auch, Karl", sage ich leise und schließe die Tür hinter mir, als ich im Zimmer stehe.

Ich kicke meine Schuhe von den Füßen und lasse mich erleichtert aufs Bett fallen. Lächelnd schaue ich noch eine ganze Weile an die Decke, ehe ich mich zur Seite drehe und die Augen schließe.

"Schlaf du auch schön", murmele ich leise und es dauert nicht lange, bis mein Körper schwer in der Matratze versinkt und ich im Traumland ankomme.

Jeder Plan ist nur so gut, wie er sich durch Improvisationen in der letzten Sekunde abwandeln lässt, falls etwas doch schief gehen sollte. Und jede Improvisation ist nur so gut wie der Kopf, der sie sich innerhalb von winzigen Augenblicke ausdenkt. Deswegen kann eine Mütze Schlaf vor so einer Aktion nicht schaden.

Wer weiß, wann ich das nächste Mal wieder in einem so kuscheligen Bett liegen kann?

Sing Me To Sleep [✓]Where stories live. Discover now