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Mittlerweile bin ich aus solchen Aktionen ganz von allein heraus gewachsen.

Immerhin bin ich kein frisch gebackener Abiturient in der Spätpubertät mehr, sondern fast dreißig. Was allerdings auch wiederum kein Beweis für den geistigen Reifezustand sein sollte, immerhin werden sich manche von euch fragen, wie ich mit fast dreißig immer noch keinen festen Job, keine Frau an meiner Seite und nicht einmal eine eigene Wohnung haben kann.

Ich will es mal so sagen: Jeder hat andere Ziele im Leben. Und für meine wären eine Festanstellung mit Steuernummer, eine neugierige Freundin und eine immer gleich bleibende Adresse eher unpraktisch.

Zwar sehe ich mich nicht als Held, aber eines habe ich mit vielen von eben jenen gemeinsam: Ich bin ein Einzelgänger, ein Heimatloser und ich bin unsichtbar. Zumindest für das System, alles andere wäre auch fatal. Natürlich kann ich morgens auf die Straße gehen und mir meine Brötchen vom Backwaren-Discounter holen, ohne verhaftet zu werden.

Immerhin ist diese äußere Hülle, mein Körper, nicht das, was die Geheimdienste suchen. Niemand kennt meinen Namen, niemand weiß wie ich aussehe. Sie kennen mich nicht, sie suchen nicht den Mann mit dem ausgewaschenen Kapuzenpulli und den durchgelatschten Sneakers.

Sie wollen nicht mich. Sie wollen ABYSS. Und dieser Name hat kein Gesicht.

Ich bin anonym in der realen Welt, also kann ich ohne weitere Probleme in den Supermarkt gehen und mir eine Pepsi light kaufen, ohne dass jemand schreiend mit dem Finger auf mich zeigt und hysterisch die Polizei ruft.

Meistens zumindest.

Heute komme ich tatsächlich in diesen Genuss, von einem kleinen Mädchen angestarrt zu werden, das schockiert den Finger nach mir ausstreckt und mit angsterfüllter Stimme nach ihrer Mutter schreit:

"Mama! Mama! Da ist der Schwarze Mann!"

Die Mutter kommt tatsächlich hektisch angelaufen, aber statt die Polizei zu rufen, greift sie nach der Hand des Kindes und zieht es weiter. Zischend murmelt sie etwas wie:

"Sowas sagt man nicht. Lass den Mann in Ruhe, er kann auch nichts dafür. Komm jetzt!"

Mit einem Schulterzucken ringe ich mir ein Lächeln ab und schnappe mir die letzte Literflasche Pepsi light aus dem Regal. Die größeren Flaschen sind mir zu unhandlich und außerdem ist die Kohlensäure weg, wenn man etwa bei der Hälfte ist.

Manche Dinge ändern sich eben nicht.

Und auch wenn Berlin heutzutage die höchste Ausländerquote in ganz Deutschland und außerdem auch seit der ersten diesbezüglichen Zählung hat, ist Fremdenhass noch immer ein Begriff, der aus dem Alltag nicht wegzudenken ist. Es interessiert auch niemanden, dass ich in Berlin geboren bin, dass sogar meine Urgroßmutter mitten in Kreuzberg auf die Welt kam.

Solche Sachen sehen kleine Mädchen nicht. Kinder sehen nur meine Hautfarbe und wiederholen die Einstellung, die ihnen von den Eltern zuhause eingetrichtert wird. Und so wie alle Menschen automatisch im Ernstfall auf den in ihrem Kopf am meisten präsenten Stereotyp zurückgreifen, sind alle Ausländer heutzutage eben kriminell und alle Dunkelhäutigen logischerweise Ausländer.

Wem sonst würde man die kriminelle Energie denn auch so eindeutig ansehen? Es ist gut, ein Feindbild zu haben. Es stärkt den Gruppenzusammenhalt und das Wir-Gefühl, wenn man auf der anderen Seite steht. Manche Dinge bleiben eben gleich, egal ob wir das Jahr 1933 oder das Jahr 2033 schreiben.

Ich gehe mit meiner heldenhaft erbeuteten Flasche zur Kasse und bezahle wie jeder normale Mensch die Summe aus den Herstellungskosten und den horrenden Qualitätssteuern, die mittlerweile für sämtliche Lebensmittel verlangt werden. Mir geht es besser als vielen anderen, dafür bin ich dankbar. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir jederzeit von jedem beliebigen Konto auf der Welt selbst ein bisschen Geld überweisen, um mir meine Pepsi light leisten zu können.

Als Robin Hood unter den Hackern wähle ich dabei natürlich Konten aus, die korrupten Politikern und Führungskräften von riesigen Konzernen gehören. Diese Publicity kann man sich in meinem Bekanntheitsgrad nicht nehmen lassen.

Vor dem Supermarkt an der Eisdiele treffe ich das Mädchen wieder.

Die Mutter will ihr kein Eis kaufen, die Kleine heult und tobt. Ich bin kein Held. Ich bin ich und ich handle nach meinen eigenen Werten. Ich kaufe mir vor ihren Augen ein großes Softeis mit Schokosoße und lächle das Mädchen freundlich an. Sie schluchzt bitterlich. Die Mutter ist vollkommen entsetzt, als ich zu den beiden laufe und der Kleinen das Eis in die Hand drücke.

Das Mädchen trumphiert und ihre Augen leuchten. Die Mutter wirft mir einen Blick zu, der unter anderen Umständen vielleicht hätte töten können.

Es sind nicht die Kinder, die Angst vor Fremden haben. Es sind die Erwachsenen, die den Hass und die Verständnislosigkeit an die nächste Generation weitergeben. Ich nehme von den Wohlhabenden und gebe es den Bedürftigen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich mir das zufriedene Grinsen verkneifen, als die Mutter mir ein erzwungenes "Danke" entgegenzischt und das Mädchen schnell von mir wegzieht.

Ich als kleiner Pimpf hätte gern mal ein Eis bekommen. Vielleicht kommen so meine Werte zustande. Immerhin sollte jeder etwas haben, woran er glaubt und woran er festhält. Ansonsten wäre das ganze Leben eher unnötig.

Vermutlich bin ich kein ehrenhafter Samariter. Vielleicht habe ich dem Mädchen auch das Eis geschenkt, um der Mutter eins auszuwischen. Möglicherweise sollte man solche alltäglichen Dinge nicht so kritisch hinterfragen, sondern mal einen Gedanken an die Dinge verschwenden, die jeder für selbstverständlich hinnimmt. Denn nur so kann ein System entstehen, in dem die Menschen schon vor dir selbst wissen, wer du bist und was du tun wirst

Und vielleicht ist genau das der springende Punkt.

Ich will mich nicht einem Algorithmus beugen, der meine Chancen im Leben ausrechnet und mir sagt, was ich zu tun habe. Nennt mich altmodisch, aber irgendwie habe ich das Bedürfnis, mich selbst zu verwirklichen. Und während ich die Pepsiflasche neben der Brötchentüte und meinem alten Netbook in meinem Rucksack verstaue, laufe ich die Straße entlang und summe die Melodie von Indiana Jones.

Der Tag ist noch jung und es gibt viel zu tun. Die Welt wartet nur darauf, von mir gerettet zu werden.

Ich schiebe meine Brille wieder ordentlich auf meine Nase und ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht. Eigentlich führe ich zwei Leben gleichzeitig.

Ja, ich bin ABYSS. Der gefürchtete Kriminelle, der die Cyberwelt in Angst und Schrecken versetzt.

Aber ich bin auch Dominik Bauer, ein ganz normaler Typ, der eventuell dein Nachbar sein könnte. Der Kerl, der dir die Einkufstüten in den vierten Stock trägt und dir sagt, wie schön das Wetter heute ist.

Und wenn du aus dem Fenster schaust, wo es gerade in Strömen regnet, dann ist er verschwunden und vielleicht siehst du ihn nie wieder.

Wer weiß, ob du ihm nicht vielleicht doch noch mal irgendwann über den Weg laufen wirst.

Sing Me To Sleep [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt