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Herzlich Willkommen in meiner Welt.

Einer Welt, die irgendwie auch deine sein könnte, auch wenn du es dir noch nicht vorstellen kannst.

Diese Welt ist zwar nicht mehr genau, wie sie einmal war - so viel habe ich durch den Geschichtsunterricht in der Schule und eigene Recherchen bereits herausgefunden - aber im Grunde sind doch viele Dinge gleich geblieben.

Während ich auf meinem Weg durch unterschiedliche Straßen und verwinkelte Seitengasse laufe, versinke ich wie immer in mehr oder minder trübsinnige, aber doch noch ein hoffnungsvolles bisschen zynische Gedanken. Es ist doch ganz nett hier, wenn man sich zurechtfindet. Und während ich durch die Autoabgase kaum Luft bekomme und mir deswegen mein Halstuch vor den Mund ziehe, muss ich doch wieder meine In-Ear-Kopfhörer in die Ohren stöpseln, um nicht durchzudrehen.

Musik kann heutzutage jeder machen, ich persönlich bevorzuge doch noch die alten Sachen, bei denen die Menschen noch schwitzend auf der Bühne standen und in engen stinkenden Studios auf ihre Schlagzeuge eingeprügelt und die Saiten der elektrischen Gitarre gequält haben. Beinahe Oldschool oder so. Aber wenn ich mich umschaue, dann sieht es doch eigentlich noch so aus wie in den Filmen von vor etwa fünfzig Jahren.

Gewalt an jeder Ecke, Ungerechtigkeit innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsschichten, viel Müll und Dreck in den Städten und immer dieser Lärm. Sirenen, Martinshorn, hupende Autos und schreiende Menschen. Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig, bitte lassen Sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt und das Rauchen ist nur in den dafür gekennzeichneten Raucherbereichen zulässig.

Irgendwann wird es gekennzeichnete Bereiche für jede Art von Menschen geben und wenn man über die gelbe Linie am Boden tritt, wird man verhaftet. Als würde der Rauch nicht über diese aufgezeichnete Grenze treten und am Ende ist es auch nur die Gnade der Obrigkeit, dass es überhaupt einen solchen Bereich mit Aschenbecher in der Mitte noch gibt. Man könnte ja auch einfach gleich alle Raucher verhaften, schließlich fügen sie nicht nur sich selbst, sondern auch sämtlichen Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.

Rauchen kann nicht mehr tödlich sein. Rauchen ist tödlich. Und trotzdem haben noch längst nicht alle Menschen aufgehört damit.

Ich meine, ich rauche nicht, soviel steht fest. Aber nicht wegen den erschreckenden Werbespots oder den albernen Bildern auf der Packung. Ich finde lediglich nichts daran, aber manchmal fühle ich doch eine gewisse Verbundenheit mit den Menschen, die mit ihren Zigaretten und E-Zigaretten draußen vor den Lokalen stehen und sich im Winter dumm und dämlich frieren.

Damit es eine Mehrheit gibt, muss es auch Ausnahmen und die dadurch entstehende Minderheit geben. Wären die Armen nicht arm, wären die Reichen nicht reich und umgekehrt. Aber niemand ist dankbar, eigentlich ist doch eh alles selbstverständlich. Ich würde gern sagen, dass meine Heimat Berlin mittlerweile zu einer Stadt der Superlative geworden ist, aber das wäre schlichtweg gelogen.

Stattdessen gibt es hier nichts als Komparative. Besser. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr.

Niemand gibt sich mit weniger zufrieden und auch wenn man nicht auf das Beste hoffen kann, so soll doch alles zumindest besser sein als das der anderen. Egal wovon man spricht und auch wenn ich mich an keinem anderen Ort auf dieser Welt lieber aufhalten würde, so hasse ich doch diese dreckige Stadt, deren mühevoll durch billige Arbeitskräfte sauber gehaltene Straßen auch nicht mehr über ihr Image hinwegtäuschen können.

Aber wer gibt sich heutzutage noch mit den analogen Wegen zum Erfolg ab? Wer überhaupt schickt seine Kinder noch auf den Spielplatz oder in den Park, wo es doch von Verbrechern und Kriminalität nur so wimmelt? Niemand lässt die Jugendlichen überhaupt noch allein mit der U-Bahn zur Schule fahren. Eigentlich hat doch sowieso jeder anständige Mensch ein eigenes Auto mit integriertem Navigationssystem, sodass es unmöglich ist, sich zu verfahren.

Das hier ist die Zukunft. Die Autos fahren zum Großteil ganz von selbst, man muss nur das Ziel eingeben, schon wird die Route berechnet. Was vor Jahren noch kühne Träume der Wissenschaftler und Investoren waren, ist heute schon langweilig geworden. Die Realität ist langweilig geworden.

Die virtuelle Welt bestimmt den Alltag. Kinder werden quasi schon kurz nach ihrer Geburt mit dem neusten technischen Schnickschnack ausgestattet. Suchmaschinen wissen die Antwort auf deine Fragen schon, bevor du sie stellst. Riesige Cyber-Konzerne haben mehr Einfluss auf die Politik als deine Wahlstimme es je gehabt hat. Sowieso, wen willst du wählen, wenn sowieso jede sogenannte Partei mit den anderen unter einer Decke steckt? Ist eh nur noch Show, eine Freakshow sondergleichen.

Mein Weg führt mich zu den Gleisen eines stillgelegten Bahnhofs. Weit und breit gibt es nur heruntergekommene, leerstehende Häuser mit eingeschlagenen und verbarrikadierten Fenstern. Man sagt sogar, dass sich dort zum Teil die Anarchisten eingenistet haben sollen. Mir ist es egal, ich steige über das Gestrüpp, das vielleicht das letzte Zeichen von lebendigen Pflanzen außerhalb der Parks und extra angelegten Grünflächen ist. Dorniges Unkraut, aber es strahlt mehr Lebenswillen aus als sämtliche in Form geschnittenen Buchsbäume in den Gärten der Reichen.

Es bohrt seine Triebe durch den Asphalt, stößt zarte Knospen durch die Betondecke und umrankt die eiseren Schienen einer vergangenen Zeit. Und irgendwie wiederholt sich die Geschichte doch nur immer und immer wieder. Brot und Spiele?

Brot gibt es kaum noch, nur billige Kartoffelchips mit Geschmacksverstärker und jeder Menge Fett und Salz. Spiele hingegen gibt es zu Genüge. So ausgeprägt, dass viele Menschen gar nicht mehr zwischen Spiel und Ernst unterscheiden können. Und das müssen sie auch nicht, denn die Industrie nimmt sowieso jede Entschiedung großzügig ab. Du bist kein Mensch mehr, du bist eigentlich nur eine winzige Komponente eines großen Ganzen, das irgendwie von selbst funktioniert, obwohl nur die Reichen und Mächtigen die Fäden ziehen.

Privatsphäre wurde längst abgeschafft. Überwachungskameras sind auch dort, wo man sie nicht einmal sehen kann. Und wenn du Gebrauch von der Technik machst, die mittlerweile wirklich jedem schon zu einfachsten Konditionen und billigsten Preisen zur Verfügung steht, spielst du damit genau den Strippenziehern in die Hände. Es gibt keinen einfacheren Weg, mehr über dich herauszufinden, als über deine Gewohnheiten am Smartphone oder Computer. Alle persönlichen Daten werden gespeichert und ausgewertet, dein digitaler Fingerabdruck gehört nicht mehr dir selbst. Du bist keine Person mehr, du bist eine Ansammlung von den dir zugeordneten Daten.

Und natürlich hält ein solches System dich für einen Verbrecher, wenn du nicht nach den Regeln spielst. Du wirst als Krimineller gesucht, wenn du noch Werte hast und versuchst, diese gültig zu machen.

Wenn du in der immer skurriler werdenden Realität nichts reißen kannst, dann wirst du eben Hacker. Schaffts dir deine eigenen Regeln, kannst hinter dir sauber machen, wo auch immer du aus Versehen irgendwelche Daten hinterlassen würdest. Mir ist es wichtiger, dass niemand in mein System reinkommt, als dass ich in irgendjemandes System einbrechen kann. Das war der ausschlaggebende Grund für mich, meine Leidenschaft und nicht zuletzt auch meine Begabung zu Beruf und Lebensziel zu machen.

Ich kann mich nur schützen, wenn ich meine Spuren verwische. Ich kann nur überleben, wenn ich unsichtbar bleibe.

Und auch wenn die Überwachungskameras einen vermummten Typen aufzeichnen, der über die Gleise geht und schließlich an einer verlassenen U-Bahn-Station die Treppen runtersteigt, wird das auf keinem Monitor der Stadtwerke angezeigt werden. Das hier ist unser Sperrgebiet. Eine Grauzone, in die sich nicht einmal mehr die Polizei wagt. Dabei gibt es kein Wir, es gibt nur eine Ansammlung von Individuen, die diese Station zum Niemandsland erklärt hat, in dem es keinen Krieg und keine Feinde gibt.

Keinen Frieden, soweit will ich nicht gehen. Aber zumindest einen Waffenstillstand unter denen, die sich trotz ihrer augenscheinlich sogar extrem ausgeprägten Individualiät am Ende darin ähneln, dass sie nicht gleich sein wollen. Kein Teil des Systems, keine Gruppe. Nur eine Minderheit, die beschlossen hat, zumindest untereinander keinen Krieg mehr zu führen.

Willkommen in meiner Welt. Hier nennt man mich Ratte. Auch hier ist sich jeder selbst der Nächste.

Und wenn jemand wissen würde, dass ich ABYSS bin, wäre das trotz des Nichtangriffpaktes mein Todesurteil.

Sing Me To Sleep [✓]Where stories live. Discover now