Gutes Training ist der halbe Sieg

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 „Du kannst mich nicht einfach fortschicken!“, protestierte Leah. Sie stand mitten im Wohnzimmer, während es sich ein paar unserer Gäste auf der Couch bequem gemacht hatten. Wo der Rest gerade war, wusste ich nicht.

„Alpha!“, antwortete mein Vater. Er führte nicht weiter aus, was das bedeutete und ließ damit Dreiviertel der Anwesenden unwissend, aber ich wusste es. Er war der Anführer des Rudels. Waren die Mitglieder in Wolfsgestalt, konnte er sie dazu zwingen das zu tun, was er von ihnen verlangte. Nun, da ich mich dem Rudel angeschlossen hatte, konnte er das auch bei mir machen, wenn er es denn wollte. Bisher war es noch nicht dazu gekommen, weil ich mich seit dieser jämmerlichen Verwandlung in ein kleines Karnickel nicht mehr verwandelt hatte, aber ich wartete nur auf den Tag, an dem er seine neu gewonnene Macht gegen mich verwendete. Da Leah aber nun in Menschengestalt vor ihm stand, konnte er sein Privileg nicht nutzen und wenn er sich nicht durchsetzen konnte, wurde er gern immer etwas lauter. Ich kannte das zur genüge.

„Ich habe genauso ein Recht hier zu sein, wie alle anderen auch“, sagte Leah.

„Die Anderen sind aber nicht so verblendet wie du!“

Leah starrte ihn fassungslos an. „Was soll denn das bitte heißen, Jake?!“

Er trat näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Mir ist klar, warum du mitkämpfen möchtest, Leah. Ich kämpfe wahrscheinlich aus dem selben Grund. Aber Will hätte das nicht gewollt. Er hätte gewollt, dass du dich um eure Kinder kümmerst. Unter keinen Umständen hätte er zugelassen, dass sie allein gelassen werden. Sie haben schon ihren Vater verloren. Lass sie nicht auch noch ihre Mutter verlieren. Bitte.“

Ich sah, wie ihrer beiden Augen glitzerten, als er die Worte aussprach. Leah schürzte die Lippen, dann schob sie mit entschlossenem Blick seine Hand von ihrer Schulter. „Ich weiß, was er gewollt hätte, aber hier geht es darum, was ich will.“

Vater schüttelte den Kopf, dann ließ er seinen Blick hilfesuchend durch den Raum wandern und landete bei Sam. „Sam“, sprach er zu ihm, „sag du doch auch mal was.“

Sam lächelte bitter. „Vergiss es, Jake. Ich hab schon den kompletten Flug versucht, sie zum Umdenken zu bewegen.“

Wieder sah mein Vater Leah an. Man konnte förmlich sehen, wie die Rädchen in seinem Gehirn arbeiteten, aber das absolute Totschlagargument hatte er ja schon gebracht. Wenn sie nicht für ihre Kinder auf das Risiko verzichten wollte, für was dann? „Also gut“, sagte er plötzlich und alle Augenpaare im Raum richteten sich mit einem Mal gespannt auf ihn, auch Leah sah erwartungsvoll zu ihm empor. „Dann kämpfst du eben mit uns. Aber du wirst mich nicht davon abhalten, dass ich dafür sorge, dass du vierfach flankiert wirst.“

Leah lächelte leicht. „Damit kann ich Leben.“

„Oder sterben“, antwortete Vater und ging zur Terrassentür hinaus. Leah blieb stumm zurück. Als ihr Blick anschließend auf mich fiel, stand ich vom Sofa auf und ging ebenfalls nach draußen. Ich konnte ihr immer noch nicht wirklich in die Augen sehen. Ich hatte zwar das Gefühl gehabt, dass sich ihr Groll mir gegenüber etwas gelegt hatte, aber sicher war ich mir nicht, also ging ich ihr lieber aus dem Weg.

Die Wiese vor unserem Anwesen war inzwischen zu einem Trainingscamp umfunktioniert worden. Die hohen Mauern um das weite Gelände schützten uns vor neugierigen Blicken, Besucher hatten wir ohnehin nur selten.

Ich setzte mich auf die Verandatreppe und sah dem Treiben zu. Die meisten Trainierenden waren heute Wölfe. Sie übten hauptsächlich das möglichst reibungslose Verwandeln in die Wolfsgestalt. Viele von ihnen waren nach der langen Zeit als Mensch etwas eingerostet, was das anging. Ich seufzte. Ob sie es jemals vermisst hatten? Ich tat es. Ich vermisste die Freiheit, die man als Tier spürte. Besonders intensiv hatte ich dieses Gefühl gehabt, wann immer ich als Vogel durch den Himmel geflogen war.

Blood Moon - Biss in alle Ewigkeit (Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt