Julians Blick schnellte nach unten, sodass sich der Alte losreißen konnte. Innerhalb von Sekunden verpuffte sein Zorn.
„Du bist wach. Bei den Sternen, mach so etwas nie wieder."
Er ließ sich neben ihr auf die Steine sinken, ihre kaputte Hand wieder in seiner, seine andere an ihrer Wange. Die Erleichterung war ihm wohl ins Gesicht geschrieben.
„Ach wie schön", kommentierte der Alte und Julian fauchte irgendetwas in die angrenzende Zelle hinüber. Cress blinzelte langsam, immer noch verwirrt.
„Was ist passiert?"
Julian schüttelte nur den Kopf.
Zu viel.
Er wusste gar nicht, ob er es alles zusammenfassen konnte.
Ihm waren ihre Augen noch nie aufgefallen.
Blau, aber ganz anders, als seine eigenen.
Nicht perfekt, nicht einheitlich.
So viele verschieden Farbtöne, Sprenkel, Tupfer und helle, winzige Punkte.
Er hätte sich küssen können, hätte sich hinunterlehnen und sie küssen können.
Aber er tat es nicht.
Vielleicht, weil er Angst hatte.
Weil er nach all den Wirren, Intrigen, all dem Tod trotzdem Angst hatte vor so etwas Dummem.
Sie schloss die Augen, verzog den Mund, als ob sie versuchen würde nicht zu weinen.
Sie fluchte, aber es war mehr ein Wimmern.
Er hätte sie an sich gezogen, wollte ihr aber nicht weh tun.
Stundenlang hatte sie dort in der Luft gehangen.
Er wollte sich das nicht einmal vorstellen, konnte aber aus irgendwelchen Gründen nicht damit aufhören.
Oh bei den Sternen, sie tat ihm so leid. Es tat ihm leid, dass so etwas überhaupt passiert war.
„Cress", kam es aus der angrenzenden Zelle.
„Lass sie in Ruhe", kam es zurückgeschossen, aber die Diebin richtete sich ächzend auf.
Julian stützte sie, murmelte aber irgendetwas Missbilligendes.
Die Diebin spähte in das Dunkel der anderen Zelle hinüber.
Sie schluckte, aber als sie das Wort an den Alten richtete, war ihre Stimme fest.
„Du hast mich an Julian verraten."
Der Alte kicherte.
„Aye. Aber so schlecht scheint das ja für dich nicht ausgegangen zu sein, Schattenvogel."
Ihr Blick war unergründlich.
„Was machst du in einer Zelle? Wieso hat die Reana van Clyve angegriffen?", fragte Cress und ließ ihren unruhigen Blick über seine magere Gestalt flackern.
„Dasselbe könnte ich dich fragen. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Meuterei. Von deinem besten Freund Sam."
Die Diebin zuckte zusammen.
Cress Aufmersamkeit kehrte nach einem kurzen Moment zu Julian zurück.
Sie drehte vorsichtig den Kopf um ihn anzusehen.
„Wer hat uns hergebracht?"
Er musste seine Stimme erst wiederfinden.
„Eine Frau. Blass, viele helle Haare, grüne Augen, roter Strich im Gesicht."
Cress schloss die Augen und stöhnte unwillig.
„Siva Shkarah."
Als er ihr einen fragenden Blick zuwarf, ergänzte sie:
„Assassine. Miststück. Dann sitzen wir wohl bei der Assassinengilde fest."
Der Alte, den Cress anscheinend kannte, bekam einen Lachanfall, der in augenscheinlich schmerzhaftem Husten endete.
„Was?", fragte Cress in die andere Zelle hinüber.
„Du musst nur einen Blick nach draußen werfen, Cresscany."
Verwirrt suchte ihr Blick die Dunkelheit hinter den Gitterstäben ab.
„Vorhänge, meine Liebe. Ihr sollt nicht wissen, wo ihr euch befindet. Aber wenn sie dir Wasser bringen, wirst du es sehen. So lange kannst du ja dafür sorgen, dass du nicht doch noch stirbst und für mich singen."
Ein Ruck ging durch Cress, so plötzlich und heftig, dass Julian fast das Gleichgewicht verloren hätte.
Ihr Blick wanderte von ihm zu ihrem farblosen Bekannten und wieder zurück.
„Deswegen ist sie nämlich gegangen, musst du wissen", grinste der Alte. „Weil sie in Liedchen für einen alten, hässlichen Mann singen musste. Schön, wegen so etwas verlassen zu werden, oder Prinzessin?"
Cress musterte Julian, der nun endlich den Unterton in der Stimme des Alten zuordnen konnte.
Eifersucht.
„Ich hoffe mal die Würgmale an seinem Hals sind von dir", sagte sie dann, scheinbar ohne Zusammenhang.
Der alte Mann knurrte, während Cress ihn anstarrte.
Ihre Augen wanderten zu ihren bandagierten Händen hinunter, traurig und ernst.
Zwei Finger fehlten.
Reflexartig legte sich Julians Hand über die von Cress, ganz vorsichtig.
Nur, damit sie nicht mehr hinsehen konnte.
Sie zuckte zusammen.
„Was ist passiert?", fragte sie dann mit verräterisch hellen Augen, aber mit fester und irgendwie hohler Stimme, so als ob sie immer noch nicht ganz in der Realität angekommen wäre.
Aber bevor Julian auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, schlug jemand den schweren, schwarzen Stoff zur Seite und stellte klappernd zwei Teller, auf den Boden.
Ein Korb Brot, Kelche voller Wein und ein Krug Wasser folgten.
Der Mann warf einen raschen Blick in den Raum und war schon dabei den Vorhang wieder zuzuziehen, als er Cress Blick begegnete.
Der junge Mann war eindeutig überfordert.
Weder ein Dieb, noch ein Assassine.
Sein Blick huschte zu Julian, der völlig regungslos neben der Diebin kniete. Wahrscheinlich sah er immer noch ziemlich aggressiv aus.
Der Soldat verzog das Gesicht, bevor er verschwand.
Und den Vorhang einen Spalt breit offenließ. Cress zog sich an den Metallstreben der Zellenwand hoch, schneller als es ihr die beiden Männer zugetraut hätten.
„Was machst du denn?", grummelte Julian und legte einen Arm um ihre Taille, damit sie sich nicht die Knie blutig schlug.
Sie zischte unwillig.
„Ich muss das sehen."
Dann sah sie zu ihm auf.
So nah.
Das letzte Mal, als sie sich so nahe gewesen waren, hatten sie sich verprügelt.
Nur ganz kurz, bevor sie auf den schwarzen Stoff zuwankten.
Julian griff durch das Gitter und zog den Stoff zur Seite.
So weit, dass die beiden sehen konnten, was er die ganze Zeit vor ihnen verborgen hatte.
Unglauben rauschte über Julian hinweg, während Cress ihre Hände so fest um die Gitterstäbe klammerte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Er schob den Vorhang noch weiter zurück und der Stoff glitt lautlos bis zur Wand hinüber.
Auf Julians Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet.
Was er da sah, war schlicht und einfach unmöglich.
Sein müder Kopf weigerte sich zu verarbeiten, was sich da vor ihm erstreckte.
Cress atmete neben ihm so zitternd ein, dass er sie ansah.
Sie hatte nicht über ihre verlorenen Finger oder die Schmerzen geweint, die sie wahrscheinlich immer noch hatte.
Aber jetzt ...
Ihre Lippen standen leicht offen, ihr Blick war starr nach draußen gerichtet, während ihre Bandagen in der Düsternis zu leuchten schienen. Julian konnte nicht anders, als wieder hinaus zustarren.
Auf die Stadt, die sich unter ihnen erstreckte.
So viele Lichter, die in der Finsternis unter ihnen leuchteten wie tausende von Kerzen.
Keine Wolkenkratzer, sondern völlig verschiedene Gebäude aus demselben, hellgrauen Stein.
Säulen und Gärten, Kuppeln und Plätze.
Die Stadt wuchs an den Felswänden hinauf, wie eine schöne Pflanze. Blitzende Wasserfälle, über denen Vögel kreisten, rauschten hinab ins Tal.
Und über allem wölbte sich eine Decke aus grobem Stein.
So hoch, dass Julian es nicht fassen konnte.
Sie befanden sich nicht im Unterschlupf der Assassinen.
Diesen Ort hatte jemand aus den alten Märchenbüchern geklaut.
Er konnte es nicht fassen.
Wie hatten sie es nur geschafft, so lange unentdeckt zu bleiben?
Sie befanden sich tief unter der letzten Stadt, die augenscheinlich nicht die letzte Stadt war.
Er fühlte sich verloren.
Unwissend.
Klein.
Unmöglich.
Als jemand neben ihm ein ersticktes Geräusch von sich gab, erinnerte er sich daran, dass Cress neben ihm stand.
Der Diebin rannen Tränen über das blasse, von Kratzern übersäte Gesicht. Aber ihre Augen leuchteten, als sie den Blick von der Märchenstadt abwandte und ihn ansah.
„Siehst du es nicht, Julian?", ihre Lippen zitterten so sehr, dass er die Worte kaum verstand.
Sie weinte, nicht vor Angst, Demütigung oder Schmerz.
Sondern vor Freude.
Ihr Blick huschte wieder nach draußen, bevor sie ihn ansah.
So sanft, während in ihren Augen Galaxien entstanden und vergingen. „Siehst du es nicht?"
Seine Hände lagen um ihre Taille.
Er war so geschockt, dass er immer noch nichts sagen, nicht atmen konnte.
Cress lachte und weinte, als sie flüsterte:
„Keine Bezirke. Keine Farben. Keine Grenzen."