Sternschuld, dieser Tag war ein Albtraum.
May war gefesselt, blind und im Nachthemd durch die Straßen der letzten Stadt gezerrt worden und erst als ihre Füße nachgaben und sie im Staub der Straße landete, zog man ihr den Sack vom Kopf.
Es war der Anführer. Braunes Haar, kühle Augen, gutaussehendes Gesicht.
„Was ist los mit dir?", fragte er schroff, während sie zusammengesunken vor ihm kniete, die Hände gefesselt.
May hob langsam eine Augenbraue.
„Ich wurde erschossen", sagte sie mit schleppendem Sarkasmus.
Inzwischen war ihr alles egal. Sollte der Kerl sie doch zusammenschlagen. Sollte er sie doch gefangen nehmen. Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden. Irritiert musterte der Anführer ihren Kopf, ihren Oberkörper, schüttelte dann den Kopf.
„Hier trägt dich niemand."
Er reichte ihr eine Wasserflasche. „Also steh auf, oder wir schleifen dich weiter."
Sie trank, schickte tödliche Blicke zu ihm hinauf, setzte die Flasche ab und hustete. Sie war am Ende. Jeder Muskel in ihrem Körper zitterte vor Erschöpfung.
„Sie wurde wirklich erschossen", merkte einer der Soldaten von hinter ihr an.
Sie hatte keine Ahnung, wie die beiden Grünen hießen, die Julian bei ihr gelassen hatte. Besonders intelligent waren sie nicht und besonders hilfreich waren sie auch nicht gewesen, als der unfreundliche Kerl und die anderen Schläger sie gefangen genommen hatten. May trank noch einen Schluck. Hatte es denn keine anderen Leute für diese Aktion gegeben?
Der Anführer warf ihr einen fragenden Blick zu. Selbst seine fragenden Blicke waren unfreundlich. Wie schaffte er das nur? Sie sah es in seinem Kopf arbeiten, dann kam er ohne lange vorzuwarnen auf sie zu, ging in die Hocke und zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf.
May hätte ihn anschreien können, hielt aber still und warf ihm einen ebenfalls spöttischen Blick zu, als er sein Zurückzucken vor ihrer blutüberströmten Brust als hastiges Aufstehen tarnte. Wohl doch kein so harter Kerl. Er warf ihr einen verstörten, stirnrunzelnden Blick zu, den sie kühl erwiderte. Sie konnte auch auf Menschen hinunterschauen, wenn sie vor ihnen kniete.
„Jeff", bellte der Anführer.
Sekunden später hatte einer der breiteren Kerle May über seine Schulter geworfen. Ihr kurzes Kleid war noch weiter nach oben gerutscht. Gelächter. Sie biss sich auf die Lippe. Es war erniedrigend.
„Dice, Siva wird bald an den Toren sein", meldete ein anderer, der außerhalb von Mays jetzt ziemlich begrenztem Blickfeld stand.
Der Anführer trat vor sie, und sie warf ihm einen letzten wütenden Blick zu, bevor er ihr den Sack über den Kopf zog.
Dice also. May buchstabierte seinen Namen, verdrehte die Buchstaben und dachte sich einen Verschlüsselungscode aus, der darauf beruhte, während die Farblosen sie immer tiefer in den gesetzlosen Bezirk hineinbrachten. Einfach, weil es so viel besser war, als sich Sorgen um ihre Familie zu machen.
Sich die Dinge vorzustellen, die ihnen geschehen könnten. Es war egoistisch gewesen, Julian zu retten. Sie hatte nicht eine Sekunde an ihre Mutter gedacht. May hatte alles aufgegeben, weil sie nicht mehr stillhalten konnte. Sie hätte sich ohrfeigen können. Ohne, dass sie es bemerkt hatte, war Julians Traum zu ihrem eigenen geworden.
Hatte er das so geplant? Mit Sicherheit. Und er hatte sie so nachhaltig manipuliert, dass sie selbst jetzt noch davon überzeugt war, das Richtige getan zu haben.
Stundenlang drückte die Schulter des Mannes, der sie trug, in ihren Magen. Aber zumindest musste sie nicht mehr laufen.
Das bisschen Herz in ihrer Brust, das der Wahrheitsstein zusammenhielt, schmerzte mit jeder Minute mehr. Der hasserfüllte Code, den sie aus der Abfolge der Buchstaben in Sams Namen entwickelt hatte, verblasste immer mehr.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl, alleine in der stickigen Dunkelheit. Dafür nagten immer mehr Zweifel und Schuld an ihr. Sie starrte den groben Stoff an. Bei den Sternen, was hatte sie nur getan?
May bemerkte, als sie ein Gebäude betraten, der Boden ebener wurde und das Knirschen des Schutts aufhörte.
Türen knallten auf und zu. Es wurde dunkler, als sie immer weiter nach unten stiegen. Hin und wieder zogen gelbe Lichtstreifen vorbei. Weiter nach unten. Die Luft wurde feuchter, leicht modrig.
Eine Weile geradeaus, dann wieder Treppen. May verlor die Orientierung. Wahrscheinlich liefen ihre Entführer ein paar Umwege, oder am besten ein paar Mal im Kreis, um sie endgültig hilflos zu machen. Wo brachte man sie nur hin?
Hier draußen gab es doch nichts. Hatten sich die Farblosen etwa unterirdisch zusammengerottet?
„Siva."
May merkte auf, als Dice jemanden ansprach. Die Frau, die antwortete, klang nicht gerade gut gelaunt.
„Wieso hat das so lange gedauert?" Dann wieder Stille.
Stein kratzte über Stein. Waren das Türen? Wasser plätscherte und Tropfen spritzten bis zu Mays Knien hinauf, als sie einen Wasserlauf passierten.
„Wann wollen sie sie sehen?", fragte die Frau leise und scharf.
„Wir haben eine Halbtote, einen Aggressiven und eine eigentlich Tote. Ich denke sie werden warten, bis die Gefangenen aufrecht sitzen können", knurrte der unfreundliche Dice zurück.
Minuten später wurde sie so abrupt abgesetzt, dass sie sich auf die Zunge biss, als ihre Zähne zusammenschlugen. May packte ein paar der kreativeren Flüche der Knochenschwestern aus, bevor man ihr den Sack vom Kopf riss. Sie befand sich in einem Garten. Oder viel mehr, in einem Gewächshaus.
Verwirrt rappelte sie sich auf und fuhr herum, während der Mann, der sie getragen hatte, durch eine Glastür nach draußen verschwand. Dieser Mistkerl, Dice, deutete auf den Weg, der sich vor ihr erstreckte. Es war keine Bitte, es war ein Befehl. May fragte sich, ob das ‚einer macht Probleme, die anderen sterben'- Angebot noch galt, denn sie war gerade wirklich in Versuchung, einfach stehenzubleiben und böse zu schauen. Noch während sie das dachte ging ihr auf wie kindisch das wäre.
May wandte sich um und musterte ihre Umgebung. Weiße Blüten blitzten aus der Dunkelheit zwischen den moosbewachsenen, knorrigen Bäumen hervor. Efeu und Laub, weiße Flechten auf rauer Rinde. Noch nie hatte sie so einen unperfekten Wald gesehen. Und noch nie einen schöneren.
Von der Glasdecke weit über ihr hingen Ketten herunter, an denen man altmodische Glühbirnen befestigt hatte, die gut so groß wie Mays Kopf waren. Der warme Schein der Glühdrähte tanzte über feuchte Blätter an uralten Ästen.
Wo war sie nur?
So einen Ort hatte May noch nie gesehen. Ihr hätte ganz einfach die Fantasie gefehlt, um sich so etwas je auch nur vorzustellen. Und jetzt stand sie hier, mitten in einem Märchen. Das war doch alles sicher nur einer ihrer Träume, sicher würde sie gleich aufwachen und die Silhouetten der schlafwandelnden Ordensdamen würden wie jede Nacht an ihrer Tür vorbeiziehen.
Ascob würde mit ihr ausreiten und ihre Mutter würde sie umarmen. Aber nein. Als sie an einer der Lampen vorbei ging, spiegelte sich ihr blasses Gesicht verzerrt in gebogenem Glas.
Sie hatte Julian Alessandrini das Leben gerettet, sie hatte allen offenbart, was sie war. Sie war eine Beleidigung für die ältesten Gesetze der letzten Stadt.
Sie war eine Verräterin.
Sie war eine Mörderin. Und trotzdem war sie noch May Silencia. Das war noch verrückter, als der Ort, an dem sie sich gerade befand. Also wankte sie mit diesem Knäul aus Schmerz in ihrer Brust, dem blutverschmierten Nachthemd und der viel zu großen Jacke, mit immer noch gefesselten Händen durch einen uralten Wald in einem Glashaus, bis sich der Weg zu einer Spirale wand.
May nahm wage die Schönheit dieses Orts wahr, wie sich der Weg in breiten Stufen eine Klippe hinunter schlängelte, flankiert von den riesigen, alten Glühbirnen. Lichter funkelten in der Dunkelheit dahinter. Aber man hatte sie nicht wegen der wunderbaren Aussicht auf die letzte Stadt hierhergebracht.
Zwei Menschen standen in der Mitte der Steinspirale, er groß und hager, sie etwas molliger, aber deswegen nur umso schöner. Beide trugen seltsam schimmerndes, dicht gewebtes Weiß. May kam die Frau irgendwie bekannt vor, aber sie wusste nicht, wieso. Beide waren farblos. Seine Haare waren rabenschwarz, während die seiner – mutmaßlichen – Frau golden schimmerten.
Unter den angrenzenden Bäumen warteten vier junge Männer, alle waren groß und wiesen eine seltsame Ähnlichkeit zu Dice dem Mistkerl auf. Eine Familie also. Bei den Sternen, hoffentlich fiel der Apfel in diesem Fall weit vom Stamm.
May war fertig mit der Welt. Sie war unglaublich schlecht gelaunt, ihr kaputtes Herz schmerzte bei jedem Atemzug und lange würde sie es nicht mehr schaffen aufrecht zu stehen und in ihrem Aufzug zumindest noch ein bisschen Würde zu bewahren. Sie sah die beiden Menschen vor sich einfach nur an, mit fragendem Blick und gehobenen Augenbrauen.
Das sollte so viel wie:
Was soll das? Wo bin ich? Was wollt ihr? Wer seid ihr? Warum befinde ich mich in einem Gewächshaus? Warum genau bin ich gefesselt? Oh, und wieso glaubt mir keiner, dass ich verdammt nochmal erschossen wurde?! heißen, aber niemand reagierte.
Die mutmaßlichen Söhne fingen an zu tuscheln wie kleine Mädchen.
„May Silencia", stellte der große Mann fest.
Diese Menschen wirkten wild, ursprünglich. Wie aus der Zeit vor dem Krieg gepflückt.
Er hatte sturmgraue Augen, die May schaudern ließen.
Natürliche Augenfarben kamen ihr unnatürlich vor.
Was für eine Ironie.
„Es ist mir eine Ehre euch zu treffen."
Ihre Augenbrauen wanderten noch ein Stück höher.
Farblose mit Manieren?
Natürlich war es ihm nicht wirklich eine Ehre.
Er verachtete sie, sie verachtete ihn. So hatte es die letzte Stadt ihnen eingetrichtert.
In ihrem Kopf drehte May eine Lostrommel voller Fragen, griff hinein und stellte ihre erste, ohne sich um eine Begrüßung zu scheren.
„Wer seid ihr?"
Sie war ganz ruhig, sprach langsam und schon fast überartikuliert.
Ein Stechen jagte durch ihre Brust und sie zuckte zusammen.
„Nenn mich den Conte."
Die goldene Frau warf ihrem Mann einen langen Blick zu und verschränkte ihre Finger mit den seinen, bevor sie sich mit einem scheuen Lächeln May zuwandte. „Nenn ihn Hades. Mein Name ist Persephone."
Zwischen Mays Augenbrauen entstand eine zweifelnde Falte.
Hades und Persephone?
Das waren nicht nur seltsame Namen, sondern vor allem die Namen zweier uralter Götter.
Schon vor den großen Kriegen, die die Welt vernichtet hatten, war die Zivilisation, die die beiden verehrt hatte, über ein Jahrtausend vergangen gewesen.
Wieso benannten sich die beiden nach toten Göttern?
„Das hilft mir nicht wirklich weiter", stellte May, immer noch äußerlich ruhig, aber mit verkniffenem Mund fest.
Sie hatte keine Lust mehr.
Sie wollte essen, sich waschen und dann schlafen.
Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Einer der jungen Männer löste sich aus den Schatten.
Er war blond.
Kantiges Gesicht, blaue Augen, sanfte Stimme.
„Sie ist verletzt."
May sah an sich hinunter.
Ihre blutüberströmte Brust schien hier niemanden außer den Blonden zu stören.
„Gleich. Aber ich denke unser Gast würde gerne zuerst wissen, wo sie gelandet ist."
Der Blick des Blonden verhakte sich mit dem seines Vaters.
„Sie leidet."
Zwei Sekunden hielt der junge Mann dem stechenden Blick des Älteren stand, bevor er leicht den Kopf neigte und zu seinen Brüdern zurückkehrte. May biss die Zähne zusammen.
Der Schmerz in ihrer Brust pulsierte, als ob man ihr gerade erst die Kugel durchs Herz gejagt hätte.
Wo war Julian?
In Sachen sich aus brenzligen Situationen herausreden war er ja schließlich unübertroffen.
„Ich weiß nicht, was hier gerade passiert. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, warum ihr mich entführt habt. Aber ich werde sterben und davor hätte ich gerne Antworten."
May versuchte alles, aber ihre Worte zitterten wie Spinnenweben im Herbstwind. Hades ließ seinen seltsamen Blick auf ihr ruhen.
Übelkeit stieg in ihr hoch und sie wiederstand dem Drang sich an das Loch in ihrer Brust zu fassen.
Die Welt drehte sich langsam um sie.
„May Silencia, wir haben dich vor den Handlangern der Hohen gerettet. Das ist im Moment alles, was zählt.
Du befindest dich nicht mehr in deiner Stadt. Hier bist du sicher, bis du dich erholt hast."
Da war etwas, das er nicht aussprach. Wäre sie nicht mehr sicher hier, wenn sie gesund geworden war?
Die Welt drehte sich schneller und sie krallte die Finger mit dem abgesplitterten Nagellack in die Lehnen des Stuhls.
Er beantwortete keine ihrer Fragen.
„Wo. Bin. Ich?", fauchte sie und schloss die Augen.
Das Gold der Lampen hatte sich in ihre Augen eingebrannt.
„Vater", sagte der Blonde mahnend.
Hades.
Persephone.
Die Herren der Unterwelt.
May schlug die Augen auf, erhob sich von ihrem Stuhl und stolperte an den beiden Menschen mit Götternamen vorbei, bis vor zu den Stufen, die die Anhöhe hinunterführten.
Der blonde Sohn löste sich aus den Schatten.
Sie riss die Augen auf, sank auf die Knie und presste sich eine Hand auf den Mund.
Entsetzen ballte sich in ihr zusammen, als sie hinausstarrte.
Entsetzen, wie sie es noch nie gefühlt hatte.
Nicht als Julian Alessandrini sie in den Wäldern erwischt hatte, nicht als die Diebin gesprungen war, nicht als sie das Genick von Ophelia de Scintilla brechen gehört hatte und nicht, als sie den starren Augen ihrer Mutter begegnet war.
Ihr Herz stolperte und sie zuckte erneut zusammen vor Schmerz.
Ihr Atem kam nur noch stoßweise.
Mays Welt, alles, woran sie geglaubt hatte, zerbarst vor ihren Augen wie eine Glasscheibe, durch die eine Kugel jagte.