POSTKARTENSOMMER

By livschreibt

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❝Den Ort, an den ich will, gibt es nicht.❞ ❝Dann musst du wohl die Reise so schön wie möglich machen.❞ Phoeni... More

WIDMUNG
VORWORT
POSTKARTE 1: Klingt nach einem Roadtrip
POSTKARTE 2: Baby-Karotten, Sprühkäse und Freiheit
POSTKARTE 3: Hervorragende Schuhwahl
POSTKARTE 4: Toast zum Frühstück
POSTKARTE 5: Kirschkernspucken
POSTKARTE 6: Mit dem Herzen hören
POSTKARTE 7: Nette Worte
POSTKARTE 8: Gewitterwolkenworte
POSTKARTE 9: Selbstzweifel sind die besten Kunstfälscher
POSTKARTE 10: Bilderbuchmoment und Gutenachtgeschichte
POSTKARTE 11: Korallenriff
POSTKARTE 12: Rote Gummibärchen
POSTKARTE 13: Sommermüdigkeit
POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke
POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten
POSTKARTE 16: Zeitstillstand
POSTKARTE 17: Manchmal ist das Leben eine Postkarte
POSTKARTE 18: Geschichten schreiben
POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht
POSTKARTE 20: Gartenzaun und Luftballons
POSTKARTE 21: Wie Zuhause
POSTKARTE 22: Kanten abschleifen
POSTKARTE 24: Schlangenlinien
POSTKARTE 25: Radioknistern
POSTKARTE 26: Magnete
POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten
POSTKARTE 28: Hochseile

POSTKARTE 23: Angeknabberte Fingernägel

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By livschreibt

Wir verabschieden uns von Mary, sie lässt uns nicht gehen, ehe Yule ihr versprochen hat, dass er sie ganz bald wieder besuchen kommt, dass er sie nicht mehr so lange warten lassen wird, nicht mehr so lange wie dieses Mal.

»Und bring Phoenix wieder mit, damit ich was zu lachen hab in deiner Gegenwart, du Griesgram.«

Und dann umarmt sie uns, sie streicht mir über den Rücken, ganz leicht, wie bei der Begrüssung, ich fühle mich geborgen, aber vor allem fühle ich mich jetzt bereit zu gehen.

Weil ich weiss, dass ich wiederkommen kann.

Als ich in den Wagen steige, blicke ich noch einmal über die Schulter zurück.

Das Haus hat einen Gartenzaun, eine Veranda und Liegestühle im Schatten unter den Bäumen und obwohl ich mir geschworen habe, nie und niemals hinter dem Gartenzaun den Horizont zu vergessen, fühlt es sich hier, bei diesem Haus mit Gartenzaun und Liegestühlen, ganz genau richtig an, ganz kurz, nur für einen Augenblick, der sich so winzig anfühlt, als würde er gar nicht existieren, einfach mal den Horizont und alles zu vergessen.

Denn im Moment spielt das, was am Horizont ist, keine Rolle. Grade muss ich meinen Horizont nicht in die Ferne erweitern, denn die Erweiterung des Horizonts sitzt in der Nähe, ganz nah, so nah, dass der wirkliche Horizont irgendwie an Bedeutung verliert.

Und irgendwie ist dieser Gartenzaun hier dann doch ganz anders als der Gartenzaun meiner Mutter, denn er schliesst den Horizont nicht aus, nicht für immer, weil ich nicht für immer hierbleibe.

🌲

Wir fahren an Weinbergen vorbei, das Thermometer zeigt konstant hohe Temperaturen an, die Gräser am Strassenrand sind ausgetrocknet, die Landschaft ist braun, die Felder golden, irgendwann kommt in der Ferne der Columbia River in Sicht und wir folgen seinem Lauf.

Yule sagt die ganze Fahrt über kein Wort, kein einziges, er hängt seinen Gedanken nach, mal wieder, wie eigentlich fast immer.

Erst, als wir kurz anhalten, um eine Pause zu machen, etwas zu essen und uns den Fluss ein wenig genauer anzusehen, sagt er »Danke« und dann schiebt er noch ein »Phoenix« nach, meine Haut kribbelt ein bisschen, vielleicht, weil er so leise spricht.

Er sagt nicht, wofür er sich bedankt, muss er auch nicht, ich weiss es sowieso.

Ich lächle zu ihm auf, mache einen Schritt näher zu ihm und stosse ihn leicht mit der Schulter an. »Immer.«

Wir stehen nebeneinander, unsere Hände streifen sich leicht, wenn wir uns bewegen, weil ich nicht wieder einen Schritt zur Seite gemacht habe, Yule macht ebenso wenig Anstalten, das zu tun, also bleiben wir einfach eine Weile so stehen und sehen hinunter ins Tal, wo der Fluss in der Sonne glitzert.

Und irgendwann spricht Yule doch, vielleicht hat er grade irgendwo dort unten einen Stift gefunden.

»Weisst du, es ging gar nicht wirklich um das Schreiben«, sagt er.

Ich weiss sofort, dass er von unserem Gespräch heute Morgen redet. Ebbe und Flut und das Gefühl, nicht alles zu geben.

»Also - nicht nur. Irgendwie ... Ich musste an meine Granny denken, du hast sie auf dem Foto gesehen, und daran, dass ich Angst habe, nicht genug zu tun, damit sie stolz auf mich sein kann.« Er zuckt mit den Schultern.

Ich weiss, Yule hat heute einen schlechten Tag.

Ich weiss, das geht vorbei.

Trotzdem tut es mir weh, ihn so zu sehen.

Ich drehe mich zu ihm und lege meine Arme um ihn, Yule versteift sich, ganz genau so, wie er das schon getan hat, als er mich damals mit seinem Auto bei mir Zuhause abgeholt hat und ich ihn stürmisch in die Arme geschlossen habe.

Er ist Umarmungen nicht gewohnt, dabei hat er genau die richtige Grösse für Umarmungen - jedenfalls für mich.

Er versteift sich ein wenig, ich drücke ihn ein bisschen mehr an mich, er entspannt sich irgendwann und ich spüre, wie er seine Arme ebenfalls um mich legt.

Er murmelt wieder »Danke«, es kitzelt in meinen Haaren, er könnte es noch tausendmal sagen, wenn es nach mir ginge. Das Gefühl, das es auslöst, ist schön, aber eigentlich braucht er das gar nicht. Danke zu sagen. Weil ich das für ihn immer wieder tun würde. Ohne nachzudenken.

🌲

Etwas, worüber ich allerdings nachdenke, als wir wieder im Auto sitzen, um weiterzufahren, ist - Yule.

Ich werfe ihm verstohlene Blicke von der Seite zu und fühle mich ertappt, wenn er mich dabei erwischt, als würde er merken, dass meine Gedanken ständig nur um ihn kreisen.

Denn ich habe das mittlerweile gemerkt.

Meine Gedanken kreisen ständig nur um Yule, als würde er sie anziehen wie die Erde den Mond. Was soll ich schon dagegen tun?

Und wenn ich gerade nicht über Yule nachdenke, zur Abwechslung mal aus dem Fenster starre, statt Yules fast nicht sichtbare Sommersprossen zu zählen, dann denke ich darüber nach, dass ich auffällig oft an Yule denke - und dann denke ich doch wieder an Yule.

Es ist, als hätte jemand das ganze Alphabet aus meinem Kopf gelöscht, ich kann nur noch ein einziges Wort buchstabieren, kenne nur noch vier Buchstaben.

Yule.

Was bisher nur eine leise Ahnung tief in meinem Innern, irgendwo in meinem Herzen, gewesen ist, ist jetzt ganz laut geworden - ich kann es nicht mehr ignorieren. Es wäre wie weglaufen.

Ich denke nicht bloss ständig an Yule, weil ich ihn jeden Tag und immer sehe. Ich denke nicht bloss an ihn, weil er meine Reisebegleitung ist.

Ich denke an Yule, weil -

Hätte ich ein Tagebuch, ich hätte Seitenweise Herzchen hineingemalt. Ich glaube, das beschreibt es ziemlich gut.

Ich hoffe, Yule ist nicht ganz so gut darin, mein Gesicht und meine Emotionen zu entschlüsseln wie ich heute Morgen bei ihm, als ich sofort wusste, dass etwas nicht gut ist.

Ich schliesse die Augen. Und für eine Weile lasse ich sie - und es - zu.

🌲

Das kleine Haus in Husum, vor dem Yule sein Auto abstellt, hat Spitzenvorhänge und eine Terrasse mit Lichterketten, an der Tür hängt ein Holzschild, auf das jemand Welcome geschrieben hat, die Pinselstriche sind ein wenig verblasst, ein wenig ungenau, genau passend für den Charme, den dieses kleine Bed & Breakfast, das einzige in der Gegend, versprüht.

Die Besitzerin, Conni, begrüsst uns herzlich und zeigt und als allererstes den Raum mit der Kaffeemaschine - Yules Augen leuchten ein bisschen - und den selbstgebackenen Leckereien. Erst dann zeigt sie uns unser Zimmer.

Prioritäten.

Es riecht nach Lavendel und ganz viel Liebe in dem violett eingerichteten Raum, für den Conni uns den Schlüssel reicht.

Kleine Eiffeltürme zieren Kissen, Bettdecke und die Wände.

»Das ist das Paris-Zimmer. Ich habe jedes Zimmer passend zu einer Europäischen Stadt eingerichtet, die ich schon besucht habe«, erklärt Conni mit einem Lächeln und stellt Yules Rucksack neben dem Bett ab.

»Paris passt zu euch.« Sie zwinkert, dann verschwindet sie durch die Tür. »Habt einen schönen Aufenthalt, ihr Süssen.«

Ich lasse mich auf das Bett fallen. »Wenn Conni morgen beim Frühstück da ist, dann muss ich sie unbedingt nach ihren Reisen fragen.«

»Es gefällt dir hier, oder?«, fragt Yule.

»Hast du die Lichterketten unten gesehen?«, sage ich nur, ich bin mir sicher, meine Augen strahlen in diesem Moment.

Mit dem Finger fahre ich über die gestickten Eiffeltürme. »Das ganze Bed & Breakfast ist eine einzige Erinnerung. Wenn ich einmal ein Haus habe, dann werde ich es genauso machen und überall Dinge von meinen Reisen aufstellen.«

Ich krame meine Kamera aus meiner Tasche und sehe mir die Fotos an, die wir auf dieser Reise schon geschossen haben, ich kann gar nicht fassen, wie viel wir schon gesehen und wie viel wir schon gelernt haben in dieser kurzen Zeit.

Beim Foto, das die Frau, die wir in Bend angesprochen haben, von uns beiden an diesem Abend am Fluss geschossen hat, halte ich inne.

Yule und ich und Pizza und Sonnenuntergang. Und eine Frau, die uns sagt, was für ein schönes Paar wir wären.

Und dann regt sich da dieser Wunsch in mir. Wieder und wieder.

Lauter als zuvor.

Ich drücke die Kamera an meine Brust und lasse mich nach hinten auf die Bettdecke fallen, die voller Eiffeltürme und Connis Erinnerungen ist, und denke, dass ich mein Haus mit Erinnerungen füllen will, aber dass man Erinnerungen am besten aufbewahren kann, wenn man sie mit jemandem teilt.

🌲

Wir haben uns beim Bed & Breakfast Fahrräder ausgeliehen, die wir jetzt gerade über die kiesbedeckte Einfahrt zur Strasse schieben, und es ist wohl der erste Tag auf diesem Roadtrip, an dem ich kein Kleid trage.

»Mir ist viel zu heiss, um Fahrrad zu fahren«, sagt Yule mit seiner typisch griesgrämigen Miene - einfach, weil er Yule ist.

Obwohl es Abend ist, ist es noch immer warm, die Luft steht, aber es ist längst nicht so schlimm, wie er tut.

»Also ich bin sowieso immer heiss«, erwidere ich schulterzuckend und grinse Yule über meine Schulter frech an.

»Phoenix, der war so schlecht. So schlecht.«

»Deine Mundwinkel haben gezuckt, Yule. Gezuckt. So schlecht kann er gar nicht gewesen sein, wenn er sogar deine steinerne Miene erhellt hat.«

Die Sonne steht so tief am Himmel, dass alles ein bisschen weicher wirkt und die Konturen ein bisschen mehr verschwimmen, genauso wie die Tage hier.

Das Licht ist orange und golden und mein Haar ist kupferfarben und mir kommt in den Sinn, was Yule vor ein paar Tagen über meine Haare gesagt hat und dass er das gemurmelt hat, während er am Schreiben war, und ich glaube, dass das mein ohnehin Herz schon fahrradfahrendes Herz sogar noch ein bisschen schneller fahren lässt.

Wir erkunden die Strassen, Yule ein Stück vor mir, es ist kein Mensch und kein Auto hier zu sehen und wir fahren Schlangenlinien, wie es uns grade passt.

Wir sollten im Leben viel öfter mal Schlangenlinien fahren.

Yule biegt ab und ich folge ihm und wir haben keine Ahnung wo wir landen, aber gerade das macht es irgendwie aufregend, und irgendwann fahren wir dem Sonnenuntergang entgegen, immer der Sonne entgegen, und es fühlt sich an, als könnte sie niemals untergehen. Als würde sie immer scheinen und vielleicht tut sie das auch und vielleicht ist mein Haar für Yule dann immer wie Kupfer in der Sonne.

Ich weiss, dass ich mir das wünsche.

Ich weiss, es wäre an der Zeit, mutig zu sein.

Yule denkt, ich wäre immer mutig. Und ich habe behauptet, dass ich es wäre. Dass es keinen Sinn hat, Angst vor dem Fall zu haben, wenn man sowieso auf dem Hochseil ist.

Ich kaue nur an meinen Fingernägeln, wenn ich nervös bin.

Und meine Fingernägel sind angeknabbert.

🌲

Danke fürs Lesen! ♥️

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