Und dann sahen wir uns wieder

Par evespaperfantasy

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Was tust du, wenn du den einen fürs Leben gefunden hast und plötzlich in der Zeit feststeckst? Nicht über den... Plus

Das erste Treffen
Liebe ist ein Sprengsatz
Zu spät
Umgedrehtes Paradies
Entgleist
Störfall
Als Strafe

Ein kleines Riesenproblem

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Par evespaperfantasy

Während ich energiegeladen und voller Tatendrang wie von einer Tarantel gestochen von meinem serienmäßig bestimmt über hundertmal vertretenen Sitz mit hässlichem grau-blauem Muster aufspringe, manifestiert sich eine Tatsache in meinem Kopf, von der ich überzeugt bin, dass sie der Schlüssel zu all dem Chaos hier ist. Das Problem ist nur, dass ich sie nicht ganz zu fassen bekomme. Dieses bekloppte Gefühl die Antwort auf der Zunge liegen zu haben, man sie aber nun mal nicht ansehen kann, egal ob man in den Spiegel schaut oder sich wer weiß wie anstrengt dieses verdammte Fitzelchen der Tischdecke endlich in die Finger zu bekommen und die Lösung samt der Tischdeko zu Boden zu reißen.

Hatte dieses Gefühl nicht jeder schon einmal? Das man etwas Wichtiges oder Tolles geträumt hat, am Frühstückstisch den Eltern oder im Bus der besten Freundin oder dem besten Freund davon erzählen will und plötzlich nicht mehr drauf kommt, was es gewesen ist? Oder man den Namen oder die Bezeichnung für irgendetwas suchte um jemand anderem etwas zu erklären und nur mit Dingsbums, Ähh's und Ähm's oder 'mir fällt der Name gerade nicht ein, aber heute Abend im Bett weiß ich ihn wieder' seine Aufwartung machen konnte und wie ein verblödeter Depp dastand und sich auch so vorkam?

Genauso, nur gefühlte zehn Erdbebenstärken schlimmer fühlt es sich bei mir an, so als ob die Antwort überlebenswichtig für unsere gesamte Galaxie wäre. Jedes Mal wenn ich versuchte der Antwort auf die Schliche zu kommen flutschte sie mir durch die Finger wie ein eingeölter Flummi auf Hüpfdroge, der unablässig und unerreichbar um mich herumsprang und mich gackernd wie ein Huhn auslachte.

Also versuche ich jetzt die Methode, die bei mir meistens zu einem Ergebnis führt, wenn ich diese Art von Alzheimer bei mir feststellte und aber dringend eine Lösung für mein Problem oder meine Hausaufgaben brauchte: Ich machte einfach etwas anderes und lenkte meine verfahrenen Gedanken ab, trickste sie aus und tadaa, lieferten sie mir von ganz allein wie ein apportierender Hund das gesuchte Etwas wie ein vergoldetes Stöckchen mit roter Samtschleife drum.

Diesmal brauche ich nicht eine halbe Ewigkeit auf den Bahnhof zu warten, an dem für mich Endstation ist. Zielgerichtet quetsche ich mich an den Rollkoffern und ihren Besitzern durch den schmalen Gang vorbei und hüpfe elegant mit dem mehr oder weniger hässlichen Rucksack auf den Bahnsteig und schaffe es gerade noch so, ein Kind vor einem harten Aufprall auf den Steinfliesen neben mir zu bewahren, weil es über den pinken Koffer einer Frau gestolpert und die Stufen des Zuges hinter mir heruntergefallen war.

„Alles in Ordnung bei dir Kleiner?" frage ich den Jungen, bei dem ich jede Sekunde erwarte, dass er anfängt wie eine Sirene loszuheulen. Doch er schweigt und ich setze ihn vorsichtig vor mir ab. Er schaut mich aus tiefgründigen braunen Äugelein an und saugt mich quasi mit seinem Blick auf, wie den Saft aus seiner Schnabeltasse. Ich knie mich vor ihn hin und streiche ihm ganz sachte über die Stirn, wo sich bereits ein blauer Fleck auf einer nicht gerade kleinen Beule andeutet und er zuckt nicht einmal mehr zurück - starrt mich einfach nur an wie ein kleinwüchsiger Stalker. Wie alt mochte der Kleine sein? Fünf?

„Hey. Alles klar?" frage ich nochmal und rücke auf dem rechten Knie kniend sein hellblaugestreiftes T-Shirt zurecht, das schief, schepp und etwas verdreckt über und unter seiner Jeanslatzhose hängt. Er nickt und schüttelt dann nach einer kleinen Denkpause den Kopf, senkt den Blick und drückt sich plötzlich an mich als wäre ich ein Riesenteddy. „Alles ist gut" hauche ich ihm über den braunen Haarschopf, nachdem ich meine Überraschung überwunden habe und streiche ihm ganz behutsam über den kleinen Rücken, als er anfängt zu zittern.

Das kleine Kind nimmt seinen Kopf von meiner Schulter und sieht mich wieder aus großen kugelrunden Augen an, so als wäre ich ein Außerirdischer. „Wo ist deine Mama denn?" frage ich vorsichtig und blicke mich suchend um. Auf dem Bahnsteig ist keine Frau zu sehen, die nach ihrem Kind sucht und in dem Abteil aus dessen Tür der Junge gerade gefallen ist auch nicht. Zu allem Unglück fährt der Zug genau in diesem Augenblick los. Meine Panik wird auch seine Panik. Tränen rollen still und stumm über seine Wangen und ich frage ihn erneut und dann noch einmal. „Ist deine Mutter in dem Zug?"

Er schüttelt den Kopf und presst sich wieder an mich. Was ist nur mit dem kleinen los? Wieso ist er plötzlich so verängstigt? Und was noch viel wichtiger ist, was sollte ich jetzt machen? Wie in Zeitlupe sehe ich plötzlich die Menschen an uns vorübergehen ohne ihre Gesichter oder das was sie anhaben wirklich wahrzunehmen.

Ein Wort wiederholt sich in meinem Kopf wieder und wieder: Möbiusschleife. Kein Ende, kein Anfang. Da war doch was! Wieder dieses Gefühl etwas Wichtiges vergessen zu haben und den Drang es finden aber nicht einfangen zu können. Kurzerhand nehme ich den Jungen auf den Arm und schultere meinen Rucksack. „Wie heißt du?" frage ich ihn schnell, in dem Wissen, dass jeden Moment etwas passieren würde. Diese Ahnung hatte sich schon Minuten vorher, als der Junge in meinen Armen gelandet war, in meine Glieder geschlichen und mich dazu drängen wollen wegzulaufen. Aber wovor?

Wie automatisiert setze ich mich in Bewegung und erst nach ein paar Metern wird mir klar, dass der Kleine keine Anstalten macht mir zu antworten. Ein Berg von einem Mann, dessen Gesicht ich aufgrund einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze nicht sehen kann stellt sich uns in den Weg. Er reißt mir den Jungen aus den Armen und dieser fängt an wie am Spieß zu schreien. Dieses herzzerreißende Geräusch weckt etwas in mir. Nicht nur den Mutterinstinkt das Kind zu retten und dafür notfalls ein Auto anzuheben, sondern auch das Gefühl, dass das alles hier nicht real ist.

Damit meine ich, dass es sich plötzlich anfühlt, als wäre ich in einem Computerspiel oder einem Matrixabklatsch gelandet und müsste mich jetzt durch die einzelnen Level kämpfen. Kurz für die, die die Matrix-Trilogie nicht kennen: Die Menschheit ist von den Maschinen versklavt worden. Sie werden als Batterien oder so eine Art Energielieferant angezapft und ausgebeutet ohne es zu wissen. Sie befinden sich geistig aber nicht körperlich in der sogenannten Matrix, eine Simulation, die die Menschen als ihr Leben kennen und führen, ohne etwas von all dem zu wissen. Es gibt nur einen der laut einer Prophezeiung die Knechtschaft beenden und die Rebellion einiger weniger die die Matrix durchschaut haben zum Sieg zu führen: Neo.

Und genauso wie er, fühle ich mich gerade. Wie im Film spüre ich plötzlich etwas hinter den Kulissen, von dem ich nicht sagen kann, was es ist. Etwas läuft falsch, fühlt sich nicht richtig an und macht mich jetzt gerade ganz kirre im Kopf, so als würde ich einen schrillen Dauerton hören. Was ging hier nur vor? „Wenn sie nicht der Vater sind, dann setzen sie den kleinen Junge sofort wieder ab oder...!" Ausreden lässt er mich nicht, sondern fängt mit einer fast mechanisch klingenden Stimme an zu reden: „Rufst du dann die Polizei oder was?" Er lacht und dabei läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Definitiv nicht der Vater.

Der Junge zappelt und schlägt um sich und plötzlich entdecke ich ein großes Muttermal an seinem Bein, weildabei seine Hose ein Stück hochgerutscht ist. Nein, das kann nicht sein! Das gibt es doch nicht! Mein Mund klappt auf und meine Augen werden groß, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

Ohne nachzudenken stürze ich mich auf den Mann und reiße ihn zu Boden. Der Junge ist zwischen unser beider Körper eingeklemmt und wimmert kläglich. So schnell es geht rolle ich von den beiden herunter und nutze den unaufmerksamen Moment des Mannes den Jungen unter den Achseln zu greifen und zu rennen was das Zeug hält. Er durfte ihn nicht kriegen! Ich presse den Kleinen an meine Brust und versuche diese verrückte Situation zu begreifen: Das Kind ist David.

Woran ich das erkannte? Nun ja, da wäre erstens das Muttermal auf seinem Bein, dass es wohl kaum zweimal auf der Welt gab, dann seine Augen, die mir schon von Anfang an bekannt vorgekommen waren und mich zu kennen schienen, so wie er mich angesehen hatte... drittens diese Latzhose in Kombination mit dem gestreiften Hemd, dass er auf einem Foto am Kühlschrank in seinem Haus anhatte und viertens der Umstand, dass das Kind, mich, eine Wildfremde umarmt hatte, als wäre ich seine Mutter - oder eben seine Freundin.

Konnte es noch verquerer und hirnrissiger kommen? Wer dachte sich so eine kranke Kacke aus? Ich wohl hoffentlich nicht... Solche geisteskranken Einfälle traue ich mir nicht zu. Bei dem kreischenden Geräusch, das eine Frau in schicken High-Heels ausstößt als ich sie sehr rabiat und ungalant aus dem Weg stoße wie ein Profiwestler und das mit vollem Körpereinsatz muss ich augenblicklich an den Affen aus Fluch der Karibik denken.

Man finde ich das Vieh abartig! Und wie es mal wieder nur mir passieren kann in solchen Situationen, sitzt das kleine Monster auf einmal in Fleisch und Blut auf dem Dach des gegenüberliegenden Bahnsteiges und lacht mich mit seinem perversen Äffchenlachen aus. Am liebsten würde ich das Ding mit einer Handgranate von seinem hohen Ross holen, denke ich bei mir und siehe da: Plötzlich spüre ich etwas Kaltes in meiner Hand. Verwirrt verlangsame ich meinen Sprint und bleibe schließlich stehen. Anstatt die mörderische Waffe in meiner Hand nach dem Affen zu werfen, ziehe ich den Stift und rolle sie meinem Verfolger wie eine Bowlingkugel vor die Füße.

Zum Glück schießt er sie nicht zurück, kommt mir in den Sinn, als ich mich bei der Explosion umdrehe und den Jungen mit meinem Körper schütze. David darf nichts passieren! Nachdem die Detonation erfolgt ist, löse ich mich von dem Kleinen, der mich aus ernsten Augen ansieht und lege ihm die Hände auf die kleinen Schultern.

Bitte. Werd doch wieder groß! Damit du mich in den Arm nehmen kannst... Ich brauche das jetzt. Es sind so schlimme Dinge passiert und sie werden wieder passieren, wenn auch in anderer Ausführung, aber ich brauche jetzt in diesem Moment jemanden, der mich hält. So lange haben wir uns nicht gesehen... So lange konnte ich von dir nur träumen und das hat mich innerlich zerrüttet. Man kann nicht in einem fort durchweg stark sein. All das denke ich vor mich hin, während ich seinen Blick erwidere.

Es tut so weh, eine Person wirklich wirklich gern zu haben, ja von ganzem Herzen zu lieben und dann nicht bei ihr sein zu können. Und zu wissen dass es noch mehrere Wochen dauernd würde, bis du diesen wichtigen Menschen in deinem Leben wiedersiehst lässt dich erst recht verzweifeln. Und dann drücken dich natürlich noch solche Dinge wie Schule, Krankheits- und Todesfälle in der Bekanntschaft/ Verwandtschaft, schlechtes Wetter, eigene Verletzungen und generell schlechte Nachrichten zu Boden und halten dich dort fest.

Aber ich will dort nicht sein! Ich will aufstehen! "Lasst mich los!" brülle ich und mein Schrei hallt mir in den Ohren nach, obwohl ich keinerlei Laut von mir gegeben habe und nur David beim Wachsen zusehe. Was? Er wächst?! In diesem Moment findet ein Erinnerungsfetzen seinen Platz in meinem Kopf und ich sehe deutlich einen weißen kalten Raum vor mir und jede Menge furchterregend aussehende Geräte mit unzähligen Schläuchen und Kabeln... Ein Krankenhaus...

Doch dann ist die Erinnerung schon wieder vorbei und verschwimmt wie ein erblindender Spiegel, ohne dass ich mehr hätte erkennen können. Dafür sehe ich jetzt deutlich den immer größer und älter werdenden David vor mir und keuche verblüfft auf. Beinahe hätte ich vor Schreck meine Hände von seinen Schultern genommen, doch er hält sie mit hastig mir auferlegten Händen an ihrem Platz. "Nicht!" haucht er eindringlich und erreicht vom zwölfjährigen Jungen endlich sein derzeitiges Alter. Leichte Bartstoppeln und ein paar kleine Pickel zieren jetzt sein Gesicht und machen es zu dem, das ich so liebe.

Immer noch lässt sich der kleine Junge in ihm erkennen, aber trotzdem ist er jetzt wieder der, der er sein sollte. „Du hast es geschafft..." sagt er und mir treten Tränen der Erleichterung in die Augen. "Du bist wieder da... Du bist hier!" erwidere ich und brauche mir nicht die überquellenden Tränen weg zu wischen, weil er es für mich tut - behutsam und sachte. Gerade als er seine Arme um mich schließen will und ich die lang ersehnte Umarmung auskosten kann, werden wir brutal auseinandergerissen.

Die Gesichter derer, die uns festhalten und Meter für Meter voneinander entfernen, kann ich nicht sehen, aber ich hätte sie ihnen nur zu gerne mit meinen Fingernägeln zerkratzt. "Lasst mich los!" brüllt David und ich strampele und winde mich heftig im Griff meines Gegners. Das Äffchen lacht. Hätte ich es doch nur besser zum Schweigen gebracht! "Lass mich los du Mistkerl! Was haben wir euch getan?" schreit er wieder, kann jedoch den eisernen Griff des Mannes um seinen Brustkorb nicht lösen geschweige denn lockern.

Ich hätte nicht gedacht, dass man uns eine Antwort gibt, doch auf einmal knurrt der eine wie ein Bluthund: "Die Daten sind nicht eindeutig. Der Fehler muss beseitigt werden." Dabei klingt seine Stimme blechern, so als käme sie aus einem alten Lautsprecher und nicht aus dem Mund dieses Menschen. Ein immer wiederkehrendes grelles Licht blendet mich und ich meine ein Gesicht mit einer dicken Hornbrille ausmachen zu können. Dann sehe ich wieder klar.

David durchbohrt mich mit sehnsuchtsvollen Blicken. Man will uns einfach nicht zusammenkommen lassen... Will uns leiden lassen...

Das hier ist nicht real... Nicht real. Nicht real! Aber das was man mich nicht wissen lassen will und vergessen lässt schon. Jetzt muss ich nur noch herausfinden was das ist.

"David! Ich liebe dich!" brülle ich aus Leibeskräften, doch das Getöse des Blitzes, der mich irgendwie an eine Löschtaste auf der Computertastatur erinnert, übertönt mich und ich krümme mich weinend zusammen. Wieso nur? Wieso passierte das?

Das Versprechen seiner Umarmung geistert in meinen Adern umher wie ein Phantomschmerz. Beinahe... Fast wäre ich ihm nahe gewesen.

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