POSTKARTENSOMMER

By livschreibt

41.6K 5.2K 7.1K

❝Den Ort, an den ich will, gibt es nicht.❞ ❝Dann musst du wohl die Reise so schön wie möglich machen.❞ Phoeni... More

WIDMUNG
VORWORT
POSTKARTE 1: Klingt nach einem Roadtrip
POSTKARTE 2: Baby-Karotten, Sprühkäse und Freiheit
POSTKARTE 3: Hervorragende Schuhwahl
POSTKARTE 4: Toast zum Frühstück
POSTKARTE 5: Kirschkernspucken
POSTKARTE 6: Mit dem Herzen hören
POSTKARTE 7: Nette Worte
POSTKARTE 8: Gewitterwolkenworte
POSTKARTE 9: Selbstzweifel sind die besten Kunstfälscher
POSTKARTE 10: Bilderbuchmoment und Gutenachtgeschichte
POSTKARTE 11: Korallenriff
POSTKARTE 12: Rote Gummibärchen
POSTKARTE 13: Sommermüdigkeit
POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke
POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten
POSTKARTE 16: Zeitstillstand
POSTKARTE 17: Manchmal ist das Leben eine Postkarte
POSTKARTE 18: Geschichten schreiben
POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht
POSTKARTE 20: Gartenzaun und Luftballons
POSTKARTE 21: Wie Zuhause
POSTKARTE 23: Angeknabberte Fingernägel
POSTKARTE 24: Schlangenlinien
POSTKARTE 25: Radioknistern
POSTKARTE 26: Magnete
POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten
POSTKARTE 28: Hochseile

POSTKARTE 22: Kanten abschleifen

972 128 132
By livschreibt

Yule hat sich an seinen Kanten geschnitten, seinen eigenen, und obwohl ich ihn nicht bluten sehe, weiss ich, dass er's tut.

Ich weiss es instinktiv, als ich die Augen aufschlage und er schon wach neben mir im Bett sitzt. Als würde ich seinen Schmerz an mir selbst spüren können. Er versteht mich und ich verstehe ihn. Ich weiss nicht, wieso das so ist. Aber so ist es eben.

Er hat sich geschnitten und ich weiss es, ich frage mich nur, warum.

Er spricht kaum, während wir uns fürs Frühstück von Sally bereitmachen, und er sagt auch nicht viel, als sie ihn überschwänglich begrüsst, er beschwert sich nicht mal, als ich Sally angrinse, weil sie ihn wieder Cutiepie genannt hat, er verzieht nicht mal eine Miene.

Yules Augen sind matt und trüb und nicht einmal der Kaffee schafft es, ihren Schimmer zum Leben zu erwecken. Nicht die erste Tasse und auch nicht die fünfte.

Und trotzdem trinkt er immer weiter, Tasse um Tasse, als würde er hoffen, dass die sechste, die siebte vielleicht, etwas ändern wird. Er füllt ein Sieb mit Kaffee und Hoffnung und weiss dabei, dass es nichts bringt.

»Was ist los mit dir, Yule?«, frage ich vorsichtig, so vorsichtig, dass Yule nicht zusammenzuckt und so vorsichtig, dass keiner was davon mitbekommt, auch wenn jeder was davon mitbekommt, weil Yule seine Gefühle anzusehen sind, als hätte er sie auf sein Gesicht geschrieben.

Ich berühre ihn nicht, meine Hände liegen auf meinem Schoss, aber es fühlt sich an, als würde ich sachte eine Hand nach ihm ausstrecken.

Er sieht auf. Von seiner sechsten Tasse Kaffee. Seine Augen schimmern noch immer nicht. Als wäre die Tinte in ihnen ausgetrocknet.

Yule zuckt mit den Schultern. »Heute ist mein Nachdenktag, glaub ich. Ich denk zu viel nach und dann bin ich irgendwie ...« Er bricht ab.

... traurig, ergänze ich in Gedanken. Denn so sieht er aus: traurig und leer, irgendwie.

Er meint wohl eher Selbstzweifeltag. Nachdenken tut er sowieso immer viel. Viel zu viel, nach meinem Geschmack. Er sollte sich mal eine Pause gönnen.

Aber heute zweifelt er und ich weiss nicht, warum und woran.

»Yule?«

»Hm?«

»Stell dir vor, ich wäre dein Tagebuch. Du kannst mir alles anvertrauen. Und ich bewahre es auf - so lange, bis du die Seiten ausreisst. Wenn du in ein Tagebuch schreibst, dann bist du ehrlich und ich weiss, es ist gerade nicht dunkel, aber du kannst ehrlich sein. Mit mir immer. Das weisst du, oder? Du kannst mir alles erzählen und vielleicht sehe ich nicht aus, als könnte ich lange stillsitzen, aber ich bin eigentlich eine ziemlich gute Zuhörerin, weisst du?«

»Das weiss ich doch schon längst, Phoenix.« Er zieht einen Mundwinkel nach oben und es ist fast ein Lächeln, das sich auf seinem Gesicht abzeichnet. »Ich weiss nur nicht, ob ich schon einen Stift gefunden habe, um ins Tagebuch zu schreiben.«

Ich nicke. »Vielleicht findest du ja einen.«

Und da fällt mir ein, dass ich das Tintenfass habe und obwohl ich es noch ein bisschen behalten wollte, fühlt es sich an, als wäre der Zeitpunkt, es Yule zu geben, jetzt gekommen.

»Bleib hier sitzen, ich komme gleich wieder. Ich muss nur schnell was holen.«

🌲

Yules Augen schimmern zwar noch immer nicht, Zweifel trüben seinen Blick wie Nebel den Himmel an einem Tag im Herbst, aber immerhin kann ich ein Blitzen in ihnen erkennen, als ich mich wieder setze und Yule das Tintenfass reiche.

Ich sage »Das hab' ich für dich gekauft, es hat mich an dich erinnert« und Yule nimmt das Fässchen entgegen und als hätte ich ihm soeben einen Stift für sein Tagebuch gereicht, seufzt er.

Er sagt: »Ich habe manchmal Angst, nicht alles zu geben, weisst du?«

Und der erste Satz ist damit geschrieben und dann, ohne dass ich etwas dazu sagen muss, ist es, als würde das Tintenfass, das ich Yule gegeben habe, im genau richtigen Moment gegeben habe, überschwappen. Es tränkt die Seiten in blaue Tinte und Yule hört nicht mehr auf mit dem Schreiben.

»Schreiben ist seltsam.« Er dreht seine Tasse zwischen seinen Händen hin und her, sie ist mittlerweile leer, vielleicht hat er verstanden, dass auch die siebte Tasse das Sieb nicht füllen könnte.

»Weil die Inspiration ein bisschen wie das Meer ist. Sie kommt manchmal in Wellen. Konstant. Und dann kannst du dich auf sie verlassen. Du schreibst etwas auf, dann kommt die nächste Idee. Du schreibst sie auf und dann kommt die nächste. Immer wieder und es ist das beste Gefühl, weil du dich gut fühlst - du hast Ideen, genug, um zu schreiben, aber nicht zu viel, um überfordert zu sein.«

Er zuckt langsam mit den Schultern und ich weiss, dass da grade keine Wellen sind. Kein Wasser schwappt gegen den Strand.

Es macht ihn fertig.

»Aber manchmal, da nimmt die Welle dich mit, sie taucht dich unter Wasser und da sind keine Wellen mehr, du siehst nur noch all das Wasser um dich herum und du hast das Gefühl, in Inspiration zu ertrinken. Sie ist um dich, über und unter dir, du hast das Gefühl, nicht still sitzen zu können, die Finger kribbeln und du liebst es, weil es sich anfühlt, als wärst du unschlagbar. Aber es ist bittersüss, weil du weisst, dass dir irgendwann der Atem ausgehen wird. Es kann nicht ewig so weitergehen. Wer zu lange taucht, ertrinkt. Und du willst manchmal auftauchen, aber du hast Angst, dass danach Ebbe herrscht. Also bleibst du, solange es geht, und hast danach keinen Atem mehr, oder du tauchst auf und wartest auf die Ebbe. Denn sie kommt. Sie kommt immer. Und es ist das schlimmste Gefühl. Da ist überhaupt kein Wasser. Einfach nichts. Kein Wasser, in dem du ertrinken kannst, und auch kein Wasser, das in beruhigenden Wellen ans Ufer schwappt. Das Wasser bleibt so lange weg, dass du schon gar nicht mehr dran glaubst, dass es je wieder zurückkehrt, und nur der nasse Sand erinnert daran, dass da mal was war. Dass du mal was konntest. Schreiben. Dass mal alles überflutet war.«

Und während in seinem Kopf vielleicht Ebbe herrscht, alles ausgetrocknet ist und er nicht mehr ans Wasser glaubt, ist das Tagebuch jetzt überflutet, überflutet mit Tinte und Gefühlen und Ehrlichkeit. Und dabei ist es nicht mal dunkel.

Es ist nicht mal dunkel und es scheint kein einziger Stern, da sind nur ich und Yule und seine Ehrlichkeit. Seine Kanten, die Schatten werfen, aber ich schneide mich nicht an ihnen.

Yule hat sich selbst mehr Tiefe verliehen und Charaktere, die man verstehen kann, das sind die, die ich in Büchern immer am meisten liebe. Und vielleicht ertrinke ich grade selbst ein bisschen in all diesen Wellen, die mich umspülen.

Ich weiss nicht, woher Yules Zweifel kommen, ich weiss nicht, was sie hervorgerufen hat, ob es nur die Ebbe ist oder ob da noch etwas Anderes dahintersteckt. Etwas, das mit diesem Ort hier zu tun hat. Mit dieser Verlorenheit in Yules Augen und den ausweichenden Blicken, wenn ich ihn etwas gefragt habe oder wenn er von seiner Grossmutter gesprochen hat.

»Das ist etwas, das ich noch lernen muss, schätze ich. Dass ich die Inspiration nicht erzwingen kann. Dass diese Phasen, in denen mein Kopf vollkommen leer ist, genauso zum Prozess dazugehören wie alles andere auch. Genau, wie es auch Ebbe und Flut gibt. Aber jetzt gerade habe ich das noch nicht verstanden, ich sage es mir nur selbst immer, glaube es nicht wirklich, meistens ist dann diese Stimme lauter. Sie sagt mir immer und immer wieder, ich hätte länger im Wasser bleiben, die Flut länger ausnutzen sollen.«

»Unser Kopf ist ein Geschichtenerzähler«, sage ich. »Wir müssen nur entscheiden, welche Dinge davon wahr sind und welche nicht. Und - Yule?«

»Ja?«

»Du hast gesagt, der grösste Kritiker sässe in der ersten Reihe vor der Bühne in deinem Kopf. Wenn dieser Kritiker du selbst bist, und es wieder einmal unerträglich wird, so wie heute, schätze ich, dann stell dir einfach vor, ich würde daneben sitzen und dich, den Kritiker, pausenlos nerven, sodass du gar nicht zu Wort kommst. Und stell dir gleichzeitig vor, wie ich dir auf der Bühne applaudiere, jedes Mal, wenn der Kritiker seinen Mund aufmacht.«

Yule muss ein bisschen schmunzeln, es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang und es macht mich froh.

»Zweifelst du eigentlich nie, Phoenix?«, fragt er dann. »Du bist wie eine furchtlose Seiltänzerin, die leichtfüssig über das Hochseil hüpft und dabei nach unten sieht und sich darüber freut, wie hoch oben sie ist, statt Angst zu bekommen, dass sie fallen könnte. Wie machst du das?«

»Wenn das ganze Leben ein Hochseilakt ist, was hab' ich dann davon, einfach nur stehenzubleiben und Angst vor dem Fall zu haben?«

🌲

Wir wollen heute weiterfahren, aber wir haben noch Zeit, viel Zeit, bevor wir abreisen müssen. Also nehme ich Yule an der Hand und führe ihn langsam über das Hochseil.

In der Nähe des Bed & Breakfast gibt es einen Park, das hat mir Mary erzählt, und ich beschliesse, dass es ein guter Anfang ist, uns dort auf eine Schaukel zu setzen und einfach nicht nachdenken zu müssen.

Und wir schaukeln. Einfach so. Die Schaukeln sind zu klein für uns, zu schmal, zu niedrig. Meine Beine tun schon weh, weil ich sie immer anziehen muss, wenn ich ganz unten bin, aber das ist egal.

Für Yule muss es noch schlimmer sein, er ist grösser als ich, viel grösser. Aber auch ihm scheint es egal zu sein, er muss dabei nicht nachdenken, wir schaukeln einfach weiter und ich lache irgendwann.

Ich lache lauter und lauter und irgendwann sehen die im Sandkasten spielenden Kinder zu uns herüber, als würden sie sich fragen, was denn zwei erwachsene Personen auf ihrer Schaukel zu suchen hätten und warum sie lachen. Wenigstens eine von ihnen.

Weil das Leben schön ist, hätte ich sagen können. Und weil Schaukeln die ideale Therapie für Nachdenker ist.

Und erwachsen sind wir sowieso noch lange nicht.

Aber ich sage einfach nichts, lache weiter, sogar dann noch, als uns auch die Eltern der Kinder ansehen, und ich denke, dass es doch ein Segen ist, niemals erwachsenen zu werden.

Das Leben ist grade wie der höchste Punkt beim Schaukeln und es ist leicht und fühlt sich befreiend an, fast ein bisschen wie fliegen, und was stören mich die Blicke irgendwelcher Leute, wenn ich grade fliege?

Ich merke, wie Yules Gedanken aus ihm heraussickern, langsam. Aber sie tun es, sie lassen ihn immer ein bisschen mehr los, noch nicht ganz, aber es ist ein Anfang. Und als mir irgendwann die Beine wirklich wehtun, beschliessen wir, uns in den Schatten unter einen Baum zu setzen.

»Wir spielen jetzt ein Spiel«, verkünde ich.

»Ach?«

»Ja. Siehst du die Strasse da hinten?« Ich zeige auf eine Strasse, die am Rand des Parks entlangführt, und jetzt am Morgen dichtbefahren ist. »Wir wählen je eine Farbe und dann zählen wir die Autos in dieser Farbe. Wer schneller zehn Autos hat, hat gewonnen.«

Ich bin mir sicher, dass Yule mich durchschaut. Ich möchte ihn ablenken, er weiss das, aber er lässt es geschehen, und ich glaube, er ist dankbar dafür. Auch wenn er es nicht sagt.

Ich wähle die roten Autos, Yule die schwarzen.

»Du wirst nie gewinnen mit den roten Autos«, kommentiert er meine Wahl. »In den letzten zehn Minuten ist kein einziges rotes vorbeigefahren.«

Und ich gewinne doch. Und ich sage, vielleicht ein bisschen spöttisch: »Das ist die Macht der positiven Gedanken. Aber das verstehst du natürlich nicht.«

In der zweiten Runde wähle ich Silber, Yule Gelb. Er verliert. Es war klar. Er hat nicht dran geglaubt, dass er gewinnt, und ich frage mich, warum er Gelb überhaupt gewählt hat.

»Weisst du, Phoenix«, sagt er und lehnt sich gegen den Baumstamm hinter uns, »ich habe nur gelb genommen, weil ich keine Lust mehr auf das Spiel hatte und wusste, dass keine gelben Autos kommen würden - also musste ich sie auch nicht zählen.«

Dafür kassiert er einen Stoss zwischen die Rippen, aber er grinst und da habe ich ihm längst schon wieder verziehen. Denn - war das nicht das Ziel?

🌲

Wir bleiben im Schatten sitzen und wir hören das Gelächter der Kinder, die jetzt unseren Platz auf den Schaukeln eingenommen haben, wir sind kein Stück erwachsener als sie, vielleicht nur viel, viel nachdenklicher, Yule auf jeden Fall, und wir lauschen dem Rauschen der Blätter, wenn der sommerlich warme Wind durch ihre Blätter fährt.

Ich fahre mit meinen Händen durch das Gras und Yule reisst ein paar Halme aus, ich versuche alles, um ihn abzulenken, irgendwie, und jedes Mal, wenn ich kurz schweige, merke ich, wie Yule in seine Gedanken abdriftet wie eine Luftmatratze auf dem Meer, ein Meer ohne Wasser, es herrscht Ebbe, und ich weiss, die Zweifel sind noch nicht vorbei. Also versuche ich es weiter und weiter und meine Methoden werden immer beliebiger, aber es scheint zu funktionieren, also höre ich nicht auf.

»Also gut«, sage ich irgendwann und setze mich aufrecht hin, »neues Spiel.«

Yule zieht als Antwort nur eine Augenbraue hoch.

»Wir stellen uns gegenseitig Fragen. Keine tiefgründigen, sondern irgendwelche merkwürdigen Fragen. Fragen, die sonst keiner stellt.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel: Kaust du an deinen Fingernägeln?«

Als Antwort hält mir Yule seine Hand hin, die Nägel sind nicht eingerissen. »Und du?«

»Manchmal«, gebe ich zu. »Wenn ich nervös werde. Jetzt bist du dran, stell eine Frage.«

Er sieht mich an und sagt nichts, ich lese die Frage in seinen Augen: Wann bist du denn bitteschön nervös, Seiltänzerin?

Das Seiltänzerin steht da ganz deutlich geschrieben, ich kann es lesen.

Er macht den Mund auf, fragt: »Was ist dein Lieblingsjoghurt?«

»Stracciatella«, sage ich wie aus der Pistole geschossen, als hätte ich mich mein Leben lang auf genau diese Frage vorbereitet.

Die Frage in seinen Augen lasse ich unbeantwortet.

Und so machen wir weiter, es funktioniert nämlich, Yules Blick verdüstert sich nicht mehr, allerhöchstens dann, wenn er über seine Antwort nachdenken muss, zieht er seine Augenbrauen kurz zusammen, aber sein Gesicht hellt sich jedes Mal kurz danach wieder auf, sobald ihm etwas einfällt.

Nach einer Stunde weiss ich mehr belanglose Dinge über Yule, als ich über sonst eine meiner Freundinnen weiss. Ich weiss zum Beispiel, dass er mit schwarzem Kugelschreiber schreibt, statt mit blauem - aber eigentlich schreibt er sowieso nie mit Kugelschreiber -, ich weiss jetzt, dass er es nicht mag, wenn in seinem Getränk eine Scheibe Zitrone herumschwimmt, oder dass er immer den linken Schuh zuerst anzieht. Yule hasst Volleyball, spielt dafür ganz gerne Basketball, Pflaster zieht er so schnell wie möglich ab und: die Information, die vielleicht am allerwichtigsten gewesen wäre, möchte er mir nicht verraten.

Aus welchem Buch hast du mir gestern Abend vorgelesen?

Aus einem Buch, das du sowieso nicht kennst.

Ich lasse nicht locker, Yule genauso wenig, wir sind wohl beides dieselben Sturköpfe, ich frage immer weiter und Yule gibt mir jedes Mal dieselbe Nicht-Antwort auf meine Frage, es macht mich wahnsinnig, Yule bringt es ein bisschen zum Grinsen, es macht mich noch wahnsinniger, die Frage ist jetzt allerdings, wieso mich das Grinsen noch wahnsinniger macht, ich schwöre, es liegt daran, dass ich den Titel des Buches wissen möchte, es ist egal, dass es mich noch wahnsinniger macht, denn: Yule grinst ein bisschen und plötzlich ist aus dem Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht ein Sechs-Tage-Regenwetter-Gesicht geworden.

Und dann lasse ich trotzdem irgendwann locker, dann ist wohl Yule heute der grössere Sturkopf, aber irgendwann werde ich noch herausfinden, welches Buch ich denn angeblich nicht kennen sollte.

»Weisst du was, Yule?«, sage ich irgendwann und berühre sachte seine Finger, die neben mir im Gras liegen. »Du bist viel zu stur, als dass du Ebbe zulassen würdest. Du atmest Worte und wenn jemand schreiben muss, schreiben wird, dann bist es wohl du. Und ausserdem kannst du viel zu gut schreiben, als dass du es jetzt einfach verlernt haben könntest.«

»Woher willst du das wissen? Wie gut ich schreibe?«

Ich zucke beiläufig mit den Schultern. »Ich weiss das eben.«

Auch im Halbschlaf schaffe ich es noch, zuzuhören.

Und auch im Halbschlaf, Yule, verstehe ich dich noch.

Vielleicht im Halbschlaf sogar besser als sonst, weil du dann ehrlich bist.

🌲

Und irgendwann, irgendwann wird es Zeit, zu gehen. Ein neuer Ort wartet auf uns und so gerne ich noch viel viel länger in Walla Walla geblieben wäre, möchte ich weiterfahren und Neues entdecken. Etwas in mir sehnt sich nach neuen Abenteuern, nach einer neuen Tasse am Morgen und nach Sonnenuntergängen vor anderen Kulissen, und als wir aufstehen und uns das Gras von den Beinen klopfen, frage ich Yule: »Warum tun wir so viele der Dinge, die wir gerne tun würden, im Alltag nicht? Warum brauchen wir einen Grund dazu, einen Urlaub zum Beispiel?«

»Weil wir im Alltag denken, glauben, hoffen, dass wir ein Morgen haben.«

🌲

Yule ist heute nicht gut gelaunt, daran haben auch meine Bemühungen nichts verändert, lediglich kurzfristig, er ist traurig und energielos irgendwie, das Sechs-Tage-Regenwetter-Gesicht ist geblieben, die Wolken sind nicht weitergezogen, aus sechs Tagen sind nicht fünf, vier, drei geworden, es sind sechs geblieben, und sobald ich aufhöre, mit Yule zu reden, ziehen wieder neue Wolken auf und drohen mit sieben, acht neun Tagen Regenwetter.

Höchste Zeit, weiterzufahren und ihn im Auto mit meinem Gesang zu nerven oder mit ihm Ich sehe was, was du nicht siehst zu spielen - auch auf die Gefahr hin, dass Yule wieder keine Lust hat.

Yule ist heute nicht gut gelaunt, ein mit Wolken verhangener Himmel - und trotzdem zieht er die Energie nicht aus mir heraus, wie das bei meiner Mutter der Fall war, als sie angerufen hat, wenn überhaupt, dann schenke ich ihm einen Teil meiner Energie, und ich glaube, dass das etwas sehr Gutes ist.

Ich habe mich nicht an Yules Kanten geschnitten, ich habe ihm geholfen, sie ein bisschen weniger scharf zu machen. Ich habe sie ein bisschen abgeschliffen, er hat es zugelassen, er hat mir gezeigt, welche Ecke am meisten wehtut, ich habe das Schleifpapier genommen, Yule das Pflaster gegeben. Er hat es zugelassen.

Ich habe gesagt, ich habe nichts gegen Kanten. Ich schneide mich nicht daran. Das ist die Wahrheit. Ich finde Kanten schön, aber Yule sollte sich nicht selbst daran schneiden. Ich mag es nicht, ihn bluten zu sehen.

🌲

In den letzten Wochen habe ich gemerkt, wie sehr sich das Schreiben mit allem, was ich tue, verknüpft hat. So sehr verknüpft, dass ich es nicht mehr trennen konnte. Egal, was ich getan habe, immer war da auch noch: das Schreiben.
Schreiben ist ein Teil von mir, wird es immer sein, aber ich habe in den letzten Wochen feststellen müssen, dass es mir nicht gut tut, wenn ich ständig und überall daran denke. Ich kann nicht mehr abschalten und Pausen sind wichtig.
Deswegen hat es vielleicht auch so lange gedauert, bis ich dieses Kapitel fertig schreiben konnte.
In den zwei Wochen, in denen ich im Urlaub war, konnte ich endlich mal ein wenig abschalten - und das hat mir gut getan. Endlich sind meine Gedanken nicht mehr im Kreis gesprungen, sondern haben sich einfach mal ein bisschen beruhigt.
Und dann, als ich wieder nach Hause gekommen bin, musste ich das alles wieder langsam „zurückholen", mich langsam wieder herantasten und versuchen, nicht wieder in diesen Kreislauf zu kommen.
Ich möchte auf jeden Fall weiterhin versuchen, mir selbst Pausen zu gönnen und ein wenig Abstand gewinnen, weil ich gemerkt habe, wie gut mir das tut.
Also falls es euch manchmal genauso geht: Es ist okay, mal eine Pause zu machen. ♥️

Continue Reading

You'll Also Like

17.6K 576 25
Alles was sie wollte ist, die Vergangenheit zu vergessen. Die Vergangenheit, ihre Familie und all das Leid, welches ihr wiederfahren ist. Sie wollte...
23.7K 174 5
Bin so horny, mein dick ist so hart
15.9K 323 14
-Darkromance- -Start:22.2.24- Als Amaya endlich auf die neue Schule kam, dachte sie es wird wie vorher. Mr Martinéz, ihr neuer Lehrer, macht ihr da...
165K 1.8K 44
Schon häufiger hatte Bella ih gesehen. Immer wieder war sie ihm im Aufzug ihres Wohnhauses begegnet, meistens während er telefonierte. Er war stets...