WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

40.1K 3.9K 3.6K

❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

17 | Großstadt

708 101 84
By nebelschwere

... oder wie Mathea und ich in die Offensive gehen mussten.

[eine kleine warnung: am ende des kapitels wird sexuelle belästigung thematisiert]

ERLEICHTERUNG IST WUNDERVOLL. Und ich glaube, ich war noch nie so erleichtert, wie in dem Moment, in dem ich den Zug verlassen und frische Luft einatmen kann.

Die Menschenmasse um mich herum macht diese schöne Erfahrung zwar nicht besonders angenehm, aber dankbar bin ich trotzdem. Zugfahren ist schön, aber auf das Gedränge kann ich verzichten. Außerdem war unser Abteil miserabel durchlüftet, sodass die stickige Luft uns die Lunge zugeschnürt hat.

Dementsprechend froh bin ich, der erdrückenden Hitze endlich entfliehen zu können, auch wenn es außerhalb des Zuges nicht wirklich kühler ist.

Dafür ist der Lärmpegel gigantisch und der Bahnhof groß, aber das war vorherzusehen. Immerhin hat Nürnberg laut Lovis rund 520.000 Einwohner zu bieten und ist die zweitgrößte Stadt Bayerns. Und mit der Größe der Stadt und des Bahnhofs kommt natürlich, dass das Gebäude von vielen Menschen genutzt wird, die sich nicht im Flüsterton unterhalten.

Vermischt mit dem Rauschen und Quietschen der Züge scheint es beinahe unmöglich, sich, ohne zu schreien, verständigen zu können.

»Wohin müssen wir?«, ruft Ajax über den Lärm hinweg.

Sein fragender Blick huscht zu mir, woraufhin ich nur hilflos mit den Schultern zucke und überfordert einer Reisegruppe aus dem Weg gehe, die mich andernfalls umgerannt hätte. Seufzend versuche ich, meine Haare in den Griff zu bekommen, aber sie fallen mir immer wieder in die Augen, egal, was ich mache.

»Das war 'ne schlechte Idee«, murmle ich, mehr zu mir selbst, da mich sowieso niemand von dem Rest der Gruppe verstanden hätte.

Aber Ajax steht dicht neben mir und meine Worte sind bei ihm angekommen. Das bemerke ich daran, dass sich sein Kopf in meine Richtung dreht und er mir einen aufmunternden Blick schenkt, bevor er nach meiner freien Hand greift.

Überrascht von der Geste sehe ich zu ihm, doch seine Augen haben sich auf ein mir unbekanntes Ziel gerichtet. Energisch zieht der Franzose mich hinter sich her - stets darauf bedacht, dass ich nicht umgerannt werde oder selber in irgendwas hineinrenne.

»Ajax? Wo willst du hin?«, frage ich den Blondschopf irritiert, doch er antwortet nicht; hat mich vermutlich nicht einmal gehört.

Rasch werfe ich einen Blick über die Schulter, aber Mathea und Lovis sind nirgendwo zu sehen. Unruhe macht sich in mir breit. Ich mag es nicht, dass die beiden nicht mehr in Sichtweite sind und zwischen all den Leuten könnte es schwierig werden, sie ausfindig zu machen.

Erneuert wende ich mich an Ajax, dieses Mal energischer. »Ajax! Mathea und Lovis sind weg.«

Doch die Worte haben keine Wirkung auf den Franzosen. Er hält erst inne, als wir nach einer schier endlosen Ewigkeit und gefühlt tausend Treppen den Ausgang erreicht haben. Vor uns verläuft eine Straße, aber ich habe keine Ahnung, wo wir sind.

Ich war noch nie in Nürnberg und Ajax auch nicht. Sein Blick ist mindestens genau so überfordert, wie ich mich fühle, während er suchend den Kopf dreht, als würde er hoffen, dass irgendwo ein Schild steht, dass uns den Weg weisen wird. Dabei wissen wir nicht einmal, wo wir hin müssen.

»Weißt du, wo Lovis und Mathea sind?«, versuche ich es ein drittes Mal und drehe nervös den Kopf, in der Hoffnung, einen schwarzen und kupferfarbenen Haarschopf zu erspähen.

Die Suche bleibt erfolglos, was meine Unruhe verstärkt.

Mit der Hand greife ich in die Tasche meiner Jeansjacke und ziehe meine Handy hervor. Ich habe keine großen Hoffnungen, da Lovis' Telefon so gut wie immer keinen Akku hat und Mathea ihres grundsätzlich stumm schaltet.

Dennoch versuche ich es bei Lovis und überraschenderweise springt dieses Mal nicht sofort der Anrufbeantworter an. Eine Reaktion gibt es trotzdem nicht, weshalb ich nach einigen Sekunden genervt die mechanische Frauenstimme mitten im Satz abbrechen lasse.

Ajax scheint es währenddessen bei Mathea versucht zu haben, doch auch dort erhalten wir keine Antwort. Das Handy des Franzosen gleitet wieder in seine Hosentasche, während seine grauen Augen über den Platz huschen.

»Und wie finden wir die jetzt?«, will ich wissen und kann nicht verhindern, dass meine Stimme einen gereizten Unterton angenommen hat.

»In der Tat eine gute Frage.«

Ajax übergeht meinen zornigen Blick gekonnt und stellt sich stattdessen auf Zehenspitzen, dabei müsste er eigentlich in der Lage sein, um sämtliche Köpfe dieser Masse hinwegzusehen.

Auch ich lasse meine Augen über unsere Umgebung wandern. Meine Abneigung für Großstädte kocht wie heißes Wasser wieder in mir auf. Ich kann nicht atmen, die Sonne brennt auf uns nieder und ich fühle mich eingeengt zwischen all den Menschen, die sich einen Weg zu ihrem Ziel bahnen. Die Hektik lässt die Luft vibrieren und fährt wie Elektroschocks durch meinen Körper.

Ich werde abgelenkt, weil Ajax mich anstupst. »Schau, da vorne sind die beiden.«

Erleichtert stelle ich mich auf Zehenspitzen und ignoriere dabei das amüsierte Grinsen, das sich auf den Zügen des Franzosen bildet und seine Augen zum Strahlen bringt. Schließlich stelle ich fest, dass Ajax richtig lag und die beiden Vermissten sich tatsächlich einen Weg durch die Masse erkämpfen.

Als ihre Köpfe sich zufällig in unsere Richtung drehen, hebe ich die Hand und winke ihnen hektisch zu, woraufhin der Blonde neben mir in Gelächter ausbricht.

»Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mir diese Peinlichkeit sparen können«, sage ich spitz, ohne ihn anzusehen.

»Tja, das Schicksal ist ein mieser Verräter.«

»Wag' es ja nicht, dieses wundervolle Buch jemals wieder mit deinem fehlerhaften Verhalten in Verbindung zu bringen.«

»D'accord, Mademoiselle.«

»Nenn mich nicht so.«

»Was genau meinst du?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Keine Ahnung, wovon du sprichst, Mademoiselle.«

Ich verziehe das Gesicht, Ajax grinst.

»Tut mir leid, aber für ein Madame reicht's noch nicht.«

Ich tue das, was ich am Schlechtesten kann, und ignoriere ihn ein weiteres Mal, während ich darauf warte, dass Lovis und Mathea endlich zu uns gelangen. Glücklicherweise lassen die beiden nicht lange auf sich warten, obwohl es sich dennoch so anfühlt, als würden wir schon für Stunden in der strahlenden Sonne stehen. Als sie schließlich endlich bei uns ankommen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben, dass sie genau so genervt von der Menschenmenge sind, wie ich es bin.

»Was sollte dieses Gewinke?«, will Lovis in der Sekunde wissen, in der er bei uns eintrifft. »Dachte schon, du probierst irgendeinen irritierenden neuen Tanz aus.«

Das Verdrehen meiner Augen ist in der Gegenwart meines Bruders Standard geworden. »Manchmal frage ich mich wirklich, ob du bloß krampfhaft versuchst, lustig zu sein, oder einfach nur dumm bist.«

»Letzteres«, meint Mathea seufzend, während Lovis zur selben Zeit selbstsicher behauptet: »Keins von beiden. Ich bin ein humorvolles Genie, aber das werdet ihr erst verstehen, wenn ich gestorben bin. So läuft das immer bei den berühmten Leuten.«

Nicht gerade überzeugt starren wir ihn an, doch an seinem selbstbewussten Grinsen tut sich nichts.

»Der einzige Fan, den du jemals hattest und haben wirst, bist du selbst«, erinnert Mathea ihn, doch Lovis macht nur eine wegwerfende Handbewegung.

»Das sagst du jetzt. Warte ab, bis ich einen Nobelpreis bekomme.«

Verächtlich schnaubend verschränkt das Mädchen neben mir die Arme. »Genau an diesen Satz erinnere ich dich in siebzig Jahren nochmal, wenn du mit deinen fünfzehn Katzen in deinem Schaukelstuhl sitzt und deprimiert aus dem Fenster starrst.«

»Könnte schwierig werden, fünfzehn Katzen auf einem Stuhl unterzubringen.«

»Erst recht, wenn Lovis auch noch mit drauf sitzen soll«, bestätige ich. »Der macht sich breit. Materialverschwendung.«

»Du vergisst, dass selbst Materialverschwendung noch Material ist.«

»Das macht in jeglicher Hinsicht keinen Sinn«, erwidert Mathea mit ausdrucksloser Miene.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagt Ajax, als Lovis bereits den Mund aufmacht, um auf Matheas Worte zu reagieren.

Die Aussage des Franzosen lässt meinen Bruder irritiert innehalten, bevor er ihn ansieht und sagt: »Ja, ich hab' sie schon verstanden. Du musst es nicht wiederholen.«

[...]

Die Wände scheinen sich unter der Intensivität des Basses zu biegen, während die Luft vibriert und uns heiß ins Gesicht schlägt. Die Sicht wird durch den nebligen Rauch getrübt, der den gesamten Raum auszufüllen scheint, sodass man die schemenhaften Gestalten anderer Menschen nur erahnen kann..

Vorsichtig wage ich einige Schritte, wobei ich darauf achte, dass sich der Rest der Gruppe dicht hinter oder neben mir befindet. Bedacht husche ich zwischen Menschengruppen hindurch, in dem verzweifelten Versuch, ein leeres Fleckchen zu finden.

Das postea ist unverschämt voll. Wäre es nicht Ajax' Wunsch gewesen, diesen Club aufzusuchen, hätte ich spätestens bei dem Anblick der Schlange vor dem Eingang des Hotspots auf der Stelle kehrtgemacht. Jedoch kann ich nicht einfach verschwinden, wenn der Franzose hier in seinen Geburtstag reinfeiern möchte. Mir erschließt sich noch immer nicht, warum ausgerechnet hier, aber ein Blick über die Schulter zeigt, dass sich sowohl der blondhaarige Junge, als auch mein Bruder pudelwohl zu fühlen scheinen. Ihre leuchtenden Augen strahlen mit den grellen Scheinwerfern um die Wette.

»Immerhin wird irgendjemand Spaß haben«, murmle ich mir selbst zu, während ich den Blick rasch über die Umgebung schweifen lasse.

Nur einige Meter von uns entfernt bewegen sich unzählige Personen auf einer Tanzfläche zu der Musik eines DJs, der tatsächlich ganz gut zu sein scheint. Die Töne, die aus den Lautsprechern dringen, bieten tatsächlich die Möglichkeit, sich im Takt zu bewegen, was viel zu selten vorkommt.

»Wollt ihr was trinken?«, ruft Lovis uns zu und zeigt verdeutlichend mit dem Finger auf die Bar, die nur wenige Schritte von uns entfernt liegt.

Seufzend nicke ich. »Wie immer.«

Mein Bruder gibt mir mit einem knappen Lächeln zu verstehen, dass er mich akustisch und inhaltlich verstanden hat, bevor er den Blick zu den anderen Beiden gleiten lässt, die ihm ihre Wünsche mitteilen. Dann verschwindet er auch schon in der Masse, Ajax gleich hinter ihm, damit er die vier Gläser nicht alleine tragen muss.

Mathea schnappt sich meinem Arm und grinst mich an, während ich ihr einen leidenden Blick zuwerfe. Das schwarzhaarige Mädchen schüttelt mehrmals den Kopf, bis ihre Haare nicht mehr in ihrem Gesicht hängen, bevor sie mich hinter sich herzieht.

Kommentarlos lasse ich zu, dass sie mich zu der überfüllten Tanzfläche führt. Es hätte keinen Zweck, ihr zu widersprechen. Früher oder später hätte ich mich sowieso hier wiedergefunden.

»Tanzt du auch oder willst du nur rumstehen?«, ruft Mathea mir lachend zu.

Ich grinse und sie beginnt, sich zum Klang der Musik zu bewegen. Ihre langen Haare schwingen munter mit und verschwimmen mit der Schwärze des Clubs. Das Flackern der Lichter lässt es zu, ab und an einen Blick auf seine Umgebung zu erhaschen.

Für einige Sekunden beobachte ich Mathea, welche munter tanzt und mir gelegentlich einen auffordernden Blick schenkt. Schließlich entscheide ich, mich aus meiner Starre zu lösen und schließe mich meiner besten Freundin an. Darauf bedacht, uns nicht in der Masse zu verlieren, bewegen wir uns mit der Menge um uns herum.

Ich mag das Tanzen. Es passiert nicht selten, dass ich aufspringe, um mich mit der Musik zu drehen und zuzulassen, dass die Töne meine Körper ausfüllen. Es macht mich frei. Freier, als sonst.

[...]

Tanzen im Club kann beschissen sein.

Ich weiß nicht, wie lange wir hier schon sind. Alles, was ich weiß, ist, dass Ajax und Lovis uns die Getränke gebracht haben und dann wieder verschwunden sind. Unsere Gläser sind schon seit geraumer Zeit leer und wir tanzen ausgelassen.

Und dann bemerke ich, wie sich eine Gruppe uns nähert.

Kurz werfe ich Mathea einen raschen Blick zu, welcher die Unbekannten ebenfalls nicht entgangen sind. Sie schneidet eine Grimasse, die mich zum Lachen bringt.

Wir tanzen weiter und nach einiger Zeit bin ich der Überzeugung, dass die Gruppe nicht zu uns wollte, sondern weitergezogen ist. Aber es dauert nicht lange, bis ein warmer Atem meinen Nacken trifft. Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Bevor ich herumfahren kann, legen sich Hände energisch an meine Hüfte. Ich sehe Matheas alarmierten Blick, der nervös zwischen mir und dem Unbekannten hin und her huscht.

Entschlossen schiebe ich die unbekannten Hände fort und hoffe, dass vielleicht einmal in meinem Leben jemand diese Geste versteht und weiterzieht. Aber natürlich hoffe ich vergeblich, denn keine Sekunde später spüre ich wieder Finger auf dem spaltbreit freier Haut, die mein bauchfreies Oberteil präsentiert.

Genervt schnaubend winde ich mich ein weiteres Mal aus dem Griff und fahre herum, doch ich komme nicht einmal dazu, den Mund aufzumachen.

»Warum so zickig, Kleine?«

In meinem Bauch zieht sich alles zusammen. Die Worte des Unbekannten sind schmierig und sie kleben an mir, als wäre ich die Beute im Netz und er die Spinne, die über mir lauert und bereit ist, sich auf mich zu stürzen.

Mein Gegenüber ist betrunken oder ein Arschloch oder beides. Und leider kann ich sein Gesicht kaum erkennen, denn es verschwimmt mit der unheilvollen Dunkelheit, die den Club ausfüllt.

Meine Augen huschen zu den schemenhaften Gestalten hinter ihm. Vier weitere Personen behalten Mathea und mich im Blick, was mich verächtlich die Nase rümpfen lässt. Alleine würde er sich das wahrscheinlich nicht trauen.

»Könntest du dich bitte verziehen?«, erwidere ich übertrieben höflich.

Ich spüre Matheas Körper dicht hinter mir und kann mir vorstellen, dass sie den Unbekannten drohende Blicke zuwirft, die in der spärlichen Beleuchtung wohl untergehen.

Der Typ vor mir tritt näher an uns heran, aber ich weiche nicht zurück, während er spricht: »Lass uns doch einfach ein bisschen Spaß haben. Deswegen bist du doch hier, richtig?«

»Vollkommen nicht korrekt«, sage ich. »Ich bin hier, um dir eine reinzuhauen, solltest du nicht verschwinden.«

Sein Lachen ist ekelhaft und allein dafür bin ich kurz davor, einfach auszuholen und ihn Sternchen sehen zu lassen.

»Du bist eine schlechte Lügnerin, Kleine«, fährt er schließlich fort und in einer kurzen Lichtphase sehe ich das dreckige Grinsen auf seinen Zügen. »Keine Sorge. Ich mag temperamentvolle Frauen. Für deine süße Freundin finden wir sicher auch noch jemanden, also macht euch locker.«

»Ich schlag dir gleich locker flockig dein Grinsen aus dem Gesicht«, schnaubt Mathea und ich weiß, dass sie kurz davor ist, aus ihren Worten Taten zu machen.

Ein zweiter Kerl tritt nach vorne, wobei er versucht, seine Knöchel bedrohlich knacken zu lassen. In meinen Ohren klingt es so, als wäre er schon uralt und seine Gelenke nicht mehr die Jüngsten.

»Es würde euch guttun, nicht ganz so wählerisch zu sein«, behauptet der zweite Unbekannte. »Was besseres kriegt ihr heute definitiv nicht mehr ab.«

Mir entschlüpft ein gehässiges Lachen. »Für mich klingt es eher so, als hättet ihr heute Abend von sämtlichen weiblichen Personen in diesem Raum eine Abfuhr bekommen. Muss hart sein, so ein Arschloch zu sein, dass nicht einmal die Betrunken einen haben wollen.«

»Ich wäre vorsichtig damit, was du sagst«, zischt der Kerl zurück und ich grinse.

»Wieso? Versuch' auch nur einmal, mich anzufassen, und ich sorge dafür, dass dein Abend im Krankenhaus endet.«

Unbekannter Nummer zwei macht drohende Schritte in unsere Richtung und ich zwinge mich, nicht intuitiv zurückzuweichen.

»Jetzt bist du vielleicht noch vorlaut, aber wir werden ja sehen, wie es nachher aussieht«, erwidert der Unbekannte Nummer eins.

Wütend starre ich ihn an. »Letzte Chance: Verpiss dich.«

»Sonst was?«

Ein weitere Lichtphase, noch immer dieses dreckige Grinsen.

Ich will den Mund aufmachen, aber seine Arme umgreifen mich schneller, als ich reagieren kann. Definitiv nicht betrunken, nur ein Arschloch.

»Lass mich los!«, brülle ich.

Traurigerweise ist der Typ stark. Sein Griff ist fest und als er mich an seinen Körper drückt, habe ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Mit den Armen versuche ich mich von ihm loszudrücken, aber genau so gut hätte ich probieren können, eine Wand in Bewegung zu setzen.

»Oh, nein«, höhnt er. »Bist du jetzt etwa doch hilflos?«

»Du mieses, kleines Arschloch!«, höre ich Mathea fauchen, bevor ein Schrei ertönt, der dem zweiten Unbekannten entflohen sein muss.

Ich kann mir vorstellen, dass meine beste Freundin sich kurzerhand auf ihn geworfen hat und kann nicht verhindern, dass ein Grinsen auf meine Züge huscht. Aber meine Schadenfreude ist nicht von langer Dauer.

Ich spüre, wie sich mein Gegenüber vorlehnt, seine Lippen streifen meine Stirn. Angeekelt zucke ich zurück, aber er hält mich fest und ich würde ihm am liebsten die Augen dafür auskratzen.

Es ist offensichtlich, dass ich in dieser Situation praktisch wehrlos bin, denn er ist um einiges kräftiger. Schnell komme ich zu dem Schluss, dass es einen anderen Weg aus dieser Situation geben muss.

Kurzerhand zwinge ich mich dazu, meinen Körper zu entspannen. Die Überraschung des Unbekannten ist spürbar, aber rasch scheint er der Auffassung zu sein, dass ich nun doch nicht mehr so abgeneigt von seinem Vorhaben bin.

Bestimmend packt er mein Kinn und dreht meinen Kopf in seine Richtung. Ich bin mir sicher, dass meine Augen hasserfüllt funkeln, aber das bemerkt er dank des dämmrigen Lichtes nicht. Alles in mir brüllt danach, mich aus seinem Griff zu winden. Die Erkenntnis, dass er viel zu stark ist, als dass ich es schaffen könnte, tut weh.

»Ich verspreche, dass du diese Nacht nicht bereuen wirst«, haucht er.

Es erfordert meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht sofort zu versuchen, ihn dem Erdboden gleichzumachen. Stattdessen warte ich, obwohl ich noch nie gut darin gewesen bin.

Kurz bevor der Ekel den Kopf hinunter beugt, durchschneidet eine wütende Stimme die Musik: »Was zum Teufel glaubst du, was du da gerade machst?«

Ajax' Präsenz beruhigt mein schnellschlagendes Herz für den Bruchteil einer Sekunde. Und sie kommt mir zugute, denn der Unbekannte ist überrascht. Sein Kopf schnellt zur Seite und ich nutze den flüchtigen Moment seiner Unachtsamkeit, um mein Knie zwischen seine Beine zu rammen. Sofort lösen sich seine dreckigen Hände von mir und wimmernd geht er zu Boden.

Blitzschnell fahre ich herum und bin unendlich erleichtert, als ich sehe, dass Lovis Mathea von dem zweiten Unbekannten fortzieht, auf welchen sie mit ihren Fäusten eingeschlagen und ihn zu Boden gebracht hat. Wo ihre restlichen Begleiter sind, lässt sich nicht sagen. Sie sind verschwunden.

Ich spüre einige Blicke, die uns flüchtig mustern und dann fortwandern. Es ist fast zum Lachen, dass kaum jemand um uns herum wirklich mitbekommen hat, was hier gerade passiert ist.

Enttäuschung macht sich in mir breit. Keiner ist gekommen. Keiner wäre gekommen.

»Colombe? Ist alles in Ordnung?«

Ajax' besorgten Worte lassen mich bemerken, dass ich zittere, obwohl mir so heiß ist, dass ich umkippen könnte. Mein Herz pocht so laut, dass ich für einige Momente nichts anderes höre.

»Talia?«, versucht es der Franzose erneuert, aber seine Worte dringen nur gedämpft an meine Ohren, während mein Blick über die unzähligen Köpfe fliegt, von denen sich keiner um uns scherrt.

Niemand hat nachgefragt.

Wieso überrascht mich das?

Nach einer gefühlten Ewigkeit drehe ich meinen Kopf und blicke in Ajax' Augen, die mich aufmerksam mustern. Angst liegt in seinem Blick, als er vorsichtig und langsam die Arme austreckt.

»Ist es okay, wenn ich dich anfasse?«, fragt er leise, aber er ist mir so nahe, dass ich ihn beinahe problemlos verstehen kann.

Es braucht kurz, bis ich seine Frage verstehe und nicken kann.

Behutsam legt der blondhaarige Junge seine Arme um mich und zieht mich vorsichtig an sich heran. Ausatmend lehne ich meinen Kopf an seine Schulter und lasse zu, dass die Enttäuschung mich in ihren Tiefen ertränkt. Ich wünschte, ich könnte schwimmen.

»Es tut mir leid, was passiert ist«, flüstert Ajax, während seine Hand sachte immer wieder über mein Haar fährt.

Ich will etwas erwidern, aber ich kann nicht. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, fahren Karussell, und ich frage mich, seit wann es Karussells auch in Geisterhäusern gibt. Ich bin wütend und enttäuscht und traurig. Ich will weinen und schreien und still sein, bis alles unendlich laut ist.

Ich löse mich schneller von Ajax, als ich vorgehabt hatte. Mein hasserfüllter Blick gleitet zu der Person, die noch immer auf dem Boden liegt und stöhnt. Kurzerhand gehe ich in die Hocke, sodass ich ihm mehr oder weniger in die Augen sehen kann.

Mein Atem hat sich beruhigt und das Zittern ist verebbt. Das Karussell in meinem Kopf dreht sich weiter, aber ich kann seinen Lärm ignorieren.

»Du bist ein Mistkerl«, sage ich schlicht und stoße ein verächtliches Lachen aus. »Ich hoffe wirklich, dass du nicht noch einmal auf die abartige Idee kommst, du könntest dich an irgendjemanden vergreifen.«

Entschlossen lehne ich mich vor, damit er auch ja jedes Wort versteht, das ich sage: »Wir sind keine Puppen. Und wir sind ganz sicher auch nicht wehrlos. Wer ein Arschloch ist, sollte sich daran gewöhnen, auch als solches behandelt zu werden. Selbst von denen, von denen er es am wenigstens erwartet.«

Es gibt keine Reaktion, aber ich weiß, dass er mich gehört hat. Ich weiß auch, dass es ihn höchstwahrscheinlich nicht verändern wird. Aber es erfüllt mich mit Befriedigung, ihn auf dem Boden liegend zu sehen, während ich ihm meine Worte ins Gesicht schleudere. Denn urplötzlich ist er nicht mehr höhergestellt, sondern genau das, was er in mir gesehen hat: hilflos.

Während ich mich aufrichte, verharrt mein Blick auf seiner Gestalt, bevor ich mich endlich abwende und Ajax ansehe, der noch immer neben mir steht und wartet.

Seufzend versuche ich, ihm ein schwaches Lächeln zu schenken, das auf halbem Weg verloren geht. »Lass uns bitte verschwinden.«

____

[author's note]

bin immer noch geschockt für wie normal solche situationen gehalten werden. ich weiß noch wie vor zwei oder drei jahren sowas ähnliches bei einer freundin passiert ist und wir nie wirklich darüber gesprochen haben weil wir einfach nicht wussten was da gerade passiert ist.

übrigens bin ich mir bewusst dass diese szene noch harmlos dargestellt wurde und talias reaktion wahrscheinlich ziemlich untypisch ist. aber im nächsten kapitel gehe ich noch mal etwas darauf ein und am ende des tages reagiert ja jeder mensch etwas anders auf gleiche situationen.

ich hoffe wirklich dass niemand von euch schon von sexueller belästigung betroffen gewesen ist auch wenn das unwahrscheinlich ist. bitte seid euch bewusst dass jede unerwünschte berührung nicht in ordnung ist. egal wie klein es gewesen sein mag [oder wie klein es von anderen im nachhinein gemacht wird]. passt auf euch auf <3

Continue Reading

You'll Also Like

112K 8K 22
Louis hat die Angewohnheit, sich über nichts zu beklagen. Harry hasst das, denn manchmal, wenn man sich über nichts beklagt, passieren schlimme Dinge...
14.1K 323 33
~ Pedri's Blick schnipste zu mir. ,,Gavi.." sagte er, woraufhin ich leicht nickte und er weiterredete ,,..Hast du mit meiner Schwester geschlafen?"...
121K 4.1K 33
❥𝐎𝐍𝐆𝐎𝐈𝐍𝐆 𝓛𝐎𝐑𝐄𝐋𝐀𝐈 𝐒𝐌𝐈𝐓𝐇, das Mädchen was das Leben aus den Augen verloren hatte und ein Badboy der sich jedesmal in ihren blauen...
Crowded Room By Lisa

Teen Fiction

13.3K 1.3K 24
All die Jahre hatten wir geschwiegen, hatten tiefe Gefühle für Freundschaft gehalten und nur das geglaubt, was wir wollten. © LJ Lewis