WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

15 | Winkekatzen

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By nebelschwere

     ... oder wie wir kleine Lichter zählten.

     NOCH FÜNF TAGE, dann ist Ajax' Geburtstag. Wir haben im Alter von dreizehn Jahren beschlossen, uns nichts mehr zu schenken, weil es nichts gibt, was wir noch gebrauchen könnten. Trotzdem kommt beinahe jeder von uns immer wieder mit einer selbstgemachten Idee um die Ecke.

     Ajax' Geschenk habe ich schon länger fertig und es ist definitiv nicht das, was man sich zu seinem achtzehnten Geburtstag normalerweise erhoffen würde, aber ich weiß, dass er sich freuen wird und das reicht.

     Ich bin mir sicher, dass Lovis sich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht hat, was er seinem Kumpel zum Geburtstag schenken könnte und ich weiß einfach, dass er am Abend vorher wie ein aufgeschrecktes Huhn panisch durch die Gegend rennen wird. Denn am Ende möchte dann doch niemand mit leeren Händen gratulieren.

     Aber vorerst sind wir alle noch die Ruhe selbst. Nach einer erholsamen Nacht in einem kleinen Hotel und einem ausgesprochen guten Frühstück geht die Reise für uns weiter. Während des Essens haben wir uns eine kleine Route überlegt, welche uns schon sehr nah an das Gebirge heranführen wird, damit wir morgen das Erzgebirge auf unserer imaginären Reiseliste abhaken können. Wie wir dann fortfahren werden, steht allerdings noch mehr oder weniger in den Sternen.

      Der Weg neben der Autobahn ist ideal, um die Boards zu benutzen. Der Boden ist in einer unglaublich guten Verfassung, weshalb wir fast ohne Unterbrechung weiterfahren können.

     Zwischendurch legen wir immer wieder kurze Pausen ein, um kleine Wäldchen zu erkunden oder etwas zu essen. Aber im Großen und Ganzen stehen wir ausschließlich auf den Boards und genießen den kühlenden Fahrtwind auf unserer erhitzten Haut.

     Aber gerade ist Pause angesagt. Wir sitzen im Gras, welches im Schein der brodelnden Sonne schon einiges an Farbe und Standhaftigkeit verloren hat, und um uns herum ist nichts, außer die Autobahn über welche Menschen rasen, die sich nicht die Zeit nehmen können, die Schönheit ihrer Umgebung zu begutachten.

     Ich liege auf dem Rücken, weil ich es liebe, den Wolken beim Verändern ihrer Form zuzusehen. Ajax sitzt neben mir, meine Beine liegen auf seinen, während er Fotos schießt. Alles, was nicht bei Drei auf dem Baum ist, wird zum Opfer seiner brennenden Leidenschaft. So auch ich, denn – ganz ehrlich – niemand kriegt mich jetzt irgendwohin.

     «Ich habe mir was überlegt», verkündet Mathea plötzlich, nachdem sie das letzte Stück ihres Sandwiches runtergeschluckt hat und die Krümel von ihrem Oberteil wischt.

     «Du kannst denken?», erwidert Lovis gespielt überrascht und reißt dabei fassungslos die Augen auf. «Wow, Mathea. Herzlichen Glückwunsch!»

     Schnaubend zieht Angesprochene eine Augenbraue in die Höhe, während ihr einige Strähnen ihres dunklen Haares ins Gesicht fallen. «Mehr als du, so viel steht schon mal fest. Wann hast du eigentlich zuletzt deine Synapsen eingeschaltet, bevor du deinen Mund aufgerissen hast? Vor zehn Jahren?»

     «Hat er vor zehn Jahren nicht noch geglaubt, dass man als Matratzentester Millionär werden kann?», erwidert Ajax grinsend, während er seine Kamera vorsichtig in der zugehörigen Tasche verstaut.

     Meine Mundwinkel zucken nach oben und auch Mathea kann sich ein Kichern nicht verkneifen. Lovis hingegen gibt ein empörtes Grummeln von sich und legt sein Buch beiseite.

     «Wer weiß», sagt er dann.

     «Stimmt, für alles gibt es ein erstes Mal», feixe ich amüsiert. «Aber ich glaube, man stellt in der Regel nur Personen ein, die ihrem Job gewissenhaft nachgehen und nicht sofort einschlafen. Sicher, dass du diese Voraussetzung erfüllst?»

      «Nennst du mich gerade faul?», erwidert mein Bruder verschnupft und schenkt mir dabei einen funkelnden Blick, durch welchen ich seine Belustigung herausblitzen sehen kann.

      «Ich kann dich auch phlegmatisch nennen, wenn dir das lieber ist.»

     «Ich habe absolut keine Ahnung, was das bedeutet, aber ich gehe mal stark davon aus, dass es kein Kompliment gewesen ist.»

     «Dass du dein Vokabular auf einem Teelöffel zusammenfassen kannst, wundert mich persönlich auch eher weniger.»

     «Du bist unmöglich.»

     «Unmöglich witzig, unmöglich charmant, unmöglich gutaussehend. Die Liste ist unendlich lang, hab' ich mir sagen lassen».

     Mathea und Ajax brechen in herzhaftes Gelächter aus, wobei an Lovis' Mundwinkeln ausschließlich ein kleines Schmunzeln zuckt. Siegessicher grinsend esse ich einen Keks.

     «Dürfte ich erfahren, wer das gesagt hat?», erwidert mein Zwillingsbruder dann trocken. «Denn wenn es Chris war, dann muss ich dir leider mitteilen, dass es kein Kompliment gewesen sein kann.»

     Verärgert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. «Du schaffst es auch wirklich immer, dieses Arschloch in deine Argumentation einzubeziehen.»

     «Immer?», wiederholt Lovis mich und zieht dabei ungläubig eine Augenbraue in die Höhe.

     «Ach komm. War doch ganz putzig, wie er versucht hat, dein Herz für sich zu gewinnen», mischt Mathea sich grinsend ein und zwinkert mir vielsagend zu. «Auch wenn das Herz aus Rosenblättern unter deinem Fenster wirklich etwas zu viel des Guten war. Richtig, Ajax?»

      «Hrmpf», macht Angesprochener, wobei sich sein Blick verfinstert. «Ich kann ihn nicht leiden.»

     «Oh, welch unvorhersehbare Überraschung», spottet Mathea und verdreht dabei die Augen, woraufhin sich Ajax' düsterer Blick auf meine beste Freundin richtet. «Könnte ich euch vielleicht jetzt von meinem genialen Plan erzählen?»

      «Du bist ziemlich selbstsicher», kommentiert Lovis ihre Worte schmunzelnd.

     «Gibt ja auch viel, auf das ich stolz sein kann», schießt die schwarzhaarige Schönheit zurück und streicht sich die Strähnen aus dem Gesicht. «Dürfte ich jetzt endlich?»

     Mit einer ausladenden Handbewegung gibt Lovis gönnerhaft sein Einverständnis, ehe er sich zurück in das vertrocknete Gras fallen lässt und einen Arm über seine Augen legt, um dem blendenden Licht zu entgehen.

     Zufrieden stößt Mathea ein Seufzen aus. «Also, wir nehmen in zwei Tagen den Zug nach Nürnberg und feiern danach Ajax' Geburtstag. Wir können in irgendeinen Club oder so gehen. Am Tag danach, also am 10., fahren wir weiter nach Ulm und verbringen da auch eine Nacht. Und zu guter Letzt geht's für uns nach Friedrichshafen. Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir dort länger bleiben, damit sich die Reise auch wirklich lohnt. Es soll schön da sein.»

     Ein wenig erschlagen von ihrem doch ziemlich ausführlichen Plan blinzle ich sie mehrmals irritiert an, während ich ihren Monolog in Gedanken ein weiteres Mal durchgehe, um ihren Ideen folgen zu können.

      «Wow», gibt Ajax von sich und spricht damit das aus, was ich mir denke. «Das ... das ist mal ein strukturierter Plan.»

     «Schon mal darüber nachgedacht, Reiseführerin zu werden?», will Lovis grinsend wissen, weiterhin auf dem Boden liegend. «Mensch, Mathea, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so eine krasse Planerin bist. Dann hätte ich dir letztes Jahr doch lieber einen Kalender schenken sollen.»

     «Anstatt von was denn bitte, wenn ich fragen darf?», erwidert Mathea schnaubend. «Sollte ich mich richtig erinnern – was ich immer tue – bist du drei Stunden zu spät gekommen, weil du vergessen hast, dass mein Geburtstag war.»

     «Dementsprechend warst du auch der einzige, der kein Geschenk dabei hatte», ergänze ich augenverdrehend.

     «Meine Anwesenheit war schon Geschenk genug», behauptet mein Bruder grinsend und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf.

     Ajax stößt ein tiefes Seufzen aus. «Natürlich. Wie konnten wir das nur vergessen? Lovis, der Heilige.»

     «Der heilige Schutzpatron eurer armen Seelen», korrigiert der Junge mit den kupferfarbenen Haaren und zwinkert dem Franzosen frech zu.

     «Ich denke einfach, es wäre praktisch, für die letzten Tage einen Überblick zu haben», mischt Mathea sich wieder ein und blickt dann auffordernd zu Ajax und mir, in dem Versuch, das Gespräch wieder auf das Wesentliche zurückzubefördern, indem sie Lovis' Aussage übergeht.

     «Die letzten Tage?», wiederholt der Franzose irritiert.

     Schulterzuckend fährt das schwarzhaarige Mädchen sich durch die dichten Haare. «Keine Ahnung, könnten die letzten sein.»

     «Müssen wir wirklich jetzt schon darüber reden, wie unsere Reise aufhören wird?», erkundige ich mich und verziehe das Gesicht, während ich mit einer Hand versuche, meine Augen vor der Sonne zu schützen. «Das nimmt der ganzen Sache irgendwie den Spaß.»

     «Ich hätte nicht gedacht, dass ich das irgendwann mal sagen würde, aber sie hat recht», ruft Lovis, woraufhin mir ein genervtes Seufzen entwischt.

     Mit hochgezogenen Augenbrauen blicke ich in seine Richtung, doch dem kupferfarbenen Haarschopf entgeht mein scharfer Blick. Seine Augen hat er geschlossen, während er tiefenentspannt auf dem Boden liegt und das warme Sommersonnenlicht genießt.

     «Was haltet ihr denn im Allgemeinem von dem Plan?», will Mathea wissen.

     Während ihre Augen uns aufmerksam mustern, greifen ihre schlanken Finger nach ihrer Mateflasche, dessen Deckel sie geistesabwesend abschraubt.

     «Kann man so machen», antwortet Ajax schulterzuckend, doch seine Konzentration hat sich schon längst auf andere Dinge gerichtet.

     Zustimmend nicke ich, Lovis gibt keinen Kommentar ab, was wohl bedeutet, dass er keine Einwände in Bezug auf den Plan hat. Dann schweigen wir.

     Die Luft brodelt von der feurigen Hitze, die Besitz von diesem Tag ergriffen hat. Der Himmel ist hell und nur selten von einzelnen Wolken durchzogen. Der Wald liegt stumm in unserem Rücken, seine Geheimnisse verbergend, während das Rauschen der Autobahn einen konstanten Lärmpegel in unseren Ohren bildet.

     Ich ignoriere das aufkommende Vibrieren meines Handy. Wahrscheinlich dürfte sich jetzt der nächste unbeantwortete Anruf meines Vaters der Liste seiner Vorgänger anschließen.

     «Hast du in letzter Zeit wieder was von deinen Eltern gehört?», erkundigt Ajax sich mit gedämpfter Stimme und blickt fragend zu mir.

     Mir entweicht ein Seufzen. «Gehört nicht wirklich. Aber Dad betreibt Telefonterror. Ich krieg' mindestens zehn Anrufe jeden Tag.»

     Bei meinen Worten verdrehe ich die Augen und zupfe an dem Stoff meiner Mom Jeans herum. Es ist verdammt warm und obwohl ich den Sommer liebe, bereitet mir die glühende Hitze keine Freude. Außerdem gibt es auf dieser Wiese keinen Schatten, wodurch wir den Strahlen der Sonne schutzlos ausgeliefert sind.

     Ajax entlocke ich ein leises Lachen, woraufhin ein sanftes Lächeln auf mein Gesicht huscht.

     «Sicher, dass du nicht rangehen willst?», fragt er schmunzelnd und deutet mit dem Kopf auf mein Handy, welches zwischen den Rucksäcken auf der Decke liegt und vor sich hin brummt.

     «Das wäre so ziemlich das Letzte, was ich machen wollen würde», grummle ich augenverdrehend, während ich nach dem Gerät greife und Flugmodus einstelle.

     Das Brummen verstummt abrupt und zufrieden grinse ich Ajax an, welcher sich mit einem knappen, aber amüsierten, Kopfschütteln als Reaktion begnügt.

     Ich zögere kurz, bevor ich meine eigene Frage stelle: «Wie sieht's mit deinem Dad aus?»

     «Wie soll's schon aussehen?», lacht Ajax bitter. «Er verhält sich an dem einem Tag wie ein ignorantes Arschloch und am nächsten spielt er das besorgte Elternteil.»

     «Um ehrlich zu sein, habe ich mittlerweile gar keine Schuldgefühle mehr, dass wir ihm das Geld geklaut haben», sage ich grinsend, woraufhin der Franzose ein ehrliches Lachen von sich gibt und mir einen amüsierten Blick zuwirft.

     «Du hattest schon vorher keine.»

     Empört reiße ich die Augen auf. «Spinnst du? Das schlechte Gewissen hat mich beinahe umgebracht, das kannst du mir glauben.»

     «Und du kannst ruhig zugeben, dass du es verdammt befriedigend fandest, ihm ein paar Scheinchen zu entziehen», hält Ajax lächelnd dagegen.

     «Nicht im Geringsten.»

     Indem ich den Kopf in die entgegengesetzte Richtung drehe, versuche ich, die grauen Augen des Franzosen zu ignorieren, die mir zu verstehen gebe, dass er es besser weiß. Natürlich tut er das. Eine Weile kann ich mich stumm gegen seine scharfen Blicke verteidigen, bis sie schließlich zu spitz werden und ich mir stöhnend meine Niederlage eingestehen muss.

     «Okay, okay. Vielleicht hat's mir ein klitzekleines bisschen Spaß gemacht.»

     Mit meinen Fingern verdeutliche ich, dass dieser Spaß wirklich nur ganz klitzeklein gewesen ist, woraufhin Ajax in schallendes Gelächter ausbricht.

     «Sicher, dass es nur ein klitzekleines bisschen war?», hakt er nach, wobei seine Augen belustigt funkeln.

     Grinsend nicke ich. «Definitiv. Denn im Gegensatz zu dir, mein Lieber, besitze ich noch so etwas, das sich Anstand nennt. Ist dir dieser Begriff überhaupt noch geläufig?»

     «Im Gegensatz zu Lovis lässt sich mein Wortschatz nicht nur auf einen Teelöffel beschränken», antwortet der Franzose schmunzelnd. «Also ja, der Begriff ist mir bekannt.»

     «Stimmt, bei dir ist es immerhin ein Esslöffel», erwidere ich lachend und weiche seinem Arm aus, der nach mir schlägt.

[...]

     Mit einem kräftigen Tritt beschleunige ich mein Longboard ein weiteres Mal und rase hinter Mathea auf der Straße her, die nicht allzu befahren ist. Ihre schwarzen Haare wehen im Fahrtwind und die untergehende Sonne taucht ihre Gestalt in funkelndes Gold, sodass ich das Gefühl habe, mich in einem amerikanischen Young Adult Film zu befinden.

     Bewundernd lasse ich meinen Blick über die Landschaft wandern und bin verdammt dankbar, dass wir bis jetzt fast jeden Abend einen atemberaubend schönen Sonnuntergang zu Gesicht bekommen habe.

     «Wenn ich hier und jetzt sterben würde, gäbe es definitiv nichts zu bereuen», rufe ich Lovis zu, der aufgeholt hat und nun neben mir über den geteerten Weg jagt.

     Er lacht und schenkt mir einen raschen Blick von der Seite, bevor er seine Augen wieder nach vorne richtet. «Na dann. Soll ich dich in den Graben schubsen?»

     Ich grinse. «Wenn das tust, sorge ich dafür, dass du ab jetzt jede Nacht um dein Leben fürchten musst.»

     «Das tue ich doch sowieso schon», erwidert mein Bruder glucksend und beschleunigt, sodass er mich überholt.

     Seine übergroßer Hoodie flattert wie seine Haare im wehenden Wind und dennoch ist er nicht schnell genug, um Mathea einzuholen. Das schwarzhaarige Mädchen hat bereits einige Meter zwischen sich und die Gruppe gebracht und ich kann mir ihr breites Lächeln vorstellen, mit dem sie Richtung Horizont jagt.

     Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Ajax zu mir aufschließt. Eine Hand hat er in der Tasche seiner Jogginghose vergraben, die andere hält seine Mateflasche, die noch zur Hälfte voll ist. Seine hellen Locken sind zerzaust und sein T-Shirt wird, wie Lovis' Hoodie, vom Fahrtwind aufgebauscht.

     Als er den Kopf dreht und sich unsere Blicke treffen, schenkt er mir ein strahlendes Grinsen, welches die Grübchen entblößt, um die ich ihn schon immer beneidet habe.

     «Mathea will uns wohl loswerden», ruft er über das beständige Rauschen hinweg und ich nicke lachend, während ich mich wiederholt mit dem Fuß vom Boden abstoße.

     «Scheint so», erwidere ich mit lauter Stimme, damit er mich verstehen kann.

     Ajax grinst und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Ich winke lachend in die Kamera und wende den Kopf ab, als er Lovis und Mathea filmt, die davon gar nichts mitbekommen.

     Ich betrachte die vorbeiziehenden Autos, deren Beifahrer gelegentlich irritierte Blicke aus dem Fenster werfen und uns aus großen Augen betrachten.

     Amüsiert winken Ajax und ich ihnen und freuen uns wie kleine Kinder, wenn der Gruß erwidert wird. Wenn dies nicht der Fall ist, beschwert Ajax sich jedes Mal lauthals, als würde er hoffen, man würde seinen Frust hören, was selbstverständlich nicht möglich ist.

     «Den mag ich!», ruft er lachend und deutet mit dem Finger auf einen jungen Mann, der unseren winkenden Gruß mit der Pfote seines Labradors erwidert.

     Prustend stimme ich in sein Gelächter ein und halte zwei Daumen in die Höhe, woraufhin auch der Mann ebenfalls zu lachen beginnt, bevor das Auto außer Sichtweite ist.

     «Das sind die richtigen Menschen im Leben», behauptet Ajax grinsend.

     «Vermutlich», sage ich schulterzuckend und richte meine Augen wieder auf den Weg, während der Franzose neben mir weiterhin ungerührt vorbeifahrenden Autos zuwinkt.

     Kichernd beobachte ich ihn. Sein Gesicht strahlt, wann immer sich jemand entscheidet, den Gruß zu erwidern, und seine Haare funkeln wie Honig in der warmen Abendsonne, deren Untergang den Himmel in eine wunderschöne Farbpalette getaucht hat.

     Mit einem leisen Seufzen betrachte ich den endlosen Horizont, der von kräftigen Rot- und Violetttönen durchzogen ist, während nur vereinzelt einige Wolkenfetzen das Farbspiel durchqueren. Es ist ein Film, nur echt. Denn das ist unser Leben und es ist wunderschön. Und die Wunder der Natur machen es sogar noch ein Stückchen schöner.

     In der Ferne fällt mir Matheas Gestalt ins Auge, welche zum Stillstand gekommen ist. Irritiert beschleunige ich und ernte einen verwirrten Ausruf Ajax', bevor auch dieser an Geschwindigkeit aufnimmt und wir gemeinsam Mathea und Lovis entgegenrasen, welche beide am Straßenrand stehen und auf uns zu warten scheinen.

     «Wozu die Pause?», erkundige ich mich neugierig, nachdem ich angehalten habe.

     «Frag das nicht mich», antwortet Lovis bloß schulterzuckend.

     Mathea schenkt uns bloß ein geheimnisvolles Lächeln und deutet dann mit dem Kopf Richtung Wald, während sie ihr Skateboard in die Hand nimmt und zielstrebig der Dunkelheit entgegenmarschiert.

     «Sie ist offiziell wahnsinnig geworden», murmelt Lovis fassungslos und auch ich blicke meiner besten Freundin unentschlossen hinterher.

     Nach einigen Metern bemerkt diese unser gemeinschaftliches Zögern und dreht sich um. Das Licht wird immer dunkler, aber noch ist unsere Umgebung gut erkennbar, abgesehen von dem Fremden, was zwischen den Bäumen im Verborgenen liegt.

     «Kommt ihr jetzt, oder was?», ruft Mathea uns amüsiert zu.

     «Du merkst aber schon, was du da gerade vorhast?», erwidert Ajax mit hochgezogenen Augenbrauen, wobei man deutlich spürt, dass er nicht wirklich scharf darauf ist, Matheas Weg zu folgen. «In einen dunkeln Wald laufen? Einfach so.»

     Diese verdreht seufzend die Augen, bevor sie sarkastisch antwortet: «Nein, ich dachte, ich suche gerade nach einer Zeitschleife, um den besonderen Kindern einen Besuch abzustatten.»

     «Ich nehm' die besonderen Kinder», murmelt Ajax und beobachtet Mathea, welche einfach weiterläuft.

     Ich verziehe das Gesicht. «Was tut man nicht alles für ein bisschen Nervenkitzel.»

     Mit einem tiefen Atemzug packe ich mein Longboard und beeile mich, Mathea zu folgen, welche mir ein zufriedenes Grinsen schenkt.

     «Das ist eine verdammt dumme Idee», merke ich an und werfe dem schwarzhaarigen Mädchen einen bösen Blick zu, nachdem ich zu ihr aufgeschlossen habe.

     «Jetzt stell dich mal nicht so an.»

     Zu meiner Erleichterung schlägt sie den Weg am Waldrand entlang ein, welcher uns einen Berg hinaufzuführen scheint, und marschiert nicht geradewegs in die Dunkelheit zwischen den Bäumen hinein. Da sich die bevorstehende Waldwanderung bei Nacht dann doch als Falschmeldung herausstellt, packt nicht nur mich die Neugierde, sondern auch Lovis und Ajax, welche uns, wenn auch etwas langsamer und mit leisem Gemecker, zu folgen beginnen.

     «Mathea. Wo. Willst. Du. Hin?», ruft Lovis und an dem leichten Zittern in seiner Stimme erkennt man gut, dass er sich keineswegs wohlfühlt.

     «Keine Sorge, ihr werdet es lieben», erwidert das schwarzhaarige Mädchen knapp und beschleunigt ihre Schritte, wodurch Ajax, Lovis und ich ein einstimmiges genervtes Grummeln von uns geben. «Und jetzt hört auf zu meckern, ihr Angsthasen. Sonst reißt ihr die Klappe doch auch immer so weit auf und prahlt mit eurem Mut.»

     «Fake News», behauptet Lovis mürrisch, woraufhin Mathea zu lachen beginnt.

     Der Weg wird steiler und die aufkommende Dunkelheit macht es etwas schwieriger, den nächsten Schritt voraussehen zu können, doch keiner von uns kommt auf die Idee, sein Handy herauszuholen.

     «Das ist doch Wahnsinn», flüstert mein Bruder, nachdem er zum ungefähr fünften Mal ausgerutscht ist, und ich grinse, obwohl ich mich beinahe seiner Meinung anschließe.

      Aber dann scheinen wir am angekommen zu sein, denn der höchste Punkt des kleinen Berges ist erreicht und Mathea hält in ihrer Bewegung inne. Neugierig trete ich neben sie und bei dem Blick, der sich uns bietet, bildet sich wie von selbst ein breites Lächeln auf meinen Lippen.

      Wissend dreht meine beste Freundin ihren Kopf in meine Richtung und stupst mich kichernd mit dem Ellenbogen an. «Hab' ich zu viel versprochen oder was?»

     «Du hast gar nichts versprochen», erinnere ich sie lachend. «Aber alles, was du hättest versprechen können, würde an das hier nicht mal ansatzweise rankommen.»

     Meine Augen wandern über die Landschaft, die sich vor uns erstreckt. Der schwarze Mantel der Nacht wird von den vielen Lichtern der Häuser und Autos durchbrochen, die wie Sterne am Himmel glitzern und funkeln. Die Dunkelheit wird immer greifbarer, denn die Sonne ist am Horizont untergetaucht und hat uns zurückgelassen.

     «Nicht schlecht, muss man schon sagen», meldet Ajax sich zu Wort und tritt an Matheas Seite.

     Wortlos stimme ich ihm zu, während ich die Schönheit unserer Welt bewundere. Sicherlich passen die hellen Lichter der Dörfer und Kleinstädte nicht in die atemberaubende Natur, aber gerade in diesem Moment verschwende ich nicht einen Gedanken daran. Einzig und allein das Gefühl, als würden wir im Weltraum treiben, füllt meinen Körper mit glitzerndem Staunen und funkelnder Dankbarkeit, die mit den Lichtern unserer Umgebung um die Wette zu strahlen scheint.

     Unser Schweigen treibt das Rauschen der befahrenen Straßen an unsere Ohren, vermischt mit dem leisen Zirpen einiger Grillen in der abendlichen Dunkelheit, die noch genug Licht durch ihren Mantel hindurchlässt, dass wir die tiefschwarzen Berge um uns herum erspähen können. Ihre Köpfe verschwimmen mit dem Himmel, der von unzähligen Sternen durchzogen ist. Jede Sekunde taucht ein neuer auf, der das Schwarz durchstößt und seinen Platz unter seinen Gleichgesinnten einnimmt.

      Gedankenverloren lege ich den Kopf in den Nacken, während eine warme Brise über uns hinwegzieht und die Blätter zum Rascheln bringt.

     «Seltsam, wie schön die kleinen Dinge doch sind», flüstert Mathea mit wehmütiger Stimme. «Und wie weit weg man sich fühlen kann, obwohl man mittendrin steht.»

     «Ich mag das Gefühl», gesteht Lovis mit der gleichen gedämpften Stimme. «Du bist ein Teil von allem und dennoch nichts. Aber ein gutes Nichts.»

     «Es gibt ein gutes Nichts?», fragt Ajax leise lachend.

     Wir alle starren mittlerweile in den Nachthimmel und beobachten, wie immer mehr Lichter auf unserem Dach erscheinen, indem sie sich gegen die Dunkelheit behaupten.

     «Ja, das gibt es», erwidert mein Bruder und er zögert kurz, bevor er weiterspricht: «Ein gutes Nichts bedeutet, dass du wichtig bist. Dass du Dinge verändern kannst, wenn du es wirklich willst. Dass du nicht nichts bedeutend bist. Aber gleichzeitig bist du frei und du kannst gehen, wann immer du willst. Niemand hält dich auf, weil deine Taten am Ende des Tages doch so unbedeutend sind, dass sie nichts verändern werden. Das ist ein gutes Nichts.»

     «Ich bin gerne ein gutes Nichts», sagt Mathea und wir lachen leise.

     Ich mache zögerlich einige Schritte nach vorne, bis ich am Abhang stehe. «Man kann die Lichter zählen. Jedes einzelne. Alles strahlt so klar, dass man es mit dem bloßen Auge auseinanderhalten kann.»

     «Viel Spaß beim Zählen, wir holen dich dann in zwei Wochen wieder ab», witzelt Lovis, während Ajax leise sagt:«Eins, zwei, drei, ...»

____

[author's note]

dieses kapitel zu schreiben war wahrlich ein kampf lmao. umso glücklicher bin ich dass es jetzt endlich fertig ist hahah

btw hat noch wer die insel der besonderen kinder gelesen? hab die reihe geliebt und vor kurzem den vierten band geschenkt bekommen aber komme nicht zum lesen :(

(und bitte sagt mir dass ich nicht die einzige bin die den geruch von diesen büchern abgöttisch liebt hahahah)

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