🌊Der Stern des Meeres🌊*Watt...

By Thyrala

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1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie be... More

Personenverzeichnis
Vorwort
Schiffbruch
Gestrandet
Ein neues Leben
Gefährliche Wattwelt
Das Gold der Uthlande
Der Blanke Hans
Schicksal
Der Gast
Eilien
Unterricht
Matt
Der Luftgeist
Absturz
Zehn Tage
Die Strafe
Aussprache / Amrum
Freunde
Strandjer
Pläne
Ein Geheimnis
Abschied
Sehnsucht
Bleiben oder gehen
Hindernisse
Abfahrt
Leinen los!
Von Bilge und Back
Der Quartiermeister
Von Gesangbuch und Knoten
Hoch hinaus
Gegenwind
Der Teufel an Bord
Die schwarze Liste
Durchhalten
Der Geist
Kräftemessen
Waffenstillstand
Atempause
Rivalen
Der Schwur
Von Kanonen und Schwarzpulver I
Von Kanonen und Schwarzpulver II
Mann gegen Mann
Gerrit
Drill und Seepest
Türkisblau
Hitze
Vorzeichen
Im Auge des Sturms I
Im Auge des Sturms II
Der neue Navigator
Konfrontation
Nichts als die Wahrheit
Feuer und Rauch

In geheimer Mission

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By Thyrala

Roluf zog Lorena beiseite. „Ich hab' sie!", sagte er triumphierend. 

„Oh, wie schön ...", meinte sie gedankenverloren und suchte mit den Blicken das Deck ab. Wo war Janko bloß? Er war nirgends zu sehen - war er aufgeentert? Sie spähte nach oben ins Rigg. Nichts ... sie blickte nach unten ... wieder nichts! Und Cornelis ... war auch verschwunden.

Alle beide fort! Wie in Luft aufgelöst.

War Janko fortgeschleift worden? In die Bilge etwa, angekettet, blutend, und der teuflische Cornelis stand über ihn gebeugt, hohnlachend, wie er so vermessen sein konnte, ihm die Stirn zu bieten?! Die Katze sauste nieder ... Schlag auf Schlag folgte ... auf seinen Rücken, Beine, Arme, riss tiefe Wunden ins Fleisch ...

Ihr wurde speiübel bei dem Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, um die Vision loszuwerden, und platzte heraus: „Sag' mal, hat Janko einen Bordkoller gekriegt, dass er ausgerechnet Cornelis so reizen muss?"

Roluf zuckte zurück. „Äh ...?"

Lorena tat ihre Heftigkeit zwar leid, doch sie wollte es wissen. „Glaubst du, dass Janko endlich Ruhe vor Cornelis hat? Dass sich die beiden miteinander vertragen?"

Roluf schluckte erst einmal. Dann grinste er fröhlich. „Das hat Janko gut gemacht, ne? Uns Amrumer kriegt Cornelis nicht klein."

„Ja, aber ... ist jetzt alles gut, kommt noch was hinterher, oder was hatte Cornelis' Grinsen zu bedeuten? Wird er ihn doch noch bestrafen?" Sie schrie es beinahe, doch zum Glück blies der Passat gerade so heftig in die Segel, dass sie erst eine Windpause abwarten mussten, um sich verständlich zu machen.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das gewiss nicht, da kannst du ganz beruhigt sein - er hat gelächelt, dann ist es in Ordnung."

„Das sah aber aus, als fletschte er die Zähne!"

Er legte beteuernd die Hände auf die Brust. „Du kannst es mir glauben: Er hat wirklich gelächelt. So lächelt er immer, also, wenn er denn mal lächelt."

Sie blieb skeptisch. „Hm. Es sieht aber aus wie eine Drohung."

„Cornelis kann nun mal nicht anders lächeln. Das einzig Gute an ihm ist, dass man ihm die Gefühle vom Gesicht ablesen kann. Meistens jedenfalls. Wenn er nicht grinst, hat man schlechte Karten ..."

„Also immer", sagte sie lakonisch.

„So kommt das ungefähr hin. Janko dagegen hat's geschafft, ihn zu beeindrucken."

„Ehrlich?"

„Ehrlich!"

„Ja ... dann ... ach, nun bin ich beruhigt." Sie stieß einen Seufzer aus. „Danke, du hast mir sehr geholfen, ich hatte schon gedacht ... ach, jetzt ist alles gut. Entschuldige, dass ich dir gerade nicht zugehört habe."

„Na, bei Cornelis kann man schon Muffensausen kriegen, das verstehe ich."

„Ich frage mich, warum er so hart mit anderen und mit sich selbst ist ... weißt du, woran ich bei ihm immer denken muss?"

Roluf hob fragend die Schultern.

„An das alte Gesetz der Uthlande", fuhr sie fort. „'Erst der Deich, dann das Land, und dann Gott und die Menschen'. - Für Cornelis ist das Schiff der Deich ... sein Deich, den es zu schützen gilt, was immer es auch kostet."

Er sog überrascht die Luft durch die Zähne. „Uuh! Du hast es genau erkannt. Darin ist er kompromisslos. Andererseits schützt das auch unser Leben."

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Aber nur solange wir nützlich sind, solange bleiben wir am Leben. Kurz gesagt: zuerst das Schiff, dann die Besatzung." - In ihr klang ein leiser Ton an. Eines Tages würde sie sich an dieses Gespräch erinnern. Nun aber zu Roluf ... der Arme wartete schon die ganze Zeit darauf, seine Neuigkeit loswerden zu können. Sie lächelte ihn auffordernd an. „So, das haben wir geklärt. - Was wolltest du vorhin sagen? Du hast - was ...?"

Er blinzelte irritiert. „Wie - was - was ...? - Ach so, ich hab' die Lösung. Und die Stelle."

„Das ist ja wunderbar! Und welche?" Sie verstand überhaupt nicht, worauf er hinauswollte.

Er streckte stolz die Brust heraus. „Den Posten als Botteliersmaat!"

„Oh. Du bist jetzt ...?"

„Der Maat des Proviantmeisters. Seine rechte Hand."

„Du bist befördert worden? Zum Unteroffizier? Gratuliere!", rief sie aus.

Einige Köpfe fuhren herum, Roluf errötete ein wenig. Sie warteten, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder gelegt hatte und sie nicht weiter mehr beachtet wurden.

Er räusperte sich. „Nun, ich fahre ja auch schon länger zur See. Sjard würde einen guten Steuermannsmaat abgeben, vielleicht kommt auch für ihn einmal die Gelegenheit. Doch eigentlich wollte ich auf etwas anderes hinaus .... du hast doch gesehen, wie ich mit dem Bottelier gesprochen habe?"

Sie überlegte rasch. „War es, bevor der arme Kerl vom Mast stürzte?"

„Genau, das war noch vor dem Unfall! Aber was ich eigentlich meinte ... jetzt hab' ich sie."

„Das ist gut - aber was denn nun?" Sie war kurz davor, ihn beim Kragen zu packen und zu schütteln wie einen Apfelbaum. Diese Friesen waren alle gleich! Am liebsten beschränkten sie sich auf halbe Sätze, in der Hoffnung, dass ihr Gegenüber alles sämtlich und vollständig verstand! Dabei war Roluf normalerweise recht gesprächig; ausnahmsweise nur heute nicht.

Seine Augen leuchteten wie die Schiffslaternen bei Nacht. „Die Lösung", wiederholte er so leise, dass sie meinte, plötzlich schwerhörig geworden zu sein. Sie zwang sich zur Ruhe, fragte ebenso einsilbig: „Wofür?"

„Für Fenja."

Sie riss die Augen auf. FENJA! Das hatte sie jetzt am allerwenigsten erwartet. Es gab einen Hoffnungsschimmer, Fenja musste nicht mehr länger unten in der dunklen Bilge ausharren! Beinahe wäre sie ihm vor Freude um den Hals gefallen, stattdessen atmete sie tief durch, bevor sie zum Sprechen ansetzte. „Oh Roluf, du bist der Beste! Meinst du wirklich? - Und wie sieht die Lösung aus?"

Er stemmte die Arme in die Seiten und tat beleidigt. „Dachte schon, das würdest du nie fragen."

„Na hör' mal, merkst du nicht, wie oft ich nachfragen muss, bis du dich erklärst?"

Er setzte ein schiefes Grinsen auf. „Reine Vorsichtsmaßnahme, der Wind trägt weit. Sonst kann ich mich gleich vor den Großmast stellen und Reden schwingen."

„Das brauchst du gar nicht. Sag' mir jetzt nur, was du dir für Fenja ausgedacht hast ... bitte!" Ihre Stimme bebte vor Ungeduld.

„Bitte sehr ..." Diesmal holte er weiter aus. Zufällig habe er aufgeschnappt, dass ein Ersatzmann für den Posten gesucht wurde. Der ehemalige Maat litt seit langem unter einem bellenden Husten; als man ihn fiebernd auf den Mehlsäcken liegend vorgefunden hatte, war es der Bottelier leid und schleppte den Mann zum Schiffsarzt. Nach der Untersuchung hatte ihm dieser umgehend den Aufenthalt im Proviantlager verboten, mit der Begründung, dass Kranke möglichst von den Nahrungsvorräten ferngehalten werden sollten.

„Der Shipdoctor gefällt mir", warf sie ein. „Vielleicht ist seine Vorsicht übertrieben, aber das ist gewiss nicht verkehrt."

„Bin derselben Meinung. Gerade beim Mundvorrat darf man nicht nachlässig sein, da wird es noch genug Probleme geben. - Aber zurück: Ich nutzte die Gelegenheit und bot dem Bottelier meine Hilfe an. Es dauerte zwei Tage, dann hatte ich seine Zustimmung. Ich glaube sogar, der Backsmeister war nicht ganz unschuldig daran und hat für mich gesprochen."

„Tatsächlich? Bestimmt ist das ein Bestechungsversuch. Er möchte wohl zum Dank bessere Speisen oder größere Portionen bekommen, was?"

„Hm, Joris mag zwar ein Holzklotz sein, aber das traue ich ihm nicht zu. Dass ich für den kranken Maat einspringe, ist eine Ehre, denn dieser Posten wird nur an vertrauenswürdige Matrosen vergeben. Sonst dürfen den Proviantraum nur der Bottelier und seine Gehilfen, die Raumgasten, betreten, außerdem noch der Böttcher, wenn ein Fass undicht ist."

Sie nickte nachdenklich. Man stelle sich vor, die Vorräte würden für das eigene Wohl geplündert! Oder aus Rache verunreinigt. Wirrköpfe hätten da ein leichtes Spiel und konnten den größten Schaden anrichten. „Ich hoffe mal nicht, dass Fenja an den Säcken herumpickt", sagte sie. „Da werde ich aufpassen müssen."

Er musste lachen. „Nur gut, dass sich die Kornkammer vorne im Bug befindet. Nicht auszudenken, wenn es ihr gelänge, dort hineinzufliegen. Für sie wäre es das reinste Hühnerparadies. Aber wir haben ausreichend Hühnerfutter da, davon könnten wir etwas abzweigen, das merkt keiner."

„Das trifft sich gut, ich habe nicht mehr viel, obwohl ich reichlich mitgenommen habe. Notfalls bekommt sie Zwieback von mir, das krümele ich dann klein."

„Wir legen alle zusammen und geben von unserem Zwieback was an Fenja ab. Du brauchst dir nichts vom Munde abzusparen."

„Ah, danke, das ist lieb von euch."

Er runzelte die Stirn. „Jetzt bleibt die Frage, was tun wir, wenn Fenja entdeckt werden sollte? Schlage vor, wir sagen einfach, dass sie zu den anderen Hühnern oben an Deck gehört, aber nicht Wind und Wetter ausgesetzt werden darf ..."

„... weil sie empfindlicher ist ...", spann sie seine Idee weiter, „und ein besonderes Huhn ist, das erkennt man schon an der Borte."

„Hm, das ist gut! Wer dann immer noch fragt, erkläre ich, es geschah auf höhere Anweisung."

„Na, und auf wen willst du dich da berufen?"

„Ich habe da eine Hoffnung ...", deutete er dunkel an.

„Hoffnung? So ... dann hoffe ich mal, dass wir damit durchkommen."

Er rieb sich das Kinn. „Hoffnung lässt nicht untergeh'n! - Das Wichtigste ist, ihre Entdeckung solange wie möglich hinauszuzögern, und dafür kann ich sorgen. Als Maat bin ich nicht starr an den Wachdienst gebunden, ich habe mehr Freiheiten. Der Proviantmeister hat genug zu tun; er muss die täglichen Listen für die Kombüse erstellen, die Rationierung nachhalten, den Zustand des Trinkwassers überwachen und wöchentlich zum Rapport beim Schipper vorsprechen. So bleibt es größtenteils mir überlassen, das Vorratslager in Ordnung zu halten. Und da du regelmäßig den Bilgeraum zu kontrollieren hast, machst du dich nicht verdächtig, wenn du das Unterdeck aufsuchst. Wenn wir Fenja freilassen, schicke ich die Raumgasten einfach hinaus. Oder sie können die Kornkammer ein bisschen ausfegen, hehe. Den Käfig verstecken wir gut, und wenn's brenzlig wird, muss Fenja eben zurück in die Bilge, was ja kein Problem ist, da sich der Kielraum direkt unter dem Proviantlager befindet."

Sie überlegte. Das klang alles durchdacht. Es war ein Wagnis, aber das war es vorher auch. Ich werde alles tun, um Fenja vor dem Kochtopf zu bewahren! Im Geiste sah sie sich schon bei Nacht und Nebel mit dem Käfig auf Zehenspitzen hin- und herhuschen ...

Sie gab sich einen Ruck. „Also gut, Roluf, wann beginnen wir mit Fenjas Umzug?"

Sie überstürzten nichts; zuerst schaffte Roluf Platz zwischen den Gerätschaften, Fässern und Säcken, rückte hier und dort, bis eine passende Lücke entstanden war. Anschließend musste die Freiwache abgewartet werden und ein Zeitpunkt, in dem die Mannschaft hinreichend zu tun hatte und Lorenas Bilgedienst begann. 

Der geeignete Moment fand sich schon im Laufe des übernächsten Tages. Der Wind änderte ein wenig die Richtung und sorgte für genügend Ablenkung. Etliche Seeleute waren mit dem Segelmanöver beschäftigt und die übrigen mit Essen, Schlafen und Ausbesserungsarbeiten. 

Die Bären-Back handelte unverzüglich und stieg in die Bilge hinab. Sjard und Roluf nahmen den verhüllten Käfig zwischen sich und trugen ihn über die Leiter hinauf in das höhere Deck, an den Wasserfässern vorbei in die Proviantkammer, währenddessen Janko und Ove für Rückendeckung sorgten. 

Es gab nur eine Schrecksekunde: Just, als sich Roluf und Sjard mit Fenja mitten auf der Leiter befanden, gellte ein Schrei: „Alle Mann an Deck!" – diesem Befehl war unbedingt und sofort nachzukommen, sonst drohte ein Stockschlag vom Profos oder die Katze von Cornelis – und damit die Entdeckung!

Die Freunde gerieten ins Stocken ... Sjard wollte vor, Roluf zurück – der Käfig schwankte, kippte leicht zur Seite ...

.. zum Glück folgte in der nächsten Minute der Widerruf! Einmal kurz durchgeatmet, und sie hatten sich und ihre zitternden Hände wieder in der Gewalt, die kostbare Last fest im Griff und waren zügig weitergestiegen. Nicht auszudenken, wenn ...!

Lorena und Roluf nahmen den Käfig in Empfang und platzierten ihn in die vorgesehene Nische. Indes bezog Janko mit den anderen oben vor der Großluke Wachposten, um Störenfriede fernzuhalten. In ihren freien Stunden konnten sie tun und lassen, was sie wollten, auch wenn sie nur herumstanden und ein Schwätzchen hielten.

Fenjas neues Domizil gefiel Lorena ausgesprochen gut; die Luft war trockener und angenehmer; durch die Großluke strömte ausreichend Licht und Luft herein. In dem Halbdunkel verblassten die vielen Kisten und Kästen zu schemenhaften Umrissen. Die meisten von ihnen waren ohne Inhalt; auf dem Rückweg würden sie mit Handelswaren und Gewürzen gefüllt sein.

Lorena nickte zufrieden. „Der Käfig sieht aus wie eine beliebige Vorratskiste. Und auch Fenja wird kaum auffallen, wenn sie irgendwo herumsitzt."

„Sind so gut wie unsichtbar ", befand Roluf, der den Sitz der Stricke überprüfte, die Knoten neu knüpfte und festzog. Nun stand der Käfig fest und sicher vertäut.

Endlich kam der spannende Augenblick: Sie schlug den Seesack halb nach oben, so dass die Tür sichtbar wurde und öffnete sie ...

Fenja saß direkt dahinter und starrte sie durchdringend aus ihren orangefarbenen Augen an, als wenn sie fragen wollte: Seid ihr endlich fertig mit dem Geschaukel? - dann plusterte sie sich auf, ruckte neugierig mit dem Kopf nach allen Seiten ... und gluckste zufrieden. Ein Hüpfer - und sie war aus dem Käfig heraus. Ahnte sie, dass sie sehr, sehr vorsichtig sein musste? Sie trippelte erst herum, bevor sie hochflog und aufpasste, dass sie mit den Flügeln nirgendwo aneckte. Währenddessen hielt sie wohlweislich den Schnabel. Es herrschte Ruhe in der Vorratskammer, wie es sich gehörte, so konnte niemand Verdacht schöpfen. Kein Bottelier, der plötzlich auftauchte und nachsehen wollte, was das Gegacker zu bedeuten hatte.

Lorena beobachtete sie so aufmerksam wie eine Glucke, die über ihr Küken wacht. Gut, Fenja, weiter so! Lerne alles kennen. Und nichts zerkratzen und keinen Dreck machen, sei vorsichtig! – Daneben gewahrte sie, wie ausklügelt die Ladung gestapelt, gesichert und gleichmäßig über die gesamte Fläche des Raumes verteilt war. Jeder Zwischenraum war mit Säcken aufgefüllt, die Fässer bildeten eine geschlossene Reihe von Wand zu Wand. Alles zu dem Zweck, dass nichts durcheinanderrollte und das Schiff in Schlagseite bringen konnte. Kam noch ein hoher Seegang hinzu, bestand die Gefahr des Kenterns, daher oblag die Verantwortung für eine korrekte Lagerung dem Obersteuermann - und somit war dieser der Einzige, der Fenjas Versteck im wahrsten Sinne des Wortes auffliegen lassen konnte.

An einem Holzpfosten war eine lange Liste angeschlagen. Neugierig las sie, was dort notiert stand: „Dreißig Fässer Zwieback, zwanzig Fässer Weichbrot, je dreißig Säcke Erbsen, weiße und graue ..."; danach folgte, wieviel Mehl, Butter, Grütze, Sirup, Essig und Öl vorrätig war, dazu die genaue Menge an Käse, Speck, Pökel- und Rauchfleisch wie auch der unverzichtbare Stockfisch, und schlussendlich war die Anzahl der Fässer mit Wasser, Branntwein und Wein vermerkt.

Besonders der letzte Satz hatte es ihr angetan. „Guten Brandewein for die Officiers, ander Brandewein for das Volck", las sie. Aha! Der andere Branntwein war der - vermutlich billigere -, der an die gewöhnlichen Matrosen ausgegeben wurden. Immerhin war es gar kein so übles Gebräu. - Plötzlich kam ihr Eilien in den Sinn. Ohne die liebe Freundin hätte sie diese interessante Liste nicht lesen können. Ob sie sich irgendwann wiedersehen würden? Sie drehte sich zu Roluf um, der sein neues Arbeitsgebiet inspizierte. „Kannst du eigentlich lesen?", fragte sie.

„Ein wenig. Wir hatten Unterricht beim Dorfpfarrer auf Amrum. Beim Schreiben bin ich leider aus der Übung, ich kann nur meine Unterschrift kritzeln."

Sie lachte. „Geht mir genauso. Es ist lange her, dass ich eine Schreibfeder angefasst habe." Da fiel ihr etwas Wichtiges ein. „Übrigens Feder – sieh' bitte nach, ob irgendwo Federn herumliegen. Das wäre verräterisch."

„Mach' ich."

Fenja hatte ihren Rundflug beendet und trippelte, den Boden emsig absuchend, neben ihr her. Es sah aus, als nahm sie Witterung auf.

Fenja, das Spürhuhn, dachte Lorena und schmunzelte. Am liebsten hätte sie laut gejubelt. Der heikle Plan war aufgegangen. Unter Rolufs Aufsicht konnte Fenja recht oft die Freiheit genießen und war zudem sicherer untergebracht als in der Bilge, wo sie immer der Gefahr ausgesetzt war, bei Unwetter im ansteigenden Wasser den Tod zu finden. Eine große Sorge weniger - diese ständige Angst, zu spät zu ihrer Rettung zu kommen.

Aber es gab da noch etwas, was sie froh stimmte: das Zusammentreffen mit Janko, nachdem die Umzugsaktion bewältigt war. Sjard, Roluf und Ove waren schon nach oben gegangen, nur er war am Fuß der Leiter stehengeblieben, hatte sie verschmitzt angelächelt und auf den Bernsteinanhänger an seinem Hals getippt. Bis auf den verkrusteten Schmiss auf der Wange, wo ihn die Katze unlängst getroffen hatte, schien es ihm blendend zu gehen. Schlagartig hatte sich ihre Besorgnis gelegt. Da hatte ihr die Fantasie ja einen bösen Streich gespielt! Von wegen, er läge hilflos in der Bilge angekettet und würde ausgepeitscht. – Sie hatte Janko angelacht und gleichfalls ihren Bernstein berührt. Zum Abschied noch ein verschwörerischer Blickwechsel, dann war er gegangen.

Sie war wie befreit. Alles war gut. Nun konnte sie zuversichtlich den Blick nach vorne richten, auf das Ziel ihrer Reise, die karibische See. Ob das Meer dort wirklich so „herrlich blau und klar bis in die Tiefe" war, wie Roluf gesagt hatte? Dazu die „wunderschönen Inseln mit Palmen"? – Oh, sie wollte sie so gerne sehen, diese sonderbaren Bäume!

Nur ein Schatten blieb auf ihrer Seele wie eine drohende Gewitterwolke am Horizont.

CORNELIS.

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