WAS UNS HIGH MACHT | ✓

nebelschwere tarafından

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... Daha Fazla

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

14 | Gedankenflüge

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nebelschwere tarafından

     ... oder wie wir Zale ein Kartoffelkochbuch schenkten.

     ABSCHIEDE TUN WEH. Zumindest dieser.

     Wir stehen an den Gleisen und ich glaube, ich könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen. Aber das bringt uns nicht weiter, also reiße ich mich, wie der Rest von uns, zusammen und beobachte die vorbeirauschenden Züge aus gewisser Distanz.

     Lovis hat heute noch kein einziges Lächeln fertiggebracht und es zerreißt mir das Herz, ihn so verloren in der Menschenmasse zu sehen. Sein Blick gilt dem grauen Boden, auf dem sich einige Zigarettenstummel finden lassen, obwohl das Rauchen in diesem Teil des Bahnhofs nicht gestattet ist.

     «Mein Zug kommt in zehn Minuten», teilt Zale uns mit, wobei ein kleines Lächeln auf seinen Lippen liegt.

     Ich versuche, es zu erwidern, aber es fühlt sich nicht richtig an.

     Stattdessen blicke ich ebenfalls zu Boden und betrachte mein Board und den Rucksack, die ich abgesetzt habe, da vor allem letzteres ein ausgesprochen großes Gewicht vorzuweisen hat.

     «Gib's zu: Wir waren verdammt gute Wegbegleiter», unterbricht Lovis schließlich die erschlagende Stille und bringt ein knappes Lächeln zustande.

     Auf Zales Gesicht bildet sich der Ansatz seines Grinsens. «Ohne Zweifel. Vermutlich die besten, die ich je haben werde.»

     Ich blinzle. Es tut weh, den Briten gehen zu lassen. Und es fühlt sich falsch an, sich jeden Moment von ihm verabschieden zu müssen. Ich würde ihn bitten, länger bei uns zu bleiben, aber er hat seine Entscheidung bereits getroffen. Nachdem wir heute früh gemeinsam unsere Sachen gepackt haben, ging es für die ganze Gruppe zum Bahnhof. Ania begleitet uns, Elin hat sich schon verabschiedet. Anschließend hat der Brite ein Ticket für den nächsten Fernzug gekauft und nun stehen wir am Gleis und warten.

     Es herrscht Windstille und das passt genau so wenig, wie die goldenen Strahlen der Sonne auf unseren Gesichtern. In gewisser Weise nehmen sie den Kanten ihre Schärfe und lassen sie runder erscheinen.

      «Wir waren nicht richtig skaten», bemerkt Mathea und ihre Stimme klingt wehmütig.

     Ich beobachte, wie Ania sie besorgt ansieht und ihren Kopf anschließend gegen die Schulter des schwarzhaarigen Mädchens lehnt.

     «Ich schätze, das müssen wir nachholen, sobald wir uns wiedersehen», erwidert Zale schmunzelnd.

     «Sehen wir uns denn wieder?», will mein Bruder wissen, während sein Blick über den gefüllten Bahnhof schweift.

     Zale lacht leise. «Ich meine, ich könnte euch mal besuchen kommen. Oder ihr kommt nach England. Irgendwann.»

     Der Gedanke macht mich glücklich. Ich kann mir vorstellen, wie wir Tee trinkend auf einer kleinen Terrasse sitzen und den Stimmen der Stadt lauschen. Wie Mathea sich über den Regen beschwert, während Lovis und ich in den Pfützen herumspringen. Wie Ajax ein Foto nach dem nächsten macht und uns damit alle in den Wahnsinn treibt, obwohl wir es letztendlich doch lieben, uns seine Aufnahmen später wieder anzusehen.

     «Wirst du denn zurückgehen?», erkundigt Ajax sich und Zale seufzt leise.

     Für einen kurzen Moment sagt er nichts, sondern blickt zu den Gleisen, auf denen vereinzelt Züge zum Stillstand gekommen sind.

      «Wahrscheinlich», antwortet er schließlich und vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jacke. «Irgendwann. Wenn ich genug Geld habe und irgendjemanden, der mich aufnimmt.»

     Er grinst bei seinen Worten, aber es verblasst schneller, als die Farben eines Sonnenaufgangs.

     Dann kommt die Durchsage. Kündigt Zale Zug an und damit unseren Abschied.

     «Hier trennen sich dann wohl unsere Wege», bemerke ich und bringe ein Lächeln zustande. «Du musst uns definitiv besuchen kommen. Wir haben genug Platz.»

     «Ich würde sogar in eurem Garten schlafen», lacht Zale und dieses Mal senken sich seine Mundwinkel nicht.

     Kurzerhand zieht mich der Brite in eine Umarmung, die mein Herz zerreißt. Es ist vertraut und beruhigend, aber tut weh. Der Gedanke, dass er jetzt wieder alleine ist. Der Gedanke, dass seine Reise mit uns so unerwartet schnell sein Ende gefunden hat.

     «Wir sehen uns», verspricht er mir mit leiser Stimme und schenkt mir sein breites Grinsen, welches heller strahlt, als die Sonne es jemals könnte.

     Ich wünschte, wir hätten die Zeit gehabt, um den Geheimnissen seines Wesens nachzugehen. Aber wie der Feuerball, mit dem er um den wichtigsten Platz im Universum konkurriert, trägt er zu viel Mysteriöses an sich, als dass man es jemals ganz verstehen könnte.

      Nacheinander umarmt Zale auch die anderen. Der Abschied von Lovis scheint ihm am schwersten zu fallen. Es war voraussehbar, dass die beiden Freunde Probleme haben werden, getrennte Wegen gehen zu müssen.

     Zale hat über Lovis' Witze gelacht, wenn der Rest von uns bloß die Augen verdreht hat. Und Lovis hat mit einem Kescher Zales Stille gelauscht, wenn niemand sonst in der Lage war, die unausgesprochenen Worte zu fangen.

     Ich merke, dass Lovis kurz davor ist, in Tränen auszubrechen, als der Brite sich mit einem schmerzhaften Lächeln von ihm löst.

     «Wir haben noch ein Geschenk für dich», kündigt Ajax an, um die Traurigkeit der Situation irgendwie zu überspielen.

     Es funktioniert: Auf Matheas, Lovis' und meinem Gesicht bildet sich ein Grinsen, während Zale verwirrt zwischen uns hin und her blickt.

     «Wofür?», erkundigt der Brite sich schließlich neugierig und nimmt die Tüte, die Ajax in den Händen hält, dankend entgegen.

     Mathea zuckt mit den Schultern. «Einfach ein kleines Dankeschön, dass du es so lange mit uns ausgehalten hast.»

     Gerade will Zale die Tüte öffnen, da hält er in der Bewegung inne und sieht uns mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen an. «Ich habe mich zu bedanken. Nicht ihr.»

     Wenn er nur wüsste.

     Mein Blick huscht unauffällig über die Gesichter der anderen und ich weiß, dass wir alle den gleichen Gedanken im Kopf haben. Zale hat uns mehr gegeben, als er glaubt. Er ist der Grund, warum ich wieder daran glauben kann, dass es zwischen all der Fremde unserer Gesellschaft noch Nähe gibt, die wir für verloren geglaubt haben.

     Zale war unsere Sonne, wenn die Außenwelt wieder zu viel Gewicht auf uns ausgeübt und uns in betäubende Dunkelheit getaucht hat. Seine positive Art und Sicht auf das Leben haben mir Mut gemacht, daran zu glauben, dass am Ende alles gut ausgehen wird. Dass wir keine Angst vor dem Unbekannten haben müssen, denn irgendwie werden wir alles gemeinsam schaffen. Ich hoffe, dass ich eines Tages wenigstens halb so leichtlebig an das Leben herangehen kann, wie er es tut.

     «Erinnerst du dich an den Abend, an dem wir im Regen getanzt haben?», beginne ich, als Zale das selbstgemachte Buch aus der Tüte zieht und ein amüsiertes Schmunzeln auf seinem Gesicht erscheint.

    «Der Abend, an dem wir Sternenstaub gefangen haben», korrigiert Lovis sofort.

     Wir lachen und selbst Ania lächelt, obwohl sie keine Ahnung hat, worum es hier eigentlich gerade geht.

     «Der Abend, an dem wir Sternenstaub gefangen haben», wiederhole ich kichernd. «Du hast Lovis später gesagt, dass du es lustig findest, wie viele verschiedene Arten es gibt, Kartoffeln zuzubereiten. Deswegen haben wir Rezepte zusammengestellt, die du alle ausprobieren kannst.»

     Amüsiert blättert Zale durch die handbeschriebenen Seiten, die von Tackerklammern zusammengehalten werden. Es war der Horror, dieses Buch anzufertigen. Mathea hat die schönste Schrift von uns, deswegen hat sie alle Rezepte, die Ajax und Lovis gemeinsam rausgesucht haben, ordentlich auf braunem A5-Papier festgehalten. Gestern Abend war ich dann bis in die Nacht damit beschäftigt, die Seiten mit kleinen Skizzen zu verschönern.

     Aber es hat sich gelohnt und es ist etwas, was den Briten immer wieder an unsere gemeinsame Reise erinnern wird.

     Er betrachtet die Zeichnung, an der ich die letzten Tage gearbeitet habe. Ich habe ein Bild, welches Ajax aufgenommen hat, als Vorlage genutzt. Wir stehen zu viert vor dem blauen Bus und lachen in die Kamera. Es ist bis jetzt mein Lieblingsbild von unserer Reise, denn Ajax hat es mal wieder geschafft, die Leichtigkeit und Sorglosigkeit eines Momentes für die Ewigkeit festzuhalten.

     «Danke», flüstert der Brite schließlich. «Das ist wahrscheinlich das beste Geschenk, das ich je bekommen habe.»

     «Lass es nicht das letzte sein», lacht Ajax, aber in seinen Augen lässt sich eine tiefe Traurigkeit finden.

     Der Zug fährt ein und wir drängen uns in eine letzte Gruppenumarmung zusammen. Und dann kann ich nicht anders und weine, weil es so verdammt schwer ist, Zale gehenzulassen. Lovis weint mit mir und ich weine noch mehr, weil sein Schluchzen so herzzerreißend ist.

     «Vielleicht sollte ich doch nicht fahren», bringt Zale hervor und man merkt ihm an, dass er seine Tränen zurückhält.

     «Nein, ich glaube, es ist an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen müssen», sagt Mathea leise und wir wissen alle, dass sie Recht hat.

     Denn auch, wenn es wehtut, zieht es den Briten in eine andere Richtung. Und das ist in Ordnung, denn es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Da bin ich mir sicher.

     «Mach's gut», sagt Lovis mit einem traurigen Lächeln und Zale zieht ihn in eine letzte Umarmung, bevor dieser in den beinahe leeren Zug steigt, der ihn weiß Gott wohin führen wird.

     Wir laufen neben dem Ungetüm entlang, bis Zale einen Platz gefunden hat und uns durch die Scheibe ein letztes Lächeln schenkt. Der Zug gibt ein zischendes Geräusch von sich und kommt in Bewegung.

     Als hätten wir es abgesprochen, bewegen auch wir uns und laufen so lang neben Zales Fenster her, bis der Zug zu schnell wird und an uns vorbei ins Unbekannte rauscht. Wir bleiben am Gleis zurück und ich fühle mich so einsam, wie schon lange nicht mehr.

[...]

     Im Abteil ist es stickig. Die Sonne brennt auf der Netzhaut und die Luft erdrückt uns. Die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht, verschwimmt vor meinen Augen, als würde ich langsam erblinden.

     Ich habe schon wieder vergessen, wohin uns dieser Zug führen wird. Ajax hat die Fahrkarten gekauft und kurz erwähnt, an welcher Station wir aussteigen werden. Aber so richtig zugehört, hat ihm keiner. Ich weiß nur, dass wir uns nicht allzu weit von dem Dorf, in dem wir die letzten beiden Tage verbracht haben, entfernen werden, da der Wunsch bestand, das Erzgebirge zu begutachten. Keiner von uns ist jemals richtig dort gewesen, weshalb die Neugierde groß war. Bis Zale abgereist ist.

     Seitdem unsere Gruppe wieder nur noch aus vier Leuten besteht, ist die Stimmung deutlich gekippt. Der Brite war die Droge, die unbemerkt von uns Besitz ergriffen hat. Der Entzug ist niederschmetternd. Als wäre die Droge unsere einzige Möglichkeit gewesen, die Welt in den schillerndsten Farben zu sehen. Und jetzt ist alles grau, als hätte man dem Leben sämtliche Pigmente entzogen.

      Es ist Schwachsinn, aber diese Situationen sind nicht selten: Der Kopf hat verstanden, aber die Seele schlägt um sich, weil sie alles für verloren glaubt. Was für eine verkorkste Erfindung wir Menschen doch sind.

     «Es kann doch nicht sein, dass wir jetzt depressiv ins Leere starren», beschwert Ajax sich seufzend und durchbricht damit die langanhaltende Stille, die sich über uns gelegt hat. «Sie sind ja nicht gestorben. Wir sehen sie wieder. Und vor uns liegt noch ein gutes Stückchen.»

     Er stoppt kurz und blickt sich in der Runde um. «Die Welt hält noch so viel bereit, was sie uns präsentieren will. Wir können nicht mit verschlossenen Augen durch die Gegend laufen, weil wir Menschen vermissen, die uns für kurze Zeit verlassen mussten. Wir müssen das hier genießen. Deshalb sind wir doch los.»

      «Wohl wahr», stimmt Mathea ihm zu, wobei sie nach der Wasserflasche greift und ein kleines Lächeln zustande bringt. «Das soll der geilste Sommer unseres Lebens werden. Also machen wir es auch zu dem geilsten Sommer unseres Lebens.»

     Stumm versuche ich, die negativen Gedanken von mir abzuschütteln. Denn sie sagen ja die Wahrheit. Wir werden Zale, Ania, Elin und Jaron irgendwann wiedersehen. Kein Grund, um Trübsal zu blasen. Komisch, dass ich auf einmal so gut darin bin, wobei ich die letzten Jahre verzweifelt versucht habe, die richtigen Worten zu finden, um meinen Freunden aus diesem Loch herauszuhelfen.

     Beinahe automatisch verziehen sich meine Lippen zu einem Grinsen, als ich Ajax' leuchtende Augen sehe. «Okay, los geht's.»

     Zufrieden verschränkt der Franzose die Arme hinter dem Kopf und lehnt sich zurück. Seine Haare scheinen in der heißen Sonne zu funkeln und es fällt mir schwer, meine Augen von ihm abzuwenden.

       «Wie sieht der Plan aus?», will Lovis schließlich wissen und hängt sich somit auch endlich in die Unterhaltung ein.

      Punkt Nummer eins auf der Liste: Die Crew wieder zusammentrommeln. Check.

     Punkt Nummer zwei auf der Liste: Plan erarbeiten, weil wir sonst zu viel Scheiße bauen und in Italien landen (wäre allerdings eine Überlegung wert, oder?). In Arbeit.

     «Wir steigen in ungefähr einer halben Stunde aus», erklärt Ajax. «Und dann laufen wir einfach los und schauen, wo wir rauskommen.»

     «Vielleicht wäre es ganz praktisch zumindest einen kleinen Plan einzuhalten», erwidert Mathea.

     Lovis nickt zustimmend. «Was, wenn uns das Essen ausgeht und wir irgendwo im nirgendwo umherwandern? Wir sollten uns in der Nähe von Städten, Dörfern oder zumindest Tankstellen halten.»

     Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir und betrachte die Karte, welche die Oberfläche des Tisches bildet. Nachdenklich verfolge ich die Wege und Stationen, bis mein Blick auf unser Ziel fällt.

     «Nicht weit von der Station ist eine Autobahn», bemerke ich und zeige mit dem Finger auf die Stelle. «Und da wird ja wohl auch irgendwo eine Tankstelle sein. Außerdem sind in dem Umkreis mehrere Dörfer. Wir sollten keine Probleme bekommen.»

     Die Sonne in unseren Köpfen geht wieder auf. Ich spüre ihre Wärme, ihre Neugierde und ihren Drang, Neues auszuprobieren. Sie lässt mich die Entzugserscheinungen der Droge vergessen.

     «Ungefähr 6 Kilometer von der Haltestelle entfernt, ist ein kleines Hotel», berichtet Lovis plötzlich und dreht sein Handy in unsere Richtung. «Da könnten wir eine Nacht lang schlafen.»

     «Perfekt», kommentiert Ajax grinsend und nickt meinem Bruder dankend zu. «Da haben wir unseren Plan. So viel kann da gar nicht schiefgehen.»

      Ich lache und schenke ihm einen warnenden Blick: «Sag das nicht zu früh, mein Lieber. Am Ende landen wir auf dem Mond.»

      «Da müssten wir aber schon ziemlich vom Weg abkommen», gibt Mathea zu bedenken und wir lachen gemeinsam.

     Es ist das erste Mal seit Tagen, dass wir nur unter uns sind und ich genieße die ausgelassene Stimmung, die zu unserer Gruppe einfach dazugehört. Mein Blick gleitet über unsere Runde und mir fällt auf, wie sehr ich es vermisst habe, einfach nur mit ihnen Zeit zu verbringen. Wie ich es vermisst habe, mit den drei Personen zu lachen, die mir auf der Welt am meisten bedeuten.

[...]

     Die Temperaturen steigen immer weiter und ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sich mein Kreislauf gänzlich verabschiedet und entscheidet, seine Koffer zu packen, um schnellstmöglich abzureisen.

     Glücklicherweise ist es unter den Baumkronen etwas kühler. Nicht viel, aber immerhin bin ich kein menschlicher Wasserfall mehr. Außerdem ist der Wald schön – die Wege sind ordentlich, die Natur erstrahlt in ihren wunderschönen Grün- und Brauntönen und die Vögel stimmen ihre feinen Lieder an.

      Der Nachteil ist, dass wir unsere Boards tragen müssen. Da die Rucksäcke keine Möglichkeit anbieten, das Fortbewegungsmittel daran zu befestigen, tragen wir sie mit den Händen und das ist auf Dauer wirklich lästig.

      Nachdem Lovis' Beschwerden immer lauter wurden, haben wir uns entschlossen, eine kleine Pause zu machen. Es dauerte zwar etwas, bis wir eine Lichtung zwischen den Bäumen entdeckt haben, aber mittlerweile liege ich im Gras auf dem Rücken und genieße mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut.

     Die verschiedenen Blumen sprenkeln das satte Grün in ihren leuchtenden Farben, während sie ihre Köpfe dem Himmel entgegenrecken

     Bedauerlicherweise war es dann doch zu warm, um Ajax' Pulli weiterhin zu tragen, weshalb er sich mittlerweile auf meinem Rucksack wiederfinden lässt. Dadurch gelangt die Sonne auch an meine Arme und ich hoffe einfach, dass ich nicht sofort an einem Sonnenbrand sterben werde.

     Ajax ist in seine Kamera vertieft. Er scheint dabei zu sein, die geschossenen Bilder auf die Festplatte seines Laptops zu laden, damit sie nicht verlorenen gehen. Sein Blick ist konzentriert auf den Bildschirm seines MacBooks gerichtet, während seine Finger auf dem Gehäuse des Gerätes herumtrommeln. Ich erhasche kurze Einblicke seiner Kunst und stelle fest, dass es mich immer wieder überrascht, wie talentiert dieser Junge doch ist.

     Mathea hat ihre Nase mal wieder in ihr Notizbuch gesteckt. Der Stift in ihrer Hand scheint über das Papier zu fliegen und ich frage mich sofort, ob sie ein neues Gedicht über Ania verfasst – egal, ob wissentlich oder nicht. Ihre Augen blicken ins Leere, wann immer sie über die nächsten Worte nachdenken muss, aber den größten Teil der Zeit füllt sie die leeren Seiten ohne Pause mit Worten voller Poesie. Es kommt selten vor, dass sie es nicht schafft, ihre Gedanken auszudrücken – ihr Kopf ist eine gigantische Schatzkammer, die mit jedem Tag etwas voller wird, obwohl das Gold sich jetzt schon bis zur Decke stapelt.

     Lovis liest in einem Buch, das er mindestens schon zwanzig Mal in der Hand hatte, aber er liebt es, immer wieder durch seine Lieblingsbücher zu streifen und sich bedeutende Zitate anzustreichen. Auch jetzt hat er die Kappe eines Pastellmarkers zwischen den Zähnen und überfliegt die Seiten – auf der Suche nach Textstellen, die ihm beim vorherigen Lesen entgangen sind. Seine Augen fliegen über die Buchstaben, die ihn an ferne Orte tragen, an denen ihn niemand folgen kann, weil er der einzige Mensch ist, der sie genau so erlebt. Seine Mundwinkel haben sich zu einem sanften Lächeln gehoben und verleihen seiner Gestalt seelischen Frieden.

     Ich greife beim Aufrichten nach meinem Skizzenbuch und setze weitere Striche an meine Zeichnung – zunächst vorsichtig, doch je länger ich auf das Blatt starre, desto rascher werden die Bewegungen. Irgendwann achte ich nicht mehr wirklich darauf, was ich eigentlich veranstalte, sondern lasse meine Hand einfach über die Skizze huschen und vertraue darauf, dass am Ende etwas rauskommen wird, mit ich arbeiten kann.

     Ich weiß nicht, wie lange wir hier schon sitzen. Die Zeit ist an uns vorbeigerast, als wären wir die Wanderer neben der Autobahn und sie selbst das Rennauto, welches urplötzlich an uns vorbeigeschossen kommt. Der Fahrer denkt, er würde uns mit Nervosität füllen, aber wir bemerken ihn nicht einmal. Stattdessen sind unsere Bewegungen gemächlich, denn die Welt liegt uns vielleicht nicht zu Füßen, aber es gibt keinen Grund zur Eile. Wir haben noch ein ganzes Leben Zeit, um uns zu beeilen. Und diese Reise ist nicht der Abschnitt, der uns zwingt, unsere Schritte zu beschleunigen.

     «Warum lieben wir?»

     Ich sehe von meinem Blatt auf, aber ich begegne Matheas Augen nicht. Ihre Blick liegt auf ihrem Notizbuch, während sie ihre Stirn fragend gerunzelt hat und nachdenklich mit dem Stift gegen ihre Wange tippt.

      «Weil wir dafür gemacht sind, Bestätigung für den Sinn unserer Existenz in der Anerkennung anderer Menschen zu finden», antwortet Lovis, nachdem er sein Buch zugeschlagen hat. «Weil wir Liebe und Nähe brauchen, um uns genug zu fühlen.»

     Man sieht dem schwarzhaarigen Mädchen an, dass es nicht das war, was sie mit ihrer Frage gemeint hat, aber sie lässt sich einige Sekunden Zeit, um ihren Gedanken zu präzisieren. «Aber warum lieben wir das Meer? Oder den Wind? Oder den Wald? Oder die Sonne und den Regen?»

     Meine Gedanken sind träge und nicht schnell genug, um Antworten auf ihre Fragen zu finden. Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob ich jemals wüsste, was ich erwidern könnte. Aber Lovis und Ajax wissen es.

      «Weil lieben bedeutet zu leben. Denn am Ende ist das Leben unendlich grausam, aber so verdammt schön, dass wir lieben müssen, um es wirklich zu sehen», versucht Ajax seine Gedanken in Worte zu fassen. «Es gibt so viel Schönheit auf der Welt, aber wir sind nicht in der Lage, sie zu entdecken, weil unser Herz dafür nicht schlägt. Aber die Dinge, die wir lieben, die zeigen uns, wie wertvoll jeder Moment ist.»

     «Dinge zu lieben sorgt dafür, dass wir uns lebendig fühlen», sage ich und versuche damit, Ajax' Gedanken weiterzuspinnen. «Denn was wäre die Welt ohne Liebe? Was wären wir ohne das Gefühl, das neben dem Hass für die meisten unserer Taten verantwortlich ist? Was wären wir ohne Freundlichkeit und Vergebung? Ich glaube, wir wären nichts, wenn wir nicht in der Lage wären, zu lieben. Denn ohne Liebe funktioniert unsere Welt nicht. Ohne Liebe fehlt dem Leben das Lebenswerte.»

     Mathea schweigt und blickt in die Ferne, während sie sich unsere Antworten durch den Kopf gehen lässt. Ein sanfter Wind zupft an ihren Haaren, doch sie scheint ihn nicht wahrzunehmen.

     «Liebe ist eine Sonnenblume. Sie ist hell und schön und es tut weh, sie vertrocknen zu sehen», meint sie schließlich. «Liebe gehört zum Leben, wie der Stift zum Papier. Lieben ist fast so normal, wie zu atmen, und mindestens genau so lebensnotwendig.»

      Ich nicke und ergänze mit leiser Stimme: «Menschen tragen so viel Liebe in sich, aber wir behalten sie nicht alle bis zum Ende. Manchen von uns wird sie viel zu früh genommen und mit Hass erstickt. Aber die meisten von uns lieben. Wir lieben andere Menschen, wir lieben den Wind, das Wasser, die Freiheit. Wir lieben alles, was uns glücklich macht oder das Gefühl gibt, wirklich lebendig zu sein.»

     «Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt - die meisten Menschen existieren nur», murmelt Lovis und erwidert unsere fragenden Blicke mit einem amüsierten Schmunzeln. «Oscar Wilde, ihr Kulturbanausen.»

     Ich lache und Mathea entwischt ein Schnauben.

     «Zu leben, ohne zu lieben, ist kein richtiges Leben. Nimm dem Leben die Liebe, und du nimmst ihm sein Vergnügen. Molière», erwidert Ajax grinsend.

     Warnend werfe ich Mathea einen Blick zu. «Wehe, du zitierst jetzt auch jemanden. Dann komme ich mir dumm vor, weil mir nichts einfällt.»

     Wir lachen und die Sonnenstrahlen glänzen auf unserer Haut. Ich schließe die Augen, während ich die Wärme der goldenen Finger genieße und dem Rauschen der Bäume lausche, deren Äste sich von einem sanften Wind hin und her wiegen lassen. Die Vögel sind noch keinen Moment verstummt und füllen unsere Ohren mit ihren markanten Melodien.

     «Es ist komisch, dass es uns so unendlich schwer fällt, den Menschen, mit dem wir unser ganzes Leben verbringen, aufrichtig zu lieben», bemerke ich gedankenverlorenen und lasse meine Finger blind über das Gras huschen.

      «Am Ende des Tages ist es immer schwerer den Menschen zu lieben, von dem man alle Fehler kennt», erwidert Lovis seufzend. «Wir vergeben uns langsamer, weil wir das Gefühl haben, wir hätten immer besser sein können. Besser sein müssen.»

     Es liegt sich Schweigen über unsere Gruppe, bis Ajax es mit leiser Stimme durchbricht: «Manchmal sind so viele Zweifel in meinem Kopf, dass ich nicht mehr richtig sehen kann. Dann ist alles grau und dunkel. Als gäbe es kein Licht mehr auf dieser Welt. Oder zumindest nicht für mich.»

     Ich halte die Augen geschlossen und befürchte, dass die anderen hören könnten, wie mein Herz zerbricht. Weil Ajax' Worte die Gefühle von so vielen beschreiben und weil er so lange die Luft angehalten hat. Aus Angst, die Worte könnten ihm in einem Moment der Schwäche entwischen.

     «Alles ist so unerträglich laut und so erstickend leise», fährt der Franzose vorsichtig fort. «Ich stehe irgendwo mittendrin und ich kann nicht atmen, aber gleichzeitig ist da viel zu viel Luft in mir. Es gibt so viele Gedanken, die so unendlich schwer sind. In solchen Momenten ist es schwer, sich lebendig zu fühlen. Oder zu lieben.»

      «Manchmal ist es schwer, das Leben zu lieben», stimmt Lovis ihm mit leiser Stimme zu. «Aber wenn wir der Sonne ein weiteres Mal beim Aufgehen zuschauen, verstehen wir wieder, warum es sich doch lohnt.»

____

[author's note]

irgendwie mag ich es, dass es gerade so viel regnet. hat was beruhigendes

ich geh morgen auf eine demo und ich freu mich schon drauf hehe. auch wenn ich mir wünschen würde, es gäbe keinen anlass für diese demo :/

Okumaya devam et

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