Diese Saiten zwischen uns (Le...

By cadencehille

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Manchmal gibt es diese eine Person, der man niemals so viel Raum in seinem Leben eingestehen will, wie sie ta... More

PROLOG
KAPITEL EINS
CHAPITRE TROIS

KAPITEL ZWEI

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By cadencehille

Mit Kunst kenne ich mich nicht wirklich aus, beziehungsweise kann ich mich nicht damit identifizieren. Mir gefällt, was meine Schwester macht, aber auf Ausstellungen langweile ich mich jedes Mal fast zu Tode. Immer diese intellektuell klingenden Gespräche, bei denen sie sich ein Fremdwort nach dem anderen um die Ohren hauen – im Ernst, selbst wenn ich da mit einem Duden stehen würde, könnte ich vielen dieser Unterhaltungen nicht folgen. Und das sage ich als Germanistikstudentin!

Ich verstehe einfach nie, was die da reden. Aber das kann auch einfach daran liegen, dass ich nicht gerade kunstaffin bin.

Die Liebe zur Kunst muss Ivy bei ihrer Geburt in die Wiege gelegt worden sein, denn sie ist die Einzige in der Familie, bei der diese Ader durchschlägt. Na ja, das stimmt so nicht ganz: Ich spiele mit großer Leidenschaft Flamenco-Gitarre, würde mich selbst aber nicht im Traum als Künstlerin bezeichnen. Für mich ist es viel eher ein sehr ernstes Hobby.

»Sogar sein Name ist ästhetisch!«

Ich blinzele. Ach, stimmt – dieser Kerl, den sie sich ins Atelier geholt hat. »Okay, und was hat das mit seinem äußeren Erscheinungsbild zu tun?«, frage ich skeptisch, doch sie übergeht meinen Einwurf in etwa so sanft wie eine Skipistenraupe und ruft:

»Er heißt François!«

Ich zucke zusammen. Allerdings hat das nichts mit ihrer Lautstärke zu tun.

François ... diesen Namen habe ich ewig nicht gehört. Und ich bin auch ganz froh drum.

Als ich noch zur Schule ging, hatte ich einen François in der Klasse und in der Oberstufe war er in fast jedem Kurs, den ich belegt hatte – leider. Schrecklicher Typ.

Er hat mich bis auf den Tod nicht ausstehen können, was er auch nur allzu deutlich gemacht hat. Ich verstehe bis heute nicht, wieso eigentlich. Er hat mich zwar nie gemobbt, bloßgestellt oder dergleichen – er war lediglich sehr unfreundlich zu mir.

Als ich mit vierzehn meiner neugierigen Tante von ihm erzählt hatte, meinte sie bloß lachend, dass das einfach die Art der Franzosen sei. Aber ich konnte mich dieser Meinung nie anschließen, denn sein bester Freund Jean war echt in Ordnung und der war schließlich auch Franzose.

Was ich umso nerviger fand, war die Tatsache, dass damals alle Mädchen auf diesen Typen geflogen sind wie die Insekten auf den Honig. Schrecklich, wirklich. Ja, er sah schon gut aus, aber irgendwann bemerkte ich das gar nicht mehr, weil er sich einfach so hässlich verhielt – zu mir zumindest. Wie er mit anderen umging, weiß ich gar nicht mehr so genau, aber das Sonnenscheinchen schlechthin ist er nie gewesen.

Als ich dreizehn Jahre alt war, wurde eine Angststörung bei mir diagnostiziert. Dass er diese mit seinem ekligen Verhalten nur schürte, schien ihm nicht bewusst zu sein. Wie denn auch? Außer meiner Familie habe ich niemandem je davon erzählt.

Trotzdem hätte er merken müssen, wie unwohl mir bei seinen Worten immer wurde – auch wenn ich nie um ein saftiges Kontra verlegen war. Manchmal frage ich mich, ob er diese Abneigung irgendwann fallen gelassen hätte, wenn ich stumm geblieben wäre.

Aber das hätte ich einfach nicht über mich gebracht. Still bleiben, wenn ich angeschnauzt werde? Bis heute unvorstellbar für mich.

Jeden Moment habe ich damit gerechnet, dass sein Verhalten nur der Auftakt zu einem viel größeren, finalen Desaster war, einer ultimativen Bloßstellung sozusagen – was jedoch nie geschah. Anscheinend war es genug für ihn, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzugiften und die Augen zu verdrehen, sobald er mich sah.

Ich habe nie jemandem von ihm erzählt. Außer meinen Freunden wusste keiner davon.

Wie oft bin ich wegen ihm mit schwitzigen Händen zur Schule gegangen? Mit vor Stress rasendem Herzen?

Dieses Gefühl, das ich bei seinem Anblick stets verspürte, werde ich niemals vergessen. Wenn ich bis zu dem Moment, in dem ich ihn sah, noch Hunger hatte, war dieser sofort weg. Stattdessen machte sich ein aufwühlendes Gefühl der Übelkeit, die immer mit einer kleinen Portion Schwindel einherging, in mir breit ...

Ich schüttle verärgert den Kopf. Was sollte denn dieser Ausflug in die Vergangenheit? Ich habe seit drei Jahren nicht mehr an den Kerl gedacht – da muss ich jetzt wirklich nicht wieder damit anfangen!

Müssen wohl die aufwühlenden Ereignisse des Tages gewesen sein, die diese schlechten Erinnerungen in mir triggern.

»Erde an Nancy? Hast du überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich in den letzten zwei Minuten gesagt habe?«

Zerknirscht verziehe ich das Gesicht. »Äh ... nein.«

Ein knisterndes Schnauben dringt an mein Ohr. »Ach, was soll's, war eh nicht so wichtig. Kommst du jetzt heim?« Ich bejahe. »Ah gut, ich hab Essen gemacht. Heute gibt's Bandnudeln mit Pilzen. Der Typ hier ist einfach ein Schatz, eigentlich hat er die meiste Arbeit gemacht. Echt, ich könnte ihn küssen! Na ja, vielleicht doch nicht, er ist viel zu jung für mich. Würde schon merkwürdig aussehen.«

Ich schüttle lächelnd den Kopf. Meine Schwester ist wirklich ein verrücktes Huhn.

Normalerweise wäre ich von der Tatsache, dass ein Fremder in unserem Apartment rumgeistert, nicht allzu begeistert, aber heute habe ich die Ablenkung mehr als nötig.

»Na dann, mach hinne! Das Essen ist bald so weit.«

»Ja, ja, ich renn ja schon ...«, grummele ich. Nach einem flüchtigen Tschüss legen wir auf. Die Aussicht darauf, den heutigen Tag für ein paar Stunden vergessen zu können, beschleunigt meinen Schritt automatisch.

Mein früheres Ich hätte bei der Aussicht, jemand Neuen kennenzulernen, einen Fremden in der eigenen Wohnung zu haben, riesige Schweißausbrüche und zitternde Knie bekommen. Aber seitdem ich in Therapie bin, habe ich gelernt, mit meinen Gefühlen umzugehen und mir geht es nun sehr viel besser.

Der Stress, die Angst, das Zittern meiner Hände, der rasende Herzschlag, das sich ewig drehende Gedankenkarussell ... all das hat aufgehört.

Gut, das stimmt nicht ganz.

Hin und wieder ertappe ich mich dabei, wie mir ein kräftiger Stressschub die Luft zum Atmen nimmt. Zum Beispiel wenn mich eine Person, die ich nur flüchtig kenne, antextet. Aber alles in allem passiert es nur noch ganz selten und darauf bin ich sehr stolz.

Ich freue mich förmlich darauf, diesen Typen kennenzulernen. Wenn das kein Fortschritt ist, weiß ich auch nicht.

Der Spätherbst bläst mir in einem fulminanten Spektakel gelbe Ginkgo-Blätter um die Ohren, als ich die Treppen zum Eingang unseres Altbaugebäudes hochgehe. Da wir im fünften Stock wohnen, wäre ein Aufzug wirklich praktisch. Leider haben sich die Hausbesitzer noch nicht dazu herabgelassen, das zu ändern.

So mache ich mich resigniert an den Aufstieg.

Während ich mich nach oben schleppe, zappeln meine Finger in freudiger Erwartung. Ich werde diesen Nachmittag genießen und wenn dieser François gegangen ist, kann ich mich meinem Problem immer noch stellen.

Hoffentlich lässt sich der Typ mit einem Spitznamen ansprechen.

Endlich erreiche ich das fünfte Stockwerk und nehme mir eine kurze Verschnaufpause. Dann trete ich an die Tür zu unserem Apartment. Mit leicht zitternden Händen klopfe ich an. Trotz meiner Vorfreude bin ich doch ein wenig nervös.

Aber wie sagt man so schön? Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.

Mit einem schwungvollen Ruck wird die Tür aufgezogen und meine große Schwester grinst mich breit an. »Wurde auch Zeit!«

Ich winke lächelnd ab und schiebe mich an ihr vorbei. »Na, wo ist denn unser mysteriöser Gast?«

Suchend blicke ich an Ivys zierlicher Gestalt vorbei, die sich wieder vor mich gestellt hat. »Er ist bei mir im Atelier, sitzt noch Modell für eine Skizze«, antwortet sie.

Mann, der arme Typ tut mir leid – ich hatte mal das Vergnügen, für Ivy Modell zu spielen und es war ... schmerzhaft, das kann ich sagen! Ewig in ein- und derselben Position zu verharren ist echt nicht lustig.

»Geh ihm mal Hallo sagen, ich muss noch das Wasser von den Nudeln abgießen«, weist sie mich zerstreut an und verschwindet in Richtung Küche.

Ich seufze zittrig. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt. Ich fühle mich, als wäre ich als Nichtschwimmerin direkt in ein Haifischbecken geworfen worden.

Ich atme tief durch und versuche, mich zu beruhigen. Okay, ich kann das. Ich kann das!

Mit gestrafften Schultern mache ich mich auf den Weg in Ivys Atelier. Während ich so durch die geräumige Altbauwohnung schreite, droht der Knoten in meinem Magen dichter zu werden. Ich schlucke schwer. Komm schon, Nancy, stell dich nicht so an!, schnauze ich mich in Gedanken an.

Ich hasse es, mit Fremden allein zu sein und verkrampften Smalltalk zu führen. In Ordnung, das war untertrieben: Ich bekomme vor Angst Herzrasen.

Mit zitternder Hand drehe ich den kalten Knauf, bis es leise klickt und die Tür sich öffnen lässt. Er flutscht mir aus den feuchten Fingern und die dicke Holztür knallt mit einem lauten Pochen an die Wand.

Zwei stechend grüne Augen starren mich fassungslos an. Mir klappt die Kinnlade herunter und mein Magen rebelliert. An meinem äußeren Blickfeld bilden sich schwarze Pünktchen und ich kriege keine Luft mehr. Mir wird schwindelig.

Er ist es.

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