WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

09 | Telefongespräche

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By nebelschwere

     ... oder wie wir uns beinahe vergifteten.

     DER TAG IST grau. Nach einer stürmischen Nacht hat sich der Regen zwar verzogen, aber die Wolken hängen noch immer am Himmel und kündigen den nächsten Schauer an. In der Luft hängt der Geruch von Regen, während wir über die Autobahn fahren und einige Fenster geöffnet haben, um das Innere durchzulüften.

     Dafür, dass wir noch bis zwei Uhr morgens wach waren, sind wir bereits früh aufgestanden und weitergefahren. Gefrühstückt hat noch keiner von uns, aber wir planen, an irgendeinem Rasthof eine Pause zu machen.

     «Das Wetter ist deprimierend», murrt Mathea und lehnt den Kopf gegen die kühle Scheibe des Wagens.

     Sie hat nicht ganz unrecht. Die Wolken versperren der Sonne jeden Weg, sodass die Welt bedrückend grau erscheint. Nicht unbedingt das Wetter, das man sich im Hochsommer erhofft. Aber ich bin optimistisch, dass es zum Nachmittag hin besser werden wird.

     «Du solltest niemals nach London ziehen», kommentiert Lovis nüchtern, während er auf seinen Handybildschirm blickt und plötzlich verärgert die Augen zusammenkneift. «Wollen die mich eigentlich verarschen? Wieso verlieren die in letzter Zeit denn dauernd? Was soll der Mist?»

     «Von was reden wir?», will Zale wissen und dreht seinen Kopf neugierig in die Richtung meines Bruders, welcher genervt schnaubt, während seine Augen weiterhin auf den Display fixiert sind.

     «Von Eishockey», erwidert er knapp.

     «Okay?»

     Ich grinse, als ich Zales verständnislosen Blick sehe. Ich selbst kann die Wut meines Bruders ganz gut nachvollziehen. Ich bin vielleicht nicht so ein Fan von diesem Sport, wie er, aber dennoch weiß ich zu gut, wie es sich anfühlt, wenn das Team, welches man unterstützt, gegen ein anderes verliert.

     «Wozu werden die überhaupt bezahlt, wenn die ihren scheiß Job nicht richtig machen können?», beschwert Lovis sich weiter und rauft sich mit finsterer Miene die Haare. «Das ist ja unfassbar. Die haben bis jetzt jedes beschissene Spiel verloren.»

     «Es werden bessere Zeiten kommen», prophezeihe ich grinsend, doch er ignoriert mich – ist viel zu sehr damit beschäftigt, vor sich hin zu fluchen und einem Kumpel aus seinem eigenen Team zu schreiben.

     Seufzend drehe ich mich zu Mathea, die schmunzelnd mit den Schultern zuckt.

     «Weitere Nachrichten von deinen Eltern?», erkundigt sich meine Freundin.

    Ich greife nach meinem Handy und schalte es an. Es dauert einige Sekunden, dann flimmert der Bildschirm und gibt mir zu verstehen, dass es hochfährt. Nach einigen weiteren Sekunden ist das Gerät einsatzbereit. Und dann kommt die Sintflut. Abgehaktes und schnelles Vibrieren kündigt das Ankommen unzähliger Nachrichten und verpasster Anrufe meiner Eltern an.

     «Fuck», sage ich bloß und betrachte mein Handy mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich befürchte, dass es jeden Moment abstürzt.

     Mittlerweile hat Ajax sich zu Wort gemeldet. Beinahe augenblicklich haben und er Lovis begonnen, sich über Hockey und Basketball zu unterhalten, um mal wieder darüber zu diskutieren, welcher Sport denn nun besser ist.

     «- ist kalt», behauptet Ajax zum gefühlt hundersten Mal in all den Jahren, woraufhin Lovis genervt die Augen verdreht.

     «Wie oft noch? Wenn du dich bewegst, ist es nicht kalt! Außerdem kann ja keiner was dafür, dass du so eine scheiß Frostbeule bist», behauptet er frustriert schnaubend. «Und einen Ball in einen Korb werfen kann jeder, das hab ich im Kindergarten gelernt.»

     «Dann wäre es für dich ja sicher auch ein Kinderspiel, mich beim nächsten Spiel zu vertreten», erwidert mein bester Freund ironisch. «Oder eins gegen mich zu gewinnen.»

     «Aber sicher doch.»

     Ich verdrehe die Augen, während Ajax Lovis aus zusammengekniffenen Augen betrachtet und energisch den Kopf schüttelt. «Nicht in diesem Leben.»

     «Wollen wir wetten?», will Lovis wissen, wobei ein arrogantes Grinsen auf seine Züge tritt. «Sobald wir einen Platz finden, spielen wir 'ne Runde gegeneinander und dann schauen wir, wer gewinnt.»

     «Du bist so dumm», lacht Mathea verächtlich. «Natürlich Ajax. Hast du vergessen, dass er schon seit Jahren spielt?»

     Lovis zuckt mit den Schultern. «Wie gesagt: Basketball ist kinderleicht. Also? Bist du dabei?»

     Ich sehe, wie Ajax versucht, sich das Grinsen zu verkneifen und schließlich zustimmend nickt. «Ich komme drauf zurück.»

     «Ihr seid so beschränkt», murmelt Mathea und seufzt leise.

     Nachdem alle Benachrichtigungen angekommen sind, überfliege ich einige Nachrichten: Meine Mutter ist neugierig, mein Vater wütend und ängstlich zugleich. Sie haben seit zwei Tagen versucht, mich zu erreichen und ich kann ihren Worten entnehmen, dass sie kurz davor sind, gleich durchzudrehen.

     «Ich denke, ich sollte sie mal kurz anrufen.»

     Mathea nickt zögernd und ich betätige den Anruf. Wenn ich Glück habe, wird es die Situation entschärfen. Ansonten bleibt eben alles so, wie es gerade ist.

     Es tutet exakt zweimal, bevor meine Mutter rangeht. «Talia?»

     «Hey», sage ich leise und lächle, obwohl sie es nicht sehen kann. «Sorry, dass ich mich erst jetzt melde.»

     «Seid ihr wahnsinnig geworden? Hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns gemacht haben?», beginnt meiner Mutter ihren aufgebrachten Monolog und seufzend warte ich ab. «Der einzige Grund, warum wir noch nicht die Polizei verständigt haben, ist, weil Ajax' Vater uns gesagt hat, dass sowohl sein Sohn, als auch ein Wagen fehlt. Wir dachten, ihr wärt entführt worden! Das Mindeste, was du hättest tun können und müssen, wäre auf unsere Nachrichten zu reagieren. Oder uns zu sagen, wo ihr seid oder was ihr macht. Ihr könnt nicht einfach – ohne ein weiteres Wort – verschwinden und erwarten, dass wir das hier gelassen nehmen! Hörst du mir noch zu, Talia?»

     «Ja, ja, ich bin noch anwesend.»

     «Sehr gut, denn ich bin noch lange nicht fertig.»

     Aber anstatt fortzufahren, schweigt sie und ich höre ihr leises Seufzen. Ich sehe, wie Lovis mir einen fragenden Blick zuwirft und Mathea die Lippen aufeinanderpresst, um sich das Lachen zu verkneifen. Die laute Stimme meiner Mutter hat den gesamten Wagen zum Schweigen gebracht.

     Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe, ehe ich antworte und dabei die Lautstärke meines Handys minimiere: «Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, ich hätte mich melden müssen, aber –«

     Ich verstumme und warte darauf, dass sie etwas sagt. Doch für eine längere Zeit gibt sie keinen einzigen Mucks von sich, sodass ich sogar mehrmals auf dem Bildschirm überprüfe, dass sie den Anruf noch nicht beendet hat.

     «Ich bin immer noch sauer», meint sie schließlich und ich muss mir ein Grinsen verkneifen, das man meiner Stimme definitiv entnehmen könnte. «Geht's dir gut?»

     «Um ehrlich zu sein, ging es mir noch nie besser. Wirklich nicht.»

      Sie schweigt wieder und ich warte ab.

      «Lia, ich weiß», seufzt meine Mutter schließlich. «Aber wir haben uns so große Sorgen gemacht. Dein Vater ist außer sich. Und über Ajax' Vater wollen wir gar nicht erst sprechen.»

      Nervös bohre ich meine Finger in den Sitz. «Was hat er gesagt?»

     «Dass ihr sofort zurückkommen sollt.»

     Ich verdrehe die Augen. Das sind keine unerwarteten Neuigkeiten.

     «Und er vermutlich die Polizei einschalten wird, wenn ihr nicht bald wieder auftaucht. Ajax geht auch nicht ans Handy.»

     «Und das gefällt ihm nicht», ergänze ich verbittert und merke, wie sich mein Gesichtsausdruck verhärtet.

     «Natürlich nicht! Was hast du erwartet? Dass wir euch einen Orden überreichen?»

     Weiterhin liegen die neugierigen Blicke meiner Begleiter auf mir.

     «Es geht uns allen gut», versuche ich meine Mutter dann zu beschwichtigen, obwohl ich weiß, dass nicht sie es ist, die ich beruhigen muss. «Es geht uns mehr als gut. Und in ein paar Wochen oder so sind wir wieder zurück. Versprochen.»

     «Lia, das weiß ich doch. Aber denkst du, dass dein Vater das akzeptieren wird? Oder Ajax'? Oder Matheas Eltern?»

     Ich merke, wie ich meine Augen zusammenkneife. «Haben Matheas Eltern angerufen?»

     Sofort verspannt sich das schwarzhaarige Mädchen im Nachbarsitz und wirft mir einen unruhigen Blick zu.

      «Natürlich haben sie das. Es geht hier auch um ihre Tochter», erwidert meine Mutter schnaubend. «Du denkst doch nicht wirklich, dass wir nicht wüssten, dass ihr zu viert unterwegs seid. Bitte sag mir, dass Ajax am Steuer sitzt.»

     «Wer sonst?»

     «Gut. Dann muss ich mir zumindest deswegen keine Sorgen machen.»

     Wieder seufzt sie und ich schließe die Augen. Wenn Matheas Eltern angerufen haben, ist das ein schlechtes Zeichen. Sie meiden sich seit Jahren. Andererseits, was haben wir erwartet?

     «Ihr müsst wohl nach Hause kommen, sonst werden sowohl Matheas Eltern, als auch Ajax' Vater die Polizei verständigen. Und das wird schlecht für euch ausgehen.»

     «Das ist mir egal», platzt es aus mir heraus. «Es ist uns egal. Ihr müsst das verstehen. Das ist die beste Entscheidung gewesen, die wir je getroffen haben. Mom, auf einmal ergibt alles Sinn. Und du weißt selbst, dass du uns nicht wirklich aufhalten kannst.»

     Ich merke selber, wie meine Stimme schwankt und meine Augen brennen. Ich weiß nicht, woher diese Emotionen kommen. Ich weiß auch nicht genau, warum ich es ihr erzähle. Aber meine Mutter wollte immer das Beste und wenn es jemand verstehen könnte, dann sie.

     «Uns wird nichts passieren. Wir sind zu viert.»

     Der Brite wirft mir einen scharfen Blick zu. Ich lasse Zales Präsenz allerdings bewusst aus dem Spiel, bevor unsere Eltern noch denken, wir hätten einen Mörder an Bord.

     Ein weiteres Seufzen von Seiten meiner Mutter. «Das musst du mir nicht erklären. Ich weiß, dass ihr aufpasst und dass es euch gut geht. Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann – ihr seid alt genug. Aber –«

     Sie beendet ihren Satz nicht, aber ich weiß, dass sie als einzige Person diese Ansicht vertritt. Der Rest will einfach nur, dass wir schleunigst zurückkommen.

     «Weißt du was? Ich wollte früher auch immer in irgendeinen Wagen steigen und einfach wegfahren. Mit ein paar guten Freunden. Einfach alle Sorgen hinter sich lassen. Aber ich hatte immer zu viel Angst.»

     Irritiert, da ich nicht weiß, worauf sie hinaus will, ziehe ich die Augenbrauen zusammen. «Was meinst du damit?»

     «Dass ich nicht begeistert bin, dass ihr ohne jedes Wort verschwunden seid, aber ich verstehe, warum ihr es getan habt.»

     Sie schweigt kurz und ich merke, wie sich ein dankbares Lächeln auf meine Lippen schleicht.

     «Ihr habt es verdient, glücklich zu sein», sagt meine Mutter schließlich, ein sanftes Lächeln muss auf ihrem Gesicht liegen, denn ihre Worte sind weich und verständnsivoll, wie ich es von ihr gewöhnt bin.

     «Kannst du bitte mit Dad reden?», frage ich nach einer kurzen Pause. «Vielleicht wird er's ja auch verstehen.»

     Es raschelt am Ende der Leitung. «Ja, kann ich. Aber es wird nicht viel bringen – irgendjemand wird die Polizei verständigen.»

     Ich muss schmunzeln, denn sie klingt weder besorgt, noch genervt. Einfach nur amüsiert. Als wäre das gerade der beste Film, den sie je gesehen hat.

     «Sag Ajax und Mathea, dass sie sich melden sollen. Ich will wirklich nicht, dass mein Telefon alle drei Sekunden klingelt, verstanden?»

     Ich grinse. «Verstanden. Also lässt du uns einfach weiterfahren? Obwohl es im Grunde illegal ist?»

     Wieder ein Schnauben. «Wie du bereits sagtest: Als wenn ich euch aufhalten könnte. Wird Ajax nicht sowieso bald achtzehn? Bis dahin dürft ihr euch einfach nicht erwischen lassen.»

     Es überrascht mich etwas, dass meine Mutter so gelassen reagiert. Ich weiß zwar, dass sie für so gut wie jeden Spaß zu haben ist, aber, dass es ihr quasi komplett egal ist, dass wir in einem Minibus sitzen und sonstwohin fahren, irritiert mich dann doch etwas. Aber dafür liebe ich sie – für ihre unkomplizierte Art. Dafür, dass sie sich nie zu viele Sorgen macht, aber trotzdem wissen möchte, wo wir sind, während unser Vater Lovis und mich manchmal am liebsten in unseren Zimmern einsperren würde.

     «Danke», sage ich ehrlich und kann nicht verhindern, dass sich meine Mundwinkel noch ein weiteres Stückchen heben.

     «Kannst du mir zumindest zwischendurch mal eine Nachricht schreiben? Ich will wirklich nicht die Art von Mutter sein, aber einmal am Tag würde ich schon erwarten. Damit ich weiß, dass ihr noch am Leben seid. Und Fotos. Wehe, du vergisst die Fotos!»

     Ich grinse. «Damit du sie auf Facebook hochladen kannst?»

     «Talia», schnaubt sie empört und ich kann mir vorstellen, wie sie die Augen zusammenkneift. «In Deutschland gibt es strenge Datenschutzregeln.»

     Ich kichere und schüttle amüsiert den Kopf.

     «Kann ich wenigstens damit rechnen, dass du einen gutaussehenden Typen in ein paar Wochen mit nach Hause schleppst?»

     «Mom!», lache ich fassungslos und höre sie belustigt glucksen.

     «Was denn? Man darf ja noch hoffen.»

     «Nur zu deiner Information: Ich bin eine emanzipierte, selbstständige, junge Frau, die keineswegs auf irgendeinen Typen angewiesen ist», belehre ich sie streng.

      «Ich weiß. Es muss ja auch kein Typ sein. Und auch nicht in naher Zukunft. Hauptsache ich weiß, dass du nicht als verrückte, alleingelassene Katzenlady sterben wirst.»

      Ich schnaube. «Sicher, dass du mich nicht gerade mit Lovis verwechselst?»

     Sie lacht. Dann dringen gedämpfte Geräusche an mein Ohr und es scheint, als hätte eine weitere Person den Raum betreten.

     «Ich muss auflegen», entschuldigt die Frau am Telefon sich. «Wie gesagt, melde dich ab und an. Und passt auf euch auf.»

     «Machen wir. Ich hab' dich lieb.»

     «Ich dich auch, meine Kleine. Und sag Lovis, dass er sich nicht ewig davor drücken kann, den Geschirrspüler auszuräumen. Das wird das erste sein, was er machen muss, wenn ihr wieder da seid.»

     Kurz schweigt sie. «Gut, das solltest du ihm vielleicht nicht sagen. Dann kommt ihr ja nie wieder zurück.»

     Dann legt sie auf – vermutlich, um meinen aufgeregten Vater zu beruhigen – und lässt mich fassungslos und amüsiert zurück.

     Ich stecke mein Handy zurück in die Tasche meiner Jeansjacke und werde sofort mit neugierigen Augen konfrontiert, die mich ungeduldig anstarren.

     «Okay, was ist los?», will Mathea wissen und lehnt sich vor, um mir besser zuhören zu können.

     «Abgesehen von meiner Mom wollen alle die Polizei verständigen», fasse ich die Situation knapp zusammen. «Außerdem sind eigentlich alle angepisst, aber das war irgendwie klar. Ach, und ihr sollt euch bei euren Eltern melden. Sonst kriegen wir noch sehr viel größere Probleme.»

     Lovis lacht. Ich verstehe nicht, was so lustig an der Situation sein kann, aber mein Bruder findet irgendwie alles lustig. Jede kleinste Kleinigkeit.

     Zales Mundwinkel haben sich zu einem amüsierten Grinsen verzogen. «Wow, ihr seid ja wirklich kleine Unruhestifter.»

     Das Wort erinnert mich automatisch an den Mann, der uns von dem Start unserer Reise abhalten wollte. Ich muss lachen, als ich daran denke, wie sehr es ihn gestört hat, dass wir abgehauen sind. Als wenn es seine Angelegenheit gewesen wäre.

     Ich sehe in den Gesichtern der anderen, dass sie ebenfalls an diesen Moment zurückdenken müssen, denn sie alle tragen ein breites Grinsen im Gesicht und Lovis gluckst leise vor sich hin. Dieser Tag scheint so unendlich fern. Dabei ist er es nicht. Und vielleicht macht das unsere Reise auch aus: Dass wir in kürzester Zeit die besten Augenblicke unseres bisherigen Lebens erlebt haben.

     «Ach, und Lovis? Der Geschirrspüler wartet sehnsüchtig auf dich.»

[...]

     Ajax scheint sich jeden Moment übergeben zu wollen. Sein Gesicht ist vor Ekel verzogen und möglichst unauffällig schiebt er den Becher so weit wie möglich von sich fort – als würde das irgendwas an dem Geschmack in seinem Mund ändern.

     Ich überlege, ob ich den Kaffee dennoch probieren sollte. Aber als auch Mathea Abstand zu dem Getränk nimmt und angewidert die Augen zusammenkneift, entscheide ich mich spontan dagegen und lasse den Becher seufzend auf dem kleinen Tankstellentisch stehen, an dem wir uns versammelt haben.

     «Ich darf euren Gesichtern entnehmen, dass ich den Kaffee nicht zwingend probieren muss?», sage ich grinsend, woraufhin Mathea mir einen scharfen Blick zuwirft.

     «Doch, nur zu. Diese Brühe hätte sicher das Potenzial, dich für alle Zeit verstummen zu lassen», erwidert Ajax trocken.

     In seiner Hosentasche kramend, blickt der Franzose sich in dem geräumigen Tankstellengebäude um, welches nach Bockwurst und Bier riecht. Außer uns sind hier noch relativ viele weitere Menschen, die sich entweder an dem überschaubaren Buffet bedienen oder durch die Magazine stöbern.

     Seufzend lege ich meine Arme auf dem kleinen Tisch ab und schaue zu Lovis und Zale, die, sich munter unterhaltend, darauf warten, endlich an der Kasse bestellen und dann bezahlen zu können.

     Es ist später Nachmittag und die Luft außerhalb des Gebäudes schwül. Und da es in unserem Wagen trotz offener Fenster und Fahrtwind unerträglich stickig wurde, haben wir uns entschlossen, eine kleine Pause zu machen. Die Gewitterwolken haben sich noch nicht ganz verzogen. Es ist wahrscheinlich, dass wir in der Nacht einen neuen Sturm miterleben werden. Mich stört das weniger, denn was gibt es schöneres, als die Regentropfen gegen die Fenster trommeln zu hören?

     Ich beobachte, wie Ajax eine Kaugummipackung aus seiner Hosentasche angelt und Mathea einen anbietet. Pfefferminz. Dankend streckt das schwarzhaarige Mädchen die Hand aus.

     «Willst du auch?», fragt Ajax mich, aber ich schüttle lächelnd den Kopf und beiße stattdessen in meine Brezel.

     Gelangweilt gleitet mein Blick durch den Raum, doch es gibt nichts interessantes zu sehen. Alles ist so normal. Und obwohl normal manchmal auch interessant sein kann, ist es das diesmal nicht.

     Zale und Lovis kehren zurück, beide mit einem belegten Brötchen in der Hand. Sie wirken, als würden sie sich schon ewig kennen. Es ist zwar einfach, Lovis' Sympathie zu erhalten, aber normalerweise nimmt sich der Junge mit den kupferfarbenen Haaren immer etwas zurück und beobachtet – wie Ajax es auch tut. Aber Zale hat eben diese Vibes. Man will ihn genauer kennenlernen und man will auch alles über ihn wissen. Weil er interessant und eine Abwechslung ist.

     «Schmeckt wohl nicht», stellt mein Bruder schmunzelnd fest, als er die drei Kaffeebecher erblickt – einer unberührt, zwei so weit weg, wie nur irgend möglich.

     Schnaubend fährt Ajax sich durch die gelockten Haare. «Der Preis hätte uns schon stutzig machen sollen.»

     «Ja», stimmt Lovis ihm munter zu und hält sein Brötchen in die Höhe. «Normalerweise ist an Tankstellen alles teuer. Und euer Kaffee war sogar weniger als halb so billig, wie dieses Brötchen.»

     «Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber das heißt nicht, dass du mit diesem Brötchen im Lotto gewonnen hast», sage ich grinsend.

     Lovis wedelt ungehalten mit der Hand. «Ach, es kann nicht schlechter sein, als deine Pancakes.»

     Beinahe augenblicklich verenge ich meine Augen und blicke ihn warnend an. Mein Bruder lacht und zwinkert mir zu, woraufhin ich seufzend den Blick abwende.

     «Du hast mal versucht, Pancakes zu machen?», will Mathea wissen und man sieht ihr an, dass sie sich das Ergebnis dieses Versuches sehr gut ausmalen kann. «Du kriegst es doch nicht mal hin, deinen Toast nicht verbrennen zu lassen.»

     Ich schnaube und Lovis nickt besätigend, doch er hat bereits ein Stück das Brötchens im Mund, sodass es Ajax ist, der weiterspricht: «Ich habe auch mal versucht, mit ihr zu kochen.»

     «Was ist passiert?», erkundigt Zale sich neugierig.

     «Der Feuermelder ist angesprungen.»

     Alle lachen, ich nicht. Ich finde diese Erfahrung nach wie vor nicht unterhaltsam.

     «Wie habt ihr das geschafft?», lacht Mathea und schnappt grinsend nach Luft.

     «Ich wusste nicht, dass Spiegeleier so schnell Feuer fangen können», versuche ich mich zu verteidigen, aber natürlich brechen wieder alle in solch ein herzhaftes Gelächter aus, dass einige Gäste uns unwirsch anstarren.

     Ich starre genervt zurück.

     Ajax grinst. «Ja, wer hätte gedacht, dass ein Ei Feuer fängt, wenn es in einer Kerze landet. Du stellst neue naturwissenschaftliche Gesetze auf, Talia.»

     Ich schnaube und verschränke die Arme. Lovis hat nun ebenfalls eine Schnappatmung bekommen und Zale findet die Geschichte sogar so urkomisch, dass er beinahe auf dem Boden liegt. Außerdem ist sein Gesicht tiefrot angelaufen, was auch daran liegen könnte, dass er an einem Hustenanfall leidet, nachdem er sich an einem Stück seines Brötchens verschluckt hat.

     «Ich will wirklich nicht wissen, wie ihr das geschafft hat», presst mein Bruder zwischen einigen Lacher heraus. «Wieso erfahre ich davon erst jetzt?»

     Verärgert durchbohre ich ihn mit meinen Blicken, doch es macht ihm nichts aus. Er lacht und schnappt weiter nach Luft und jedes Mal, wenn er sich fast beruhigt hat, fangen die anderen an zu lachen und er kann sich nicht mehr halten.

     «Das kommt davon, wenn man versucht, ein Spiegelei wie einen Pancake in der Luft zu wenden», erwidert Ajax schulterzuckend. «Hätten aber beide gebrannt, schätze ich. Vielleicht sollten wir das noch herausfinden, um die Gesetzmäßigkeit einzugrenzen.»

     Mein Kopf fliegt in seine Richtung und ich weiß, dass meine Augen wütend funkeln. Doch auch mein bester Freund macht sich daraus nichts – zwinkert mir nur zu, während seine Mundwinkel verdächtig zucken.

     «Gott, das ist echt bescheuert», lacht Lovis. «Korrigiere: Du bist echt bescheuert.»

     «Hey», beschwere ich mich entrüstet. «Immerhin bin ich nicht um 6 Uhr morgens im Bikini durch den Park gerannt und habe dabei meine Interpretation von Willst du zum Besten gegeben!»

     «Ich war betrunken und high», feuert Lovis sofort zurück, wobei sein Lachen aprupt verstummt, aber es hilft nichts.

     «Das Lied hat auf jeden Fall recht gut zur Situation gepasst», bemerke ich grinsend.

     Eine weitere Welle aus überschwänglicher Belustigung und warmen Sonnenstrahlen überrollt uns und unser Lachen ist so hell, dass wir die Sonne gar nicht brauchen.

     «Wie bitte?»

     Zale blickt Lovis aus großen Augen an. Sein Lachen wird noch lauter, als er den genervten Ausdruck meines Bruders sieht, welcher mir einen wütenden Blick zuwirft.

     «Ich erinnere mich!», frohlockt Mathea. «Schade, dass das niemand gefilmt hat.»

     Böse grinsend ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche. «Ach, ist das so? Niemand hat gefilmt?»

     «Untersteh dich!», zischt Lovis und kneift warnend die Augen zusammen.

     «Was denn?», frage ich betont unschuldig und schenke ihm ein breites Lächeln. «Ich will den anderen doch nur ein kurzes Video zeigen.»

     Ich entsperre mein Handy und öffne die Gallerie. Sofort springen mir die unzähligen Bilder und Videos ins Auge, welche wir auf unserer Reise schon gemacht haben. Ich kann's kaum erwarten, sie in einem Fotoalbum zusammenzufügen.

     «Talia!»

     Lovis zieht hörbar die Luft ein. Ich scrolle weiter durch meine Ordner, bis ich auf das gesuchte Objekt stoße: stupid people doing hilarious shit. «Ah, ja, da haben wir's.»

     Ich will das Video abspielen, da reißt mein Bruder mir auch schon das Handy aus der Hand. Ich werde panisch. Es geht nie gut aus, wenn dieser Junge mein Gerät in die Finger bekommt. Nie. Und ich hätte damit rechnen müssen, dass er zu solchen Mitteln greift.

     «Lovis!», brülle ich, als dieser einen Sprint hinlegt und durch das Gebäude stürmt.

     Augenblicklich nehme ich die Beine in die Hand und sause hinter meinen Bruder durch die Gänge. Das Lachen unserer Freunde schallt durch das Gebäude, aber ich bin viel zu sehr darauf fixiert, Lovis einzuholen, als dass ich es wirklich realisieren könnte.

     Ich beschleunige meine Schritte und bin dankbar, dass ich nicht schon längst zusammengebrochen bin. «Lovis, bleib sofort stehen!»

     Natürlich denkt mein Zwilling nicht daran, sondern bahnt sich ungehalten einen Weg durch eine Gruppe von Menschen, welche das Gebäude gerade betreten. Dann stößt er die Tür auf und sprintet über den Parkplatz.

     Ich folge ihm – tausend Beleidigungen auf der Zunge und dennoch einem Grinsen im Gesicht, welches ich mir einfach nicht erklären kann. Aus der Perspektive anderer Menschen müssen wir einen ziemlichen seltsamen Eindruck machen. Aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass es gesünder ist, einen Scheiß darauf zu geben, was andere von einem halten könnten. Das Leben macht dann einfach so viel mehr Spaß.

     Und deshalb bleibe ich auch nicht stehen und hoffe darauf, dass Lovis mir mein Handy wieder übergeben wird. Mal ganz davon abgesehen, dass er dies niemals kampflos tun würde. Ich verfolge ihn also weiter, über den gesamten Platz. Und obwohl meine Beine aus reinem Protest, dass ich die letzten Tage nur herumgesessen habe, zu schmerzen beginnen und ich mir panische Sorgen um das mache, was mein Bruder mit meinem Handy anfangen könnten, kann ich nicht anders, als zu lachen.

     Die Sonne versteckt sich noch immer hinter den grauen Wolken, aber wir brauchen sie schon lange nicht mehr, um unsere Welt mit Licht zu füllen.

____

[author's note]

bei mir fängt am mittwoch wieder die schule an und so dankbar ich tatsächlich darüber bin, deprimiert mich, dass ich sehr viel weniger zeit zum schreiben haben werde

ich werde einfach versuchen, wöchentlich ein kapitel hochzuladen. mal sehen, wie gut das klappen wird haha

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