WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

08 | Revolution

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By nebelschwere

     ... oder wie wir Sternenstaub mit den Händen fangen wollten.

     «ES SOLLTE VERBOTEN gehören, wie manche Amerikaner Tee zubereiten!», kommentiert Zale mit vor Ekel verzogenen Gesicht das Video, welches er sich gerade auf Tiktok ansieht.

     Amüsiert blicke ich zu ihm. Nachdem Lovis mehrere Minuten auf ihn eingeredet hat, wie unterhaltsam die Videos dort doch seien, hat er sich letztendlich breitschlagen lassen und die App installiert. Er scheint es zu bereuen.

     «Wie bereiten sie es denn zu?», will ich grinsend wissen.

     «Erstens nehmen sie vier Teebeutel auf einmal», beschwert Zale sich. «Zweitens wird tonnenweise Zucker dazu geschüttet und drittens packen sie das Ganze dann über Nacht auch noch in den Kühlschrank. Was sind das bitte für Monster?»

     Er erschaudert und wir beginnen zu lachen.

     «Es nennt sich Eistee.»

     «Es nennt sich barbarisch», widerspricht Zale Matheas Kommentar schnippisch.

     «Es sind nicht alle so, wenn dich das beruhigen sollte», erwidert Lovis schmunzelnd. «Talias und meine Cousine greift zumindest nicht auf solche absurden Techniken zurück. Und die wohnt auch in den USA.»

     «Das hoffe ich doch», brummt der Brite und scrollt weiter.

     «Na, so schlecht scheint die App gar nicht zu sein, wenn du weiterschaust, nh», necke ich ihn, woraufhin er mir einen eiskalten Blick zuwirft.

     «Mir ist langweilig und das meine einzige Beschäftigungsmöglichkeit.»

     Ich grinse ihn an und drehe mich dann wieder um. Wir sind nun schon einige Stunden unterwegs und Ajax hat bis jetzt wahrscheinlich erst zweimal den Mund aufgemacht. Einmal, um uns mitzuteilen, dass wir tanken müssen und ein weiteres Mal, als er Kekse haben wollte. Ansonsten schweigt er. Gleichzeitig senkt sich die Sonne immer weiter dem Horizont entgegen und wir sollten langsam überlegen, wo wir für diese Nacht unterkommen wollen.

     «Wo genau musst du eigentlich hin?»

     Ich höre Zale über Matheas Frage leise lachen. «Nirgendwohin. Wie gesagt, ich bin ein zielloser Wanderer. Irgendwann komme ich schon am Ziel an.»

     «Klingt nach uns», meint Lovis und ich kann das Schmunzeln aus seiner Stimme hören.

     «Schon.  Aber ich werd' trotzdem irgendwann abspringen. Nehmt's nicht persönlich», erwidert Zale leise.

     Irgendwie macht es mich fast traurig, dass unser neuer Weggefährte nur für kurze Zeit bei uns sein wird. Wie gesagt, ist er genau der Mensch, den man immer und überall dabei haben möchte. Denn alles an ihm strahlt Zufriedenheit aus. Solche Menschen findet man immer seltener, weshalb man sie auch ungern gehen lässt, wenn man sie einmal gefunden hat.

     «Dein Verlust», meint Lovis nur und sie brechen in Gelächter aus.

     Ich sehe zu Ajax, der mir ein flüchtiges Lächeln durch den Rückspiegel schenkt.

     «Lasst uns diese Ausfahrt nehmen!», ruft Mathea und deutet auf ein Schild, welches daraufhinweist, dass man in einigen Kilometern abfahren kann.

     Ich sehe Ajax zustimmend nicken, während er den Blinker betätigt und den Wagen auf die rechte Spur lenkt.

     «Irgendeinen spezifischen Grund?», erkundigt Lovis sich amüsiert, woraufhin Mathea nur grinsend den Kopf schüttelt.

     «Ne, aber der Name der Stadt klang lustig.»

     «So wählt ihr eure Ziele aus?», lacht Zale und betrachtet uns neugierig.

     Als wäre es eine Überraschung für ihn, dass wir komplett planlos an unsere Reise rangehen. Ich weiß jetzt schon nicht einmal mehr, wo genau wir uns befinden. Und ich habe auch nicht vor, mich zu informieren.

     Lovis bricht ebenfalls in Gelächter aus. «Erzähl mir nicht, du hättest nicht mitbekommen, dass wir genauso wenig Ahnung von unserem Ziel haben, wie du.»

     Amüsiert zuckt Zale mit den Schultern und widmet sich wieder seinem Handy. Ajax biegt ab und wir befinden uns mal wieder am Ende der Welt. Am hässlichen Ende.

     In der Ferne ragen die Dächer einer Kleinstadt in die Höhe, am Rande der Straße strecken Sträucher ihre vertrockneten Äste gen Himmel. Auf der anderen Seite lassen Sonnenblumen die verwelkten Köpfe hängen, was mich unvermeidlich mit Trauer erfüllt.

     «Mein Vater hat immer gesagt, dass es ein schlechtes Zeichen ist, wenn Sonnenblumen vertrocknen», sagt Mathea und betrachtet die verlassene Landschaft.

     «Wieso?», fragt Zale.

     «Weil es nicht zu Sonnenblumen passt, den Kopf hängen zu lassen», antworte ich und wende den Blick ab.

     Der Himmel färbt sich langsam violett. Die Sonne ist in unserem Rücken und taucht die Welt in blassrote Farbe. Das Elixier alles Lebens auf der Erde hat entschieden, dass diese Hälfte der Welt genug abbekommen hat.

     «Wir starten einen Protestaufruf, dass Sonnenblumen niemals verwelken dürfen», schlägt Zale grinsend vor und legt die Arme auf der Lehne des Sitzes vor ihm ab. «Dann gibt es kein schlechtes Zeichen mehr.»

     Mathea schnaubt, aber der Anflug eines Lächelns liegt auf ihren Lippen. «Oh, es gibt noch genug schlechte Zeichen auf dieser Welt.»

     «Aber verwelkte Sonnenblumen sind schon ein ziemlich schlimmes Zeichen, findet ihr nicht? Vielleicht sogar das schlimmste.»

     «Er hat nicht ganz unrecht», stimmt Lovis dem Briten munter zu. «Sonnenblumen sollten positive Energie verbreiten. Und nicht die Köpfe hängen lassen.»

     Ich verdrehe grinsend die Augen. «Okay. Also ein Protest.»

     Eifrig nickt Zale, wodurch ihm einige Strähnen seines Haares in die Stirn fallen, doch es kümmert ihn nicht. Er ist viel zu begeistert.

     «Protest samt Revolution.»

     «Revolution?», lacht Mathea und schmunzelt über Zales Worte. «Da wünsche ich dir mal viel Erfolg.»

     «Wenn die Sonennblumen erst einmal hören, dass wir für sie eine Revolution starten würden, werden sie garantiert nie wieder den Kopf hängen lassen», prophezeit mein Bruder mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.

     «Wenn du meinst.»

     «Ich find' die Idee grandios», murrt Zale und wirft Mathea einen vorwurfsvollen Blick zu. «Ein bisschen mehr Anerkennung, dass wir versuchen, dein Leben zu verbessern. Dankeschön.»

     Seufzend verdreht das schwarzhaarige Mädchen die Augen und sieht mich hilflos an. Grinsend zucke ich mit den Schultern und drehe mich wieder nach vorne, auch wenn es dort nichts zu sehen gibt. Absolut nichts. Abgesehen von Ajax, der auf die Straße starrt und gelegentlich mit den Fingern gegen das alte Lenkrad trommelt.

     «Sekunde. Ihr skatet? Wieso bekomme ich das erst jetzt mit?»

     Zales Stimme zeugt von großer Euphorie. Ich drehe mich zu ihm um, aber sein Blick liegt auf den vier Boards, die im hinteren Bereich des Wagens darauf warten, endlich wieder benutzt zu werden.

     «Joa, manchmal», erwidert Lovis und fährt sich durch die wirren Haare. «Die einzige, die wirklich regelmäßig fährt, ist Mathea.»

     Zur Bestätigung bringt unsere Freundin ein knappes Lächeln zustande.

     Zale dreht den Kopf und blickt ihr ernst in die Augen. «Du bist mir gerade so viel sympathischer geworden.»

     Neugierig rekelt Mathea sich in ihrem Sitz, um eine angenehme Postition zu finden. «Skatest du denn?»

     Schnaubend deutet Zale auf seinen Rucksack, an dem ein altes Skateboard befestigt wurde. Die Rollen waren vermutlich einmal weiß, aber mittlerweile könnte man auch meinen, sie wären schon immer dunkelgrau gewesen. Die unzähligen Kratzer zeugen ebenfalls vom mehrfachen Benutzen des Boards.

     Matheas Augen leuchten begeistert auf. «Wie lange?»

     «Ein paar Jahre», antwortet Zale grinsend. «Wie wär's, wenn wir uns irgendeinen Platz suchen, wo man gut skaten kann? Es gibt nichts besseres, als an Sommerabenden durch die Landschaft zu fahren.»

     «Klingt gut», erwidert Ajax, woraufhin wir ihn alle überrascht anstarren. «Was ist denn? Was schaut ihr mich alle an?»

     «Ich dachte schon, du hast das Sprechen verlernt», antworte ich nüchtern und er gibt einen missbilligenden Laut von sich, der irgendwo zwischen Schnauben und Seufzen liegt. «Aber es freut mich, dass du dich doch nicht auf das Niveau eines einjährigen Kindes zurückentwickelt hast.»

     «Ich hätte die Klappe halten sollen», brummt Ajax kopfschüttelnd und biegt in eine verlassen Straße ein, die ins Nichts zu führen scheint. «Ich hätte einfach die Klappe halten sollen.»

     Nicht sehr überzeugt von der Wahl seines Weges blickt der Rest von uns aus den Fenstern und beobachtet die Landschaft, die langsam das Bild eines expressionistischen Gemäldes anzunehmen scheint. So verdammt viele Farben und irgendwie verdammt viel Bewegung, obwohl sich fast nichts bewegt. Um uns herum befinden sich nur noch vertrocknete Felder, aber die Straße ist in einem erstaunlich guten Zustand.

     «Ich habe 'ne Idee!», ruft Mathea plötzlich und springt von ihrem Sitz.

     Fragend hebt Ajax eine Augenbraue, während sein Blick immer wieder zwischem dem Rückspiegel un der Straße hin und her huscht, um unsere Freundin und den Weg im Auge behalten zu können.

     Auch der Rest von uns beobachtet Mathea neugierig dabei, wie sie ihr Skateboard schnappt. «Kannst du kurz anhalten?»

     Ich sehe, wie über Zales Kopf eine Glühbirne angeht. Sein Gesicht hellt sich wieder auf und mit funkelnden Augen greift er ebenfalls nach seinem Board, um dem schwarzhaarigen Mädchen bis zum vorderen Teil des Wagens zu folgen.

     Ajax ist der Aufforderung mittlerweile nachgekommen und hat den Minibus zum Stehen gebracht. Mathea öffnet die Tür und springt hinaus, dicht gefolgt von dem braunhaarigen Briten, dessen Begeisterung keine Grenzen kennt.

     Schmunzelnd beobachte ich die beiden durch das Fenster. Sie legen die Boards auf der Straße ab, auf der weit und breit keine weiteren Autos zu sehen sind und fahren los. Ich höre Ajax leise lachen. Er startet den Motor und folgt unseren beiden Freunden, die vor uns über die Straße zu fliegen scheinen, in einem langsamen Tempo.

     Die Sonne streift mittlerweile den Horizont und wirft feuriges Licht auf die Landschaft. Der Himmel ist schon lange nicht mehr wolkenlos, aber die ersten Sterne funkeln bereits an unserem dunkelwerdenden Zelt.

     Seufzend lasse ich den Anblick auf mich wirken.

     Früher schien alles so fern – so verdammt unerreichbar. Aber das ist es nicht mehr. Seit dem Beginn unserer Reise ist alles möglich. Wir haben Türen geöffnet, ohne sie jemals gesehen zu haben. Wir haben Wege gefunden, ohne sie jemals wirklich zu bemerken.

     Nachdenklich blicke ich zu Ajax, sein amüsierter Blick liegt auf Zale und Mathea, deren Grinsen die kommende Dunkelheit zu vergraulen droht. Hinter mir höre ich Lovis lachen und ich kann mir das Schmunzeln auf seine Lippen und das Funkeln in seinen vertrauten Augen vorstellen.

     Ich denke an all die Sommerabende, an denen ich auf das Meer gestarrt habe und nicht wusste, wie das alles jemals Sinn ergeben könnte. An denen ich mich gefragt habe, wozu wir leben, wenn alles, was wir können, zerstören ist. An denen ich das Gefühl hatte, dass wir alle zum Scheitern verurteilt sind.

     Ich denke an all die Momente, in denen alles zusammenzubrechen schien. In denen uns alles aussichtslos und unwichtig vorkam.

     Ich denke an all die Tage, die wir damit verbracht haben, das Leben und uns selbst zu hassen.

     Es ist die zweite Unbekannte in der mathematischen Gleichung, die ich bestimmen konnte. Das zweite Puzzleteil für mein 1000er Puzzle. Denn wenn ich der Sonne beim Untergehen zusehe, das Lachen meiner Freunde in meinen Ohren nachhallt und ich weiß, dass es noch verdammt lange dauern wird, bis wir zurückkehren werden, ergibt alles Sinn. Auf einmal scheint alles möglich. Auf einmal ist verdammt nochmal alles möglich.

     Denn es gibt nichts, was uns jetzt noch von unserer Freiheit abhalten kann. Nicht mehr.

[...]

     Wir haben den Wagen auf irgendeinem Rastplatz im Nichts abgestellt. Die Autos rasen über die Autobahn und ihre Lichter funkeln wie helle Sterne durch die nächtliche Dunkelheit. Neben uns sind nur noch zwei LKWs da, aber die Fahrer ignorieren uns und wir ignorieren sie.

     Wir sitzen auf dem heißen Boden des Rastplatzes. Aus Ajax' Box dringt leise Musik an unsere Ohren, die perfekt zu unserer melancholischen Stimmung passt. Die Sonne ist bereits untergegangen, aber die schäbigen Laternen bieten uns eine ausreichende Lichtquelle. Wir trinken Mate – Zale sogar zum ersten Mal, was uns schockiert – essen Brote und schweigen.

     Ich bin müde, aber viel zu zufrieden, um den Tag jetzt schon zu beenden. Mein Kopf liegt auf Ajax' Schulter, welcher gedankenverlorenen ins Nichts starrt. Seine rechte Hand ruht auf meinem Knie, aber ich glaube, dass er es nicht einmal bemerkt. Lovis hat eine Decke aus dem Wagen geholt und starrt auf den Rücken liegend zu den Sternen empor, die er schon immer bewundert hat. Zale hat die Beine angezogen und blickt ebenfalls zum Nachthimmel – die einzige Konstante in seinem bewegten Leben. Mathea hat sich neben Lovis niedergelassen und hält ihre Gedanken in einem Notizbuch fest, damit sie nicht im Strom des Lebens untergehen.

     Die Grillen geben ihr abendliches Konzert und das Rauschen der Autobahn harmoniert gewissermaßen mit ihren Tönen. Als wüssten beide genau, welche Melodie sie spielen, aber sie hatten noch nie die Gelegenheit, gemeinsam zu üben.

     «So könnte es immer sein, hm?», murmelt Ajax und ich merke, wie er vorsichtig seinen Kopf in meine Richtung dreht. «So friedlich. Und leicht.»

     Ein Lächeln huscht auf mein Gesicht und ich schließe müde die Augen. «Ja, so könnte es immer sein. Und vielleicht wird es das auch.»

     «Vielleicht», wiederholt der Franzose neben mir das Wort flüsternd.

     Ich öffne meine Augen und blicke zu Zale, der uns gegenüber sitzt und mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen in den Nachthimmel blickt.

     Ajax hat es gut beschrieben: Es ist friedlich und so leicht, dass wir zwischen den Wolken schweben. Es gibt keine Hürden, keine Sorgen. Es gibt nichts, außer uns fünf. Und mehr brauchen wir auch nicht, um vollkommen zufrieden zu sein.

     «Es ist schon irgendwie komisch, findest du nicht?», meine ich mit leiser Stimme.

     Ich will die Ruhe zwischen uns nicht durchbrechen. Es käme mir vor, als würden wir dann alle zurück in die Realität geworfen werden.

     «Was genau meinst du?»

     Wieder bewegt sich sein Kopf und ich glaube, dass er mich ansieht. Oder zumindest das, was er von mir sehen kann. Ich greife nach seiner Hand und betrachte die Armbänder, die er immer noch trägt, obwohl sie schon Jahre alt sind.

     «Alles», antworte ich schließlich und Ajax lacht leise. «Das Leben. Diese Situation.»

     Wieder lacht er leise und lässt zu, dass ich seine Armbänder mustere. «Ich glaube, du musst etwas spezifischer werden. Ich bin zu müde, um das jetzt noch zu kapieren.»

     Ich grinse. «Sagt der Richtige.»

     «Und was genau soll das jetzt bedeuten?»

     Ich höre sein amüsiertes Grinsen, obwohl sein Ton anklagend ist.

     In der Ferne schreit ein Vogel und ich zucke kurz zusammen. Mein Blick wandert wieder zu dem Rest unserer Gruppe, der nach wie vor stumm in einem Kreis zusammengekommen ist und seinen Gedanken nachhängt.

     Matheas Augenbrauen haben sich zusammengezogen und sie kaut nachdenklich auf ihrem Stift herum, während ihre Augen die bereits niedergeschriebenen Worte verfolgen. Lovis liegt immer noch auf dem Rücken, aber er unterhält sich gedämpft mit Zale, welcher die Inhaltsangabe seiner Mate studiert.

     Ajax schweigt und ich schweige mit ihm. Unausgesprochene Dinge hängen in der Luft, aber sie ersticken uns nicht. Es ist gut. Es ist friedlich und es ist leicht.

     Und dann unterbricht Zales leise Stimme unser Schweigen. «Mathea?»

     Er stockt und scheint sich unsicher, ob er mit seiner Frage fortfahren soll. Das schwarzhaarige Mädchen hebt erst nach einigen Atemzügen den Kopf und blickt ihn fragend an. Ein schiefes Grinsen tritt auf Zales Züge und er scheint zum ersten Mal, seit unserer Begegnung, verlegen.

     «Ist es unhöflich, wenn ich frage, woran du schreibst?»

     Leise lachend schüttelt Mathea den Kopf. «Nein, aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich die Frage beantworten werden.»

     «Komm schon», versucht Zale es ein weiteres Mal. «Kannst du es uns vorlesen? Bitte?»

     Er wirkt wie ein Kind, das ein Stück Schokolade haben möchte, aber weiß, dass es fast unmöglich ist, eines zu bekommen.

     Ich grinse. Ich weiß, dass Mathea ihre Werke nur ungern teilt, aber manchmal brökelt ihre Fassade. Die Meinung anderer Menschen ist ihr wichtiger, als sie selbst zugeben möchte. Ihre Liebe für Poesie ist ihre Schwachstelle – sie fürchtet sich davor, dass andere Menschen ihre Kunst nicht mögen werden. Aber sie brennt darauf zu erfahren, was wir von ihren Worten halten werden.

     Ajax bewegt sich und ich hebe den Kopf.

    «Bitte», bettelt nun auch mein bester Freund, woraufhin wir alle leise lachen.

     Mathea seufzt. Zale grinst zufrieden.

     «Okay», sagt sie schließlich und beißt sich auf die Unterlippe. «Aber wehe euch, ihr lacht. Ich drehe euch den Hals um.»

     «Keine Sorge», sage ich schmunzelnd. «Ich lebe gerne.»

     In meinen Gedanken ergänze ich, dass ich niemals lachen könnte. Erstens, weil es eine Beleidigung ihrer Person wäre und zweitens, weil jedes ihrer Werke eine Nische in mir berührt, von der ich nicht wusste, dass sie existiert. Ihre Poesie erweckt Gefühle in mir, von denen ich wusste, dass sie so stark sein können.

     Mathea will ansetzen. Ein neues Lied erklingt. Und für fünf Atemzüge sagt niemand ein Wort. Hold me while you wait dringt an unsere Ohren und ich habe augenblicklich das Bedürfnis, hier und jetzt in Tränen auszubrechen.

     Meine fehlende Emotionalität bei Filmen oder Büchern ist der nötige Ausgleich, dass Lieder mich innerhalb von Sekunden depressiv machen können.

     «Du fängst jetzt aber nicht an zu heulen?», erkundigt Lovis sich pikiert und blickt mich aus zusammengekniffenen Augen an.

     Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. «Was, wenn doch?»

     Er stöhnt und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. «Das ist doch krank. Man kann das Lied nie bis zum Ende hören, weil du jedes Mal wie ein Eisbär mit Schluckauf klingst. Ich kenne bis heute nur die Hälfte des Songs.»

     «Sagt der, der bei 'Six feet apart' wie ein Baby heult», erwidere ich verschnupft und verschränke die Arme vor der Brust.

     «Hey! Der Film ist verdammt emotional, okay?!»

     «Seid ihr fertig?», geht Ajax lachend dazwischen, bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann.

     Seufzend nicke ich und schenke Mathea wieder meine Aufmerksamkeit. Sie räuspert sich und schiebt mit einer Hand die schwarzen Strähnen hinter ihr Ohr.

     «Es ist nicht sehr gut. Außerdem reimt es sich nicht wirklich», entschuldigt sie sich nervös. «Ich hab's ohne groß nachzude– ... ach keine Ahnung, es ist einfach nicht das Gelbe vom Ei.»

     «Passt», meint Zale schulterzuckend. «Bin  Veganer.»

     Wir lachen und Mathea lächelt.

     Dann liest sie endlich vor:

     «let's look at our skies and
get lost between their paths,
let's pretend we're the broken lovers
that found their healing,
'cause after all these lies I can still
taste the starry dust from your lips.
and maybe it isn't fake,
just not the way you want us to be
and maybe we'll be the not so broken lovers,
if you want us to be.
maybe you'll be the art
that I'm looking for in the galleries
or maybe you'll be just another
blurry face in this crowd.
but, baby, even if it's true,
and we are the not so broken lovers,
and you are the art that I'm looking for,
would you be my guiding light?
because even if it's true
and you want to show me your stars,
will you also show me how they burn?»

     Sie schweigt. Ihr Blick liegt auf dem Papier, welches diese Worte auf sich trägt. Ich habe das Gefühl, für eine Weile schweigen zu müssen. Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht.

     Ich habe früher nie verstanden, wieso Menschen denken, dass Literatur den Autor verdammt verletzlich macht. Ich habe es nie verstanden, bis ich Matheas Worten gelauscht habe. Denn das Mädchen mit dem breiten Grinsen und selbstbewussten Funkeln in den hellen Augen hat Abgründe. Jedes Meer hat seine Abgründe.

     «Das war wunderschön», flüstert Ajax schließlich und ich nicke.

     Mathea hebt den Kopf an, schenkt uns ein beinahe schüchternes Lächeln. «Findet ihr?»

     «Ja», sagt Zale mit belegter Stimme. «Das war verdammt schön.»

     «Ich werde sicher noch an einigen Stellen herumfeilen», meint das schwarzhaarige Mädchen seufzend und schließt ihr Notizbuch, «aber es ist ein guter Start.»

     «Ich wüsste nicht, was du daran noch besser machen könntest», gestehe ich.

     Sie schmunzelt. «Natürlich nicht. Du verstehst Literatur nicht.»

     Grinsend verdrehe ich die Augen. Aber natürlich hat sie recht. Ich werde Literatur niemals auf solch eine faszinierende Weise betrachten, wie sie es tut. Denn sie lebt für die Worte. Ihre Seele verlangt danach, ihre Gedanken niederzuschreiben. Jede Zelle ihres Körpers lechzt nach dem Schreiben dieser Worte.

    Für einen kurzen Augenblick will ich sie fragen, an wen der Text gerichtet ist. Aber sie würde es mir nicht verraten. Sie hat sich schon verletzlich genug gemacht.

     «Habt ihr schon einmal Sternenstaub gefangen?»

     Lovis' unerwartete Frage verwirrt nicht nur mich. Zale verschluckt sich an seiner Mate, schnappt kurz nach Luft. Und wir alle starren zu dem Jungen mit den kupferfarbenen Haare, welche nachdenklich in den Himmel und dann zu uns blickt und grinst.

     «Ich mein's ernst.»

     «Okay», sagt Ajax schmunzelnd. «Nein, hab' ich noch nicht.»

     Mein Bruder blickt den Rest von uns fragend an und wir alle verneinen mit einem kurzen Kopfschütteln.

     «Dann wird's jetzt höchste Zeit», beschließt Lovis mit einem breiten Grinsen.

     Er steht auf. Geht zur Box und macht die Musik lauter. Lordes Stimme durchflutet den Rastplatz, während der Text von Ribs mit der Nachtluft verschmilzt.

     Ich fühle mich leicht. So unendlich leicht. Denn dieser Moment wiegt rein gar nichts. Er ist keine Last, er ist keine Herausforderung. Die bittersüßen Sorgen kann man schon lange nicht mehr schmecken.

     Ich grinse, stehe auf und folge meinem Bruder, der mit erhobenen Armen über den Platz rennt. Es sieht urkomisch aus. Ich bin zu müde, um mich zu fragen, wie bescheuert ich erst aussehen werde. Die Mate hat rein gar nichts gebracht – von wegen, da wäre mehr Koffein als in Kaffee. Sicherlich alles Lügen.

     Dieser Moment ist filmreif. Die Wolken, die sich am Abend gefunden haben, brechen auf. Zunächst fallen bloß kleine Tropfen hinunter und laden auf unserer Haut. Aber langsam werden sie zahlreicher. Das ferne Donnergrollen birgt ein willkommenes Versprechen.

     Ich hebe ebenfalls die Hände und renne gemeinsam mit Lovis umher, drehe mich im Kreis und lausche dem Zusammenspiel von Lordes Stimme und dem Regen. Ich lache und ich weiß nicht warum, denn das ist so dämlich. Aber es macht irgendwie Spaß.

     Und es ist mir egal, dass die anderen auch lachen und dass die LKW-Fahrer uns anstarren und es ist mir egal, dass ich lächerlich aussehe und dass es keinen Sinn zu ergeben scheint und dass meine Kleidung den Regen aufsaugt.

     Denn wer hat gesagt, dass das hier dumm ist? Wer hat das festgelegt?

     Die Musik ist laut und unser Lachen vermischt sich mit der Melodie. Der Regen wird heftiger und wir drehen uns schneller. Ich sehe, wie Mathea auf die Beine kommt. Dicht gefolgt von Zale. Und dann steht sogar Ajax auf.

     Und wir rennen zu fünft durch die Gegend, die Arme gen Himmel gestreckt. Wir drehen uns, alleine und miteinander. Die Nacht ist dunkel, der Regen kühl. Die Autobahn rauscht, die Laternen flackern und die Grillen zirpen immer noch. Und es ist so dumm und so schön.

     Wir tanzen im Sommerregen. Der Sommerregen tanzt mit uns. Ansichtssache. Aus meiner Perspektive tanzt der Regen definitiv mit uns.

     «Lasst uns Sternenstaub fangen!», ruft Lovis euphorisch.

     Ajax lacht. «Dafür braucht man Kescher, mit den Händen wird das nichts.»

     Sein Lachen ist mindestens genau so schön wie dieser Moment. Und ich frage mich, wie mir das früher noch nie auffallen konnte.

____

[author's note]

bei dem gedanken daran, dass dieser sommer wahrscheinlich nicht mal ansatzweise so wird, wie ich ihn mir vorgestellt habe, könnte ich mich doch glatt für die nächsten wochen im bett verkriechen :')

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