POSTKARTENSOMMER

By livschreibt

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❝Den Ort, an den ich will, gibt es nicht.❞ ❝Dann musst du wohl die Reise so schön wie möglich machen.❞ Phoeni... More

WIDMUNG
VORWORT
POSTKARTE 1: Klingt nach einem Roadtrip
POSTKARTE 2: Baby-Karotten, Sprühkäse und Freiheit
POSTKARTE 3: Hervorragende Schuhwahl
POSTKARTE 4: Toast zum Frühstück
POSTKARTE 5: Kirschkernspucken
POSTKARTE 6: Mit dem Herzen hören
POSTKARTE 7: Nette Worte
POSTKARTE 8: Gewitterwolkenworte
POSTKARTE 9: Selbstzweifel sind die besten Kunstfälscher
POSTKARTE 10: Bilderbuchmoment und Gutenachtgeschichte
POSTKARTE 12: Rote Gummibärchen
POSTKARTE 13: Sommermüdigkeit
POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke
POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten
POSTKARTE 16: Zeitstillstand
POSTKARTE 17: Manchmal ist das Leben eine Postkarte
POSTKARTE 18: Geschichten schreiben
POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht
POSTKARTE 20: Gartenzaun und Luftballons
POSTKARTE 21: Wie Zuhause
POSTKARTE 22: Kanten abschleifen
POSTKARTE 23: Angeknabberte Fingernägel
POSTKARTE 24: Schlangenlinien
POSTKARTE 25: Radioknistern
POSTKARTE 26: Magnete
POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten
POSTKARTE 28: Hochseile

POSTKARTE 11: Korallenriff

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By livschreibt

Der Wind zerrt an meinen Haaren und die Brise, die vom Meer zu mir hoch weht, lässt mich frösteln, obwohl ich mir einen von Yules Hoodies stibitzt habe (obwohl man technisch gesehen gar nicht von stibitzen reden kann, denn er hat mir den Hoodie gestern selbst gegeben und dass er ihn noch nicht zurückverlangt hat, ist nicht mein Problem), doch ich will den Moment um keinen Preis verpassen.

Es ist noch früher Morgen und weil ich schon wieder zu einer Uhrzeit, zu der ich noch Stunden hätte schlafen können, wachgeworden bin, habe ich die Gelegenheit genutzt und mich auf den Balkon gesetzt. Auf den Balkon, wo ich begleitet vom ruhigen Rauschen des Meers den anbrechenden Tag geniesse, während Yule noch schläft.

Mit angewinkelten Beinen, die Arme darum geschlungen, sitze ich da, beobachte und nehme alles in mich auf. Geniesse die Ruhe um mich und in mir - denn endlich einmal ist in mir nicht dieser Drang, mich zu bewegen, zu sprechen, zu singen oder mit irgendwas in meinen Händen herumzuspielen, der mich sonst immer erfüllt. Ich bin vollkommen ruhig und friedlich.

Ich weiss nicht, ob es an meiner Umgebung liegt, die eine so besänftigende Auswirkung auf mich hat oder an Yule, der mich mit seiner bedachten Art unbewusst beruhigt, in dem er es schafft, meine Gedanken zu fokussieren. Sie sind nicht mehr ganz so sprunghaft, denn Yule hat mich an der Hand genommen und mir gezeigt, worauf es ankommt.

»Hätte nie gedacht, dass ich dich mal so früh am Morgen so wach erlebe«, sagt Yule plötzlich hinter mir und ich schrecke zusammen, sodass ich mit dem Knie gegen die Tischkante stosse.

Ich drehe mich um, reibe mir mein schmerzendes Knie und werfe Yule einen empörten Blick zu.

Was fällt ihm ein, mich so zu erschrecken?

»Gleichfalls«, erwidere ich und drehe mich wieder um, als Yule Anstalten macht, sich auf den Stuhl neben mir zu setzen.

»Warum bist du schon wach?«, frage ich, richte den Blick wieder auf die friedlichen Wogen.

»Du hast das Fenster offen gelassen und es ist kalt geworden.«

»Oh, tut mir leid, habe ich dich schon wieder um den wertvollen Schlaf gebracht?« Ich mache grosse Augen, und sehe ihn an, als würde ich mit einem Kleinkind reden. »Und das, obwohl du doch immer so liebreizend zu mir bist - tut mir ehrlich leid.«

»Du solltest echt aufpassen, dass das nicht zur Gewohnheit wird, mich so früh zu wecken, sonst werde ich echt unerträglich.«

»Du wirst unerträglich?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Du wirst

»Was tust du eigentlich schon so früh auf den Beinen?«, fragt er mich, anstatt auf meine Frage einzugehen.

»Ich sitze gerade, Yule.«

Ich kann Yules Wortkargheit und seinen trockenen Humor immer besser nachvollziehen - auf Fragen zu antworten, ohne dabei wirklich darauf zu antworten, hat einen gewissen Reiz.

»Haha.« Yule findet meinen Scherz offenbar nicht halb so witzig wie ich, denn im Gegensatz zu mir lacht er nicht, verdreht stattdessen nur die Augen.

Die Augen, unter denen schwarze Schatten liegen, weil er zu spät eingeschlafen und zu früh aufgewacht ist. Ich werde das Gefühl nicht los, dass beides meine Schuld ist. Irgendwie.

»Warum bist du schon wach?«, wiederholt er seine Frage. Ungeduldig.

»Den Sonnenaufgang kann ich von hier zwar nicht sehen, aber immerhin kann ich die Morgenluft einatmen. Die Gedanken sortieren.«

Ich schliesse die Augen, spüre die frische Brise auf der Haut, atme das Salz ein und denke, wie schön es ist, den Tag mit Meergedanken zu beginnen.

»Welche Gedanken?«, fragt Yule spöttisch.

Ich ignoriere ihn nun meinerseits. Spreche weiter, als hätte ich ihn nicht gehört. »Den anbrechenden Tag geniessen. Und die Stille.«

Stille hat einen schönen Klang, wenn man sich genug Mühe gibt, hinzuhören.

»Die Stille?«

Bist du ein Papagei, Yule?, möchte ich fragen. Aber ich bleibe still, denn Yule spricht sofort weiter.

»Weisst du überhaupt, was das ist? Es wundert mich, dass du dir selbst nicht ständig ins Wort fällst.«

Ich muss ein Grinsen unterdrücken, weil der Wortwechsel mit Yule einen ebenso schönen Klang hat wie die Stille, der ich gelauscht habe. Vielleicht ist mir der Klang sogar noch ein bisschen lieber. Aber das muss Yule nicht unbedingt wissen.

»Das heisst, ich habe sie geniessen können.«

Ich verschränke die Arme, um die Aufmerksamkeit von meinen zuckenden Mundwinkeln abzulenken.

»Oh, tut mir leid.« Yules Mundwinkel schliessen sich den meinen an und beginnen nun ebenfalls zu zucken. Und ich höre auf, es zu unterdrücken. »Störe ich?«

»Schon ein bisschen, ja.«

»Ausgezeichnet. Dann weisst du ja jetzt, wie es ist, mit dir zusammen Zeit zu verbringen.«

»Bin ich tatsächlich so schlimm?« Ich drehe mich so in meinem Stuhl, dass ich meinen Oberkörper jetzt ganz Yule zugewandt habe. Die Beine lasse ich über die Armlehne des Stuhls baumeln.

»Schlimmer.«

»Sehr gut.« Ich nicke zufrieden.

Yule schnaubt.

»Das wäre doch jetzt der ideale Zeitpunkt, um hier auf dem Balkon zu frühstücken, oder?«, sagt er schliesslich und sein Blick wandert über den kleinen Tisch, an dem ich vorher mein Knie angeschlagen habe, die Stühle, auf denen wir sitzen, und das Meer, das sich vor uns erstreckt.

»Hör mir bloss auf. Ich esse keinen einzigen Bissen mehr von diesem Toast.«

Die Tatsache, dass ich langsam Hunger bekomme, muss ich wohl einfach ausblenden. Ich muss jetzt stark sein, denn ich werde auf keinen Fall noch einmal von diesem Toast essen. Sonst hat Yule schon wieder gewonnen. Und dieses selbstgefällige Grinsen erträgt mein Stolz auf keinen Fall ein drittes Mal.

»Wenn du meinst.« Yule zuckt mit den Schultern. »Kaffee?«

»Decaf.«

»Aber natürlich.«

🌲

»Du kannst ja richtig lieb sein, was?«, sage ich, als ich wenig später den warmen Becher von Yule entgegennehme. »Danke.«

Er hat sogar daran gedacht, mir meine Vanillesahne zu bringen. Allerdings nicht ohne mir dabei zu sagen, wie ekelhaft künstlich sie schmeckt.

»Bedank dich nicht, ich hab's nicht für dich getan.«

»Sondern?« Ich stelle den Becher ab, um den Deckel von der Sahne zu reissen und sie in den Kaffee zu kippen. »Für den Weihnachtsmann vielleicht, damit er sieht, dass du ein braver Junge bist?«

»Dafür ist es doch schon längst zu spät, meinst du nicht?«

Vielleicht verzeiht er dir, wenn du ihm einen Brief schreibst mit deinen schönen Worte, Yule.

»Ich wollte das hier bloss etwas erträglicher gestalten«, schiebt er hinterher und ich nehme wieder zurück, was ich gedacht habe - es ist definitiv zu spät für den Weihnachtsmann. Viel zu spät.

»Halt schon die Klappe. Das hier war erträglich, sogar echt schön und idyllisch, bis du aufgestanden bist. Jetzt nimmt die Erträglichkeit rasant ab... wie heisst dieser mathematische Begriff nochmal?«

Ich schnipse mit meinem Finger auf der Suche nach den Worten und sehe Yule dabei an, weil er die Worte immer findet.

»Exponentieller Zerfall?«, schlägt er vor und trinkt einen Schluck Kaffee. »Ja, ich kann's nachvollziehen. So geht es mir nämlich auch mit meinen Nerven. Sag mal...« Er sieht mich an mit gerunzelter Stirn. »...ist das eigentlich mein Hoodie, den du da trägst?«

»Nein, ich hab nur per Zufall exakt denselben.«

»Warum trägst du meinen Hoodie?«

»Weil es kalt ist?« Wie, um ihm zu zeigen, wie kalt es ist, ziehe ich die Ärmel über meine Handgelenke und schlinge die Arme um meinen Oberkörper.

»Und was hat das jetzt mit meinem Hoodie zu tun?«

»Du kannst mir doch nicht deinen Hoodie geben und dann erwarten, dass du den wieder zurückbekommst?« Ich seufze übertrieben tief. »So läuft das nicht, Yule. Du musst noch viel lernen, bevor du irgendwann mal eine Freundin hast.«

Der Gedanke, Yule könnte irgendwann tatsächlich eine Freundin haben - ein Mädchen, in das er sich verliebt und über das er schöne Worte schreibt -, versetzt mir einen Stich. Und ich weiss nicht mal so recht, warum.

»Das heisst also, dass ich mich jetzt von diesem Pulli verabschieden kann?«, sagt Yule und macht ein Gesicht, als hätte er schon längst aufgegeben.

Ich nicke. »Genau das heisst es.«

»Du bist wie ein Parasit«, murmelt er in seinen Becher, die Stimme dabei mindestens so düster wie der Kaffee darin. »Erst kriechst du zu mir ins Bett und dann klaust du meine Kleider.«

»Hey!«, rufe ich und richte mich empört auf. »Gestern hast du noch gesagt, es wäre gar nicht so übel, das Bett mit mir zu teilen.«

Und ausserdem habe ich den Hoodie nicht geklaut, du hast ihn mir an den Kopf geworfen. Obwohl ich ihn natürlich ohne Zweifel auch geklaut hätte, hättest du ihn mir nicht freiwillig gegeben.

»›Nicht so übel‹ heisst aber nicht, dass ich es nicht schöner finde, das Bett für mich allein zu haben. Und ausserdem war ich müde, als ich das gesagt habe. Und ganz offensichtlich verwirrt«, fügt er mit einem Stirnrunzeln hinzu.

»Noch etwas, das du über mich wissen solltest: Dinge, die ich sage, wenn ich müde bin, sind nicht ernst zu nehmen. Und... hast du nicht schon geschlafen?«

Jetzt sieht er definitiv verwirrt aus. Als würde er versuchen, herauszufinden, was eigentlich gerade vor sich geht und welche Richtung unser Gespräch eingeschlagen hat.

»Nein, ich war im Halbschlaf.« Ich schüttle den Kopf. »Aber ich wusste nicht, ob ich es nur geträumt habe, dass du das gesagt hast. Also danke, dass du mir grade bestätigst, dass ich tatsächlich gehört habe, wie du mir gesagt hast, es wäre nicht so schlimm, ein Bett mit mir zu teilen.«

Ich grinse triumphierend, woraufhin Yule ein theatralisches Seufzen ausstösst. Er tut so, als wäre er schon so früh am Morgen fertig mit den Nerven, während ich für ihn hoffe, dass das nicht der Fall ist - wie soll er den sonst den restlichen Tag überstehen? Immerhin habe ich noch so einiges vor.

»Hast du ein Kartenspiel dabei?«, frage ich und stelle damit mal wieder die Sprunghaftigkeit meiner Gedanken unter Beweis. »Ich hätte grade richtig Lust darauf.«

Yule scheint flexibel zu sein und ebenfalls nicht daran interessiert, unsere Konversation von eben weiterzuverfolgen, denn er sagt: »Was für eins?«

»UNO?«

»Sicher. Wenn du unbedingt verlieren willst.«

»Na, wir werden ja sehen, wer hier verlieren wird.«

»Herausforderung angenommen.«

🌲

Es stellt sich heraus, dass Yule mir tatsächlich haushoch überlegen ist, denn er hat gerade - ich gebe es wirklich nur ungern zu - zum sechsten Mal in Folge gewonnen (und das weiss ich nur, weil er es mir gerade unter die Nase gerieben hat).

»Ich glaube, du schummelst. Es kann gar nicht sein, dass du immer die guten Karten hast«, sage ich vorwurfsvoll ­- dabei habe ich selbst geschummelt.

Ich glaube, es ärgert mich einfach so sehr, weil Yule sogar mit den schlechteren Karten, die ich ihm absichtlich untergejubelt habe, besser spielt als ich.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich gut bin. Langsam solltest du das wirklich akzeptiert haben, Phoenix«, sagt er mit süffisanter Stimme. »Irgendwann muss man einsehen, dass der Punkt gekommen ist, an dem man aufgeben muss.«

»Auf keinen Fall! Gib die Karten her, wir spielen noch eine Runde.« Ich strecke ihm auffordernd die Hand entgegen.

Er schmunzelt. »Hab ich's mir doch gedacht.«

Yule schiebt den Stapel zu mir und ich beginne, die Karten zu mischen. Wenn ich eins noch schlechter kann als schummeln, dann ist es Karten mischen. Ich stelle mich an wie eine Fünfjährige, vollkommen überfordert mit all den Karten in meinen Händen.

Ungeschickt schiebe ich ein paar wieder zurück in den Stapel, bevor ich die nächsten hervorziehe und sie irgendwo wieder hineinstecke.

Bei Yule hat das Ganze irgendwie eleganter ausgesehen. Aber wen wundert das schon noch? Yule ist anmutig wie eine Katze bei allem, was er tut, während ich viel eher der tollpatschige Welpe bin, der auf seine langen Ohren tritt vor Freude.

»Wenn dich jetzt ein professioneller Kartenspieler sehen würde, würde er sich vermutlich vom Balkon stürzen.«

Nur mühsam unterdrückt Yule das Lachen, das unweigerlich aus ihm herausbrechen will, während er mich amüsiert beobachtet.

»Quatsch«, sage ich. »Er wäre beeindruckt von meiner Ausdauer und der Sorgfalt, mit der ich mich der überaus wichtigen Aufgabe widme, die Karten zu mischen.«

Und mit einem Seitenblick zu Yule füge ich hinzu: »Und dabei sicher gehe, dass du nicht wieder schummelst.«

Und dabei vor allem sicher gehe, dass ich dieses Mal besser schummle.

»Bestimmt«, sagt Yule. »Eine nette Art, um deine Unfähigkeit zu umschreiben.«

🌲

Obwohl ich wirklich ungern aufgebe, ist irgendwann (bei meiner zehnten Niederlage, um genau zu sein) der Zeitpunkt gekommen, in dem ich meine Karten auf den Tisch werfe und Yule erkläre, dass ich keine Lust mehr auf das Spiel habe, wenn er andauernd so unfair spielt.

Nicht gerade ein würdevoller Abgang als Verliererin - aber ich habe auch nie behauptet, dass ich eine gute Verliererin wäre.

»Wir sollten lieber noch ein wenig die Aussicht geniessen, anstatt unsere Zeit mit langweiligen Spielen zu verschwenden«, behaupte ich und drehe meinen Kopf Richtung Meer.

Ich glaube, dass Yule mich trotzdem durchschaut hat - immerhin höre ich ein leises, schadenfrohes Lachen von ihm, als er die Karten einsammelt und sie wieder nach drinnen bringt.

Ich wage es, ihm einen flüchtigen Blick zuzuwerfen, als er sich wieder zu mir setzt, und weil noch immer die pure Schadenfreude sein Gesicht ziert und in seinen Augen die Selbstgefälligkeit glitzert, sodass ich es nicht mehr aushalte, beschliesse ich, Yule mit einer Frage abzulenken.

Bisher hat das immer hervorragend funktioniert und eine nachdenklich gerunzelte Stirn ist mir lieber, als ein zu einem spöttischen Grinsen verzogener Mund.

»Was hat es mit dem Meer auf sich, dass es eine solche Wirkung auf die Menschen hat?«

»Was für eine Wirkung?«

»Na... diese Faszination.« Ich mache eine vage Handbewegung Richtung Strand. »Im Grunde tut es nichts, ausser dass die Wellen immer wieder kommen und gehen, und trotzdem wird es nie langweilig.«

Ich habe mir bei der Frage nicht viel überlegt, sondern einfach die erstbeste gestellt, die mir in den Sinn gekommen ist. Ablenkungsmanöver - das war das einzige Ziel. Von der Antwort habe ich mir nicht viel erhofft.

Aber ich habe anscheinend vergessen, mit wem ich es zu tun habe. Und dass Yule auf alles immer irgendwie eine Antwort parat zu haben scheint. Immer irgendeine Weisheit aus seinen Fingern saugen kann, als wäre sein Herz eine Schatzkammer, für die man ihm nur den Schlüssel in Form einer Frage reichen muss.

Die Schatzkammer muss wirklich überfüllt sein, denn die Goldstücke kommen einem entgegen, kaum hat man die Tür auch nur einen Spaltbreit geöffnet.

»Ich glaube, es liegt daran, dass wir fast nichts darüber wissen. Dass es irgendwie nicht greifbar ist, immer wieder unserem Verstand entwischt. Die Wellen schwappen dagegen, füllen unsere Köpfe aber nicht mit Wasser. Nicht mit Wissen. Wir verstehen es nicht... und ich schätze, Menschen sind fasziniert von Dingen, die sie nicht verstehen.«

Yule zuckt mit den Schultern, als hätte er mir lediglich gesagt, welchen Wochentag wir haben. Zuckt mit den Schultern, als hätte er nicht gerade wieder etwas wunderbar Tiefgründiges gesagt. So tiefgründig, dass ich mir einen Schnorchel wünsche, um nicht bloss die Oberfläche davon zu sehen.

Aber weil ich keinen Schnorchel habe und Yules Kopf auch kein Korallenriff ist, in das ich abtauchen kann, entscheide ich mich für die zweitbeste Variante - ich führe seinen Gedankentauchgang fort.

»Weil wir uns dann vorstellen können, was wir wollen«, sage ich. »Unsere eigenen Geschichten schreiben können.«

»Es ist genauso mysteriös, wie es wunderschön ist, und ich glaube, diese Kombination bewirkt, dass wir den Blick nicht davon abwenden können. Es glitzert, flüstert uns mit jeder Welle, die bricht, ein Versprechen zu. Versprechen von Freiheit. Von Unendlichkeit.«

Vielleicht habe ich mich geirrt. Denn Yules Kopf ist vielleicht doch ein Korallenriff. Ein wunderschön buntes, absolut vielfältiges Korallenriff. Und ich möchte nie mehr auftauchen.

»Und wir geben uns den Versprechen hin«, fährt Yule fort. »Weil wir sie brauchen. Bewundern. Verehren. Weil sie uns Hoffnung geben.«

»Warum weisst du auf alles eine Antwort, Yule? Warum weisst du immer, was du sagen sollst, ganz egal, welche Frage ich stelle?«

»Ich weiss doch im Grunde gar nichts.«

Wieder zuckt Yule mit den Schultern und ich will ihm sagen, dass er ein verdammtes Korallenriff ist und dass ich mir einen Schnorchel wünsche.

»Ich denke nur zu viel nach. Meine Gedanken sind Wege, die nirgendwohin führen oder Wellen in einem stetigen Hin und Her, drehen sich ständig im Kreis... Aber wenn du eine Frage stellst, dann ist es, als würdest du ihnen den Weg weisen, sodass sie sich zusammenfügen wie ein Puzzle. Sie sind einfach da und ich spreche sie aus. Kleide sie in Worte und verkaufe sie dir hübsch verpackt.«

»Also...«, sage ich langsam. »... wenn ich dich jetzt frage, was ich auf meine Postkarte schreiben soll... hast du dann auch eine poetische Antwort parat?«

Vielleicht kann ich diesen Tauchgang auch gleich für meine Zwecke nutzen.

»Nein.«

»Nein? Aber ich habe dir doch gerade den Weg gewiesen, siehst du - hier geht's lang.« Ich hebe den Arm und zeige auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne. »Was soll ich schreiben, Yule?«

»Sprichst du vielleicht Französisch?« Er zieht beide Augenbrauen hoch. »Je ne sais pas

»Nein, ich spreche kein Französisch - und deswegen habe ich auch nicht die leiseste Ahnung, was du mir gerade gesagt hast. Aber ich kann mir vorstellen, dass es so etwas wie ›Natürlich helfe ich dir gerne, allerliebste Phoenix‹ war.« Ich grinse. »Oder?«

Auch ohne Französischkenntnisse ist es nicht besonders schwer, sich einen Reim darauf zu machen, dass Yule mir gerade so ziemlich das genaue Gegenteil davon gesagt hat.

»Du brauchst schon viel Fantasie, um diese Worte in meinen genervten Tonfall hineininterpretieren zu können. Du kannst sie gleich nutzen, um dir einfach was einfallen zu lassen«, erwidert Yule.

»Wenn du die Energie, die du aufwendest, um mich zu nerven, fürs Schreiben aufwenden würdest, dann hättest du schon längst hundert Postkarten geschrieben.«

Er reibt sich mit der flachen Hand über sein Gesicht, während die Sonne es anstrahlt und ich sein Profil studiere. Mich frage, auf welchem Weg all die Gedanken ihren Weg in seinen Kopf finden.

»Yule, ich glaube, du vergisst, dass ich daraus, dich zu nerven, meine Energie ziehe«, sage ich, eindeutig abgelenkt von einem kantigen Kiefer, der gerade viel spannender ist, als das Meer, das mich vor wenigen Augenblicken noch fasziniert hat.

»Ach deswegen wirst du nie müde.« Yule richtet seinen Blick wieder auf mich, während ich ihn hastig abwende.

»Genau.« Ich stehe auf, um Kugelschreiber und Postkarte zu holen. »Kannst du mir jetzt einen Satz diktieren, den ich aufschreiben kann?«

»Gott, muss ich mir diesen Postkartenjammer jetzt jeden Tag anhören?«

Schon im Türrahmen stehend drehe ich mich noch einmal um. »Ja. Gewöhn dich schon mal dran.«

»Schreib über den Sonnenuntergang von gestern.«

Yules Ton ist plötzlich weder genervt noch neckend. Sondern ernst. Seine Stimme fest. Und ich weiss, dass er gerade schreibt. Nicht wirklich natürlich. Aber mit seiner Gedankentinte. Dass er gerade Bilder in seinem Kopf hat und mich kaum noch wahrnimmt.

»Wie schön er war.«

Seine Stimme klingt, als wäre sein Kopf schon längst in weiter Ferne, die Gedanken abgeschweift, als würden sie versuchen, den immer kommenden und gehenden Wellen zu folgen.

Während Yules Stimmung auf mich überschwappt, sage ich: »Ich kann das nicht in Worte fassen, sodass es auch nur ansatzweise rüberkommt, wie schön er tatsächlich war.«

Weil ich nicht ansatzweise über die Wortmagie verfüge, die dafür nötig gewesen wäre. Während Yule hingegen ein Zaubermeister ist.

»Stell dir einfach vor, du wärst die einzige Person, die weiss, wie schön es ist. Stell dir vor, du wärst die Einzige, die es sieht, die der Schönheit Beachtung schenkt. Stell dir vor, wie traurig es wäre. Wenn niemand es schätzen würde.«

Und da ist die poetische Antwort, die ich mir erhofft habe.

Ich lausche seinen Worten und stelle mir vor, es wäre tatsächlich so. Wenn alle Menschen blind für die Schönheit wären. Die Augen davor verschliessen, achtlos daran vorbeigehen würden. Es wäre tatsächlich ziemlich traurig.

»Und jetzt stell dir vor, du müsstest alle davon überzeugen, hinzusehen.«

Und als ich mich wieder mit der Postkarte hinsetzte, geht es plötzlich ganz leicht. Denn das Gefühl, als Einzige das Schöne in etwas sehen zu können, ist mir nicht unbekannt. Ich sehe oft Dinge, die andere nicht sehen.

Meine Mom sagt immer, ich liesse mich zu leicht ablenken, würde meine Aufmerksamkeit nicht auf die wesentlichen Dinge richten.

Aber wenn ich es mir genau überlege, dann sehe ich lieber die Blume am Strassenrand und verliere dabei vielleicht ein wenig Zeit auf meinem Weg, als dass ich vorankomme und dafür nur den Asphalt vor Augen habe.

Also erzähle ich meiner Mom auf der Postkarte von all den Blumen, die es hier gibt. Von all den Blumen, die in meinem Herzen und meinem Kopf wachsen und die Yule dort angepflanzt hat.

Ich erwarte nicht, dass sie es verstehen wird, ich zweifle sogar fast daran, aber es macht mir nichts aus, denn endlich weiss ich, was ich schreiben soll. Nur weil sie die Augen vor der Kunst verschliesst, heisst das ja nicht, dass ich aufhören muss, den Pinsel zu schwingen, oder?

🌲

Dem ein oder anderen mag vielleicht schon aufgefallen sein, dass ich Metaphern und Vergleiche liebe. Sehr. Ein bisschen zu sehr vielleicht. Aber das ist wie mit dem Kaffee - ich weiss, dass ich weniger Kaffee trinken sollte, aber ich tue es trotzdem nicht. Genau wie Yule. Und so ist es auch mit den Metaphern und Vergleichen.

Meistens entstehen sie erst dann, wenn ich den Text Korrektur lese. Und manchmal fühlt es sich dann an, als würde ich Schokostreusel auf mein Eis geben. Ein bisschen zu viele vielleicht. Aber das ist mir egal. Wirklich. 🙃😁

Vielleicht mögt ihr ja auch zu viele Sprinkles auf eurem Eis - ich würde sagen, dann können wir den Roadtrip gemeinsam fortsetzen und Freunde werden, so wie Yule und Phoenix irgendwann vielleicht auch mal Freunde werden. 🤭

(Merkt man irgendwie, dass ich Redebedarf habe? Nein? Okay, ich habe Redebedarf. Erzählt mir mal, wie eure Tage so aussehen, dann können wir ein bisschen reden.)

Danke fürs Lesen! ♥️

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