WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

07 | Brezeln

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By nebelschwere

     ... oder wie sich ein nicht allzu blinder Passagier unserer Gruppe anschloss.

     DIE NACHT IM Hotel hat gutgetan. Frisch und motiviert springe ich aus dem Bett und nach einer eiskalten Dusche habe ich auch endlich das Gefühl, sämtliche Müdigkeit abgeschüttelt zu haben. Dafür, dass es mir normalerweise große Probleme bereitet, endlich aufzustehen, geht es heute wie von selbst.

     Mathea tut sich dafür umso schwerer. Und es ist auch nicht ganz ungefährlich, sie aufzuwecken, wie ich am eigenen Leib feststellen muss. Als ich vorsichtig versuche, sie zum Aufstehen zu animieren, greift das schwarzhaarige Mädchen kurzerhand nach ihrem Schuh, den sie gestern Abend achtlos neben das Bett gekickt hat, und wirft ihn nach mir.

     Glücklicherweise ist sie auch ohne geschlossene Augen eine miserable Schützin, wodurch die Chucks Bekanntschaft mit der Kommode machen, die etwa zwei Meter von mir entfernt an der Wand steht.

     «Komm schon», versuche ich es erneuert und gehe vorsichtshalber auf Sicherheitsabstand, bevor sie doch noch einen Treffer erzielen sollte.

     «Halt die Klappe und lass mich einfach schlafen!»

     Ihre grummelnde Stimme dringt gedämpft an meine Ohren und seufzend betrachte ich ihren Hinterkopf, während sie ihr Gesicht im Kissen vergräbt. Ihre wilde Haarpracht hat definitiv schon bessere Tage erlebt.

     «Mathea!»

     Ich ziehe ihren Namen in die Länge, um sie zu nerven. Vielleicht macht es sie wacher, wenn sie sich aufregt. Aber es nützt nichts. Das schwarzhaarige Mädchen scheint wieder eingeschlafen zu sein und seufzend gebe ich es vorerst auf, meine beste Freundin dazu zubringen, den Tag mit einem Lächeln im Gesicht zu beginnen.

     Ein Versuch war's wert.

     Möglichst leise husche ich aus dem Hotelzimmer und sehe mich im menschenleeren Flur um, der von einer beunruhigenden Stille und Dunkelheit umhüllt wird. Seufzend fahre ich mir durch die feuchten Haare, während ich einen raschen Blick auf mein Handy werfe, dessen Helligkeit sich unangenehm in meine Netzhaut bohrt. Dabei habe ich bereits eine der niedrigsten Helligkeitsstufen eingestellt.

     Schließlich mache ich mich auf den Weg zu Lovis' und Ajax' Zimmer, das sich nur einige Schritte von Matheas und meinem befinden sollte. In der Theorie.

     Es in der Praxis zu finden, könnte die größere Herausforderung werden.

     Ich komme vor einer Tür zum Stehen, von der ich vermute, dass sich dahinter die beiden Jungs verbergen müssten. Allerdings habe ich keine Ahnung und da ihre Handys wohl ausgeschaltet sind, werde ich wohl einfach raten. Denn tatsächlich habe ich versucht, sie anzurufen, wurde aber sofort von der nervigen Frauenstimme abgewürgt.

     Deshalb klopfe ich seufzend mehrmals an der robusten Holztür, die einen neuen Anstrich dringend nötig hätte. Ich verschränke die Arme, als von innen ein gedämpftes Poltern ertönt, das sich anhört, als wäre gerade jemand aus dem Bett gefallen.

    Mehr oder weniger geduldig warte ich darauf, dass mir jemand endlich die Tür öffnet, damit ich weiß, ob ich richtig bin.

    Ich bin es nicht.

    Ein Junge steht mir gegenüber, höchstwahrscheinlich in meinem Alter, aber das kann ich nicht beurteilen - ich kann nicht gut schätzen. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass er derjenige sein muss, der aus dem Bett gefallen ist. In seinen grünen Augen liegt eine gewisse Schärfe und er reibt sich mit verzerrtem Gesicht den Ellenbogen, während wir uns anstarren.

     Das erste, was mir sofort auffällt, ist sein strahlendes, selbstgefälliges Lächeln, was augenblicklich sein Gesicht erhellt und nicht einmal ansatzweise so arrogant auf mich wirkt, wie es normalerweise sollte.

     Zweitens zieht sich eine feine Narbe über seine linke Wange, welche er sich wahrscheinlich vor einigen Jahren zugezogen hat, denn sie verschmilzt mit seiner gebräunten Haut und lässt sich unter gewissen Lichtverhältnissen sicher nicht einmal mehr erahnen.

     Drittens ist er genau dieser Typ, den meine Mom vergöttern würde. Spätestens jetzt hätte sie mich angestupst und mir mit vor Begeisterung leuchtenden Augen unerträglich laut ins Ohr geflüstert, dass dieser Kerl doch ein wahres Sahneschnittchen wäre.

     Zugegebenermaßen sieht er nicht schlecht aus. Aber irgendwie scheint meine Mutter zu denken, dass ich jeden halbwegs attraktiven Kerl heiraten werde. Es sollte sie dann am Ende aber nicht wundern, wenn ich mehrere Scheidungen hinter mir habe. Es war immerhin ihr Einfluss und nicht meine Intention.

     Ich seufze und spüre, wie sich mein rechter Mundwinkel hebt. «Oh, sorry, falsches Zimmer.»

     Ich mache Anstalten zu gehen, als mich die Stimme des Unbekannten zurückhält.

     «Normalerweise reiße ich die Leute aus ihrer Trance und nicht andersherum.»

     Er grinst, das höre ich. Jeder würde es hören. Ich höre auch seinen Akzent, der seiner rauen Stimme einen melodischen Beigeschmack verleiht und vermuten lässt, dass er aus einem englischsprachigen Land stammt.

     Ich drehe mich um und begegne seinem funkelnden Blick, der längst nicht mehr scharf ist, sondern vielmehr außerordentlich belustigt. Ich meine Augen kurz über seine Erscheinung wandern, wobei es mich nicht wirklich überrascht, was ich sehe. Seine Ausstrahlung hat mir im Grunde schon einen gesamten Steckbrief ins Gesicht geworfen.

     «Frischer Wind tut immer gut», sage ich schulterzuckend, nachdem meine Augen wieder seinen begegnen.

     Er grinst noch breiter und verschränkt die Arme vor der Brust. Die haselnussbraunen Haare stehen wirr in alle Richtungen ab und die graue Jogginghose sowie das blasse T-Shirt sind noch vom Schlaf zerknittert. Da fühlt man sich doch glatt overdressed.

     «Möglich.»

     «Das ist awkward», meine ich und kneife die Augen zusammen, woraufhin ihm ein herzhaftes Lachen entwischt.

     «Was? Die Situation?», will der Grünäugige wissen und lehnt sich gegen den Türrahmen.

     Zumindest hat er das vor. Er steht zu weit hinten und taumelt einige Schritte, bis er wieder festen Halt findet. Ich grinse, während er die Unannehmlichkeit mit einem kurzen, angespannten Lachen zu überspielen versucht.

    «Okay, ja», sagt er schmunzelnd und fährt sich durch die gewellten Haare. «Das ist wirklich unangenehm.»

    Ich nicke besätitgend und kann nicht verhindern, dass ein amüsiertes Grinsen auf meine Lippen huscht. «Sag' ich ja.»

     Er unternimmt einen zweiten Versuch und erwischt diesmal tatsächlich den Türrahmen. Seine Mundwinkel heben sich noch ein Stückchen mehr. Mittlerweile müsste es ihm wehtun. Aber er strahlt einfach weiter und ich genieße diese Stille zwischen uns absolut gar nicht.

     «Ich geh dann mal», sage ich abrupt und will mich ein zweites Mal umdrehen, aber wieder hält er mich auf.

     «Willst du mich schon alleine lassen?»

     «Ich bin beim falschen Kerl gelandet», erwidere ich schulterzuckend. «Ich wüsste nicht, was ich noch länger hier machen sollte.»

     Das Grinsen scheint meiner neuen Bekanntschaft sicher nicht mehr aus dem Gesicht weichen zu wollen und ich frage mich, ob das für ihn typisch ist.

     «Ich bin Zale», stellt sich der Braunhaarige dann vor und hält mir die Hand hin.

     Ich hebe eine Augenbraue und spiele kurz mit dem Gedanken, ihn einfach stehenzulassen. Schließlich habe ich gerade besseres vor, als mich mit ihm anzufreunden. Lovis und Ajax zu suchen, zum Beispiel.

     Aber Zale ist interessant. Er ist nicht die Sonne, aber auch nicht von ihr abhängig. Er bringt seine Welt selbstständig zum Leuchten und das erinnert mich an meinen Freundeskreis. Zale strahlt und braucht dafür keine Hilfe. Die Welt dreht sich nicht um ihn, aber er dreht sich auch nicht um die Sonne.

     «Talia.»

     Ich schüttle seine Hand und lächle ihn an.

     «Freut mich, dich kennenzulernen», erwidert Zale grinsend und verschränkt nach unserem höflichen Gruß die Arme vor der Brust, während seine Augen weiterhin leuchten und mich betrachten.

     Wieder einmal fällt mir sein Akzent auf. «Amerikaner?»

    Kurz verwirrt runzelt der Braunhaarige die Stirn, bis sich sein Gesicht dann schließlich doch aufhellt und er kopfschüttelnd lacht. «Ne, ich bin gebürtiger Teetrinker.»

     «Also ist das Klischee wahr?», will ich grinsend wissen.

     «Teilweise, schätze ich», antwortet Zale schulterzuckend. «Auf mich trifft es jedenfalls zu. Und du? Gebürtige Biertrinkerin?»

     Sein Grinsen verrutscht nicht eine Sekunde.

     «Bier ist scheiße», sage ich und er lacht schon wieder. «Gebürtige Brezelesserin kommt schon eher hin.»

     «Oho, die Deutschen und ihre Brezeln.»

     Zales Augen strahlen und ich vergesse kurzzeitig, dass ich für diesen Morgen eigentlich einen ganz anderen Plan habe. Denn es macht erstaunlich viel Spaß, sich mit ihm zu unterhalten.

     «Sag ja nichts gegen Brezeln», warne ich ihn grinsend und lehne mich gegen die kühle Wand des Flures.

     Zale lacht. «Dafür liebe ich sie selbst viel zu sehr.»

     Seine Augen glitzern hell in der erdrückenden Dunkelheit des Flures und ich genieße die Atmosphäre, die den Brite umgibt. Er gibt einem das Gefühl, dass man sich stundenlang über die banalsten Dinge mit ihm unterhalten könnte. In einem typischen amerikanischen High-School-Film wäre er der beste Freund der Protagonisten, den jeder einfach lieben muss, weil er diese Vibes hat, die jeder im Leben sucht.

     «Ist es unhöflich, wenn ich frage, wieso du so gut Deutsch kannst?», frage ich schmunzelnd und er schüttelt amüsiert den Kopf.

     «Für mich nicht», erwidert er. «Meine Mom war Deutsche. Wir haben zwar in Großbritannien gewohnt, aber sie hat mit mir ausschließlich deutsch gesprochen.»

    «Und was genau machst du dann hier, wenn ich fragen darf? Ist es hier nicht etwas zu sonnig?»

     Ich grinse und er schmunzelt, wobei er mir einen tadelnden Blick schenkt. «Großbritannien ist nicht nur London, Schätzchen. Nicht alle sind depressiv.»

     «Das glaub' ich erst, wenn ich's sehe.»

    «Du bist herzlich eingeladen.»

    Ich verdrehe die Augen. «Beantwortest du meine Frage?»

     Zale zuckt schmunzelnd mit den Achseln, bis er sich dann doch entscheidet, zu antworten: «Aufgrund diverser Umstände bin ich hier für einige Nächte gelandet.»

     «Das müssen beschissene Umstände gewesen sein.»

     Er lacht ein weiteres Mal. Sein Lachen ist unerwartet hell, aber nicht störend. Viel mehr, als würde Sonnenlicht das dunkle Haus mit Leben durchfluten.

     «Schon, ja.»

     Natürlich grinst Zale wieder. Ich glaube, er kann gar nicht anders, als mit gehobenen Mundwinkeln durchs Leben zu rennen. Es würde meinen Eindruck bestätigen, dass Zale so ziemlich die optimistischste Person dieser Welt ist. Alles an ihm schreit nach Sonnenblumen, Hundewelpen und Zuckerwatte. Alles an ihm schreit nach Glück.

     Mein Handy vibriert und ich ziehe es verwirrt aus meiner Hosentasche. Lovis' Name blinkt auf dem Bildschirm, was mich jäh daran erinnert, weshalb ich eigentlich in diesem Flur stehe.

     Ich schenke Zale ein schwaches Lächeln. «Ich muss los. Hat mich gefreut, mich mit dir zu unterhalten. Und sorry, dass du meinetwegen aus'm Bett gefallen bist.»

     «Ich bin nicht aus dem Bett gefallen?»

     Seine Augen verraten ihn und ich muss lachen. Wahrscheinlich kann man in Zales Gegenwart gar nicht anders, als lachen zu müssen.

     «Schon klar.»

[...]

     Mathea hat schlechte Laune. Ihre Augen sind zusammgekniffenen und ihre Körperhaltung macht deutlich, dass sie jeden Moment explodieren könnte. Deshalb bin ich vorsichtig. Ich will nicht im nahen Umkreis der hochgehenden Bombe sein.

     Die Gewitterwolken, die unsere Freundin an den Tag legt, machen Lovis und Ajax mit ihrem Sonnenschein wieder etwas angenehmer. Die beiden haben so gute Laune, dass es fast schon wehtut, sie anzusehen.

     Während Lovis munter ein Lied vor sich hinsummt, schlendert Ajax über den Parkplatz – die Hände in den Taschen seiner Jogginghose vergraben. Er wippt zum Takt einer Melodie, die keiner außer ihm hören kann. Aber das stört ihn nicht.

     Es ist verdammt schön, ihn so losgelöst zu sein. Ajax balanciert stets auf der Kante zwischen Freiheit und Pflichtgefühl. Und gerade jetzt neigt er sich der Schlucht zu. Ich weiß, dass er den Fall, entgegen seiner Erwartung, lieben wird. Aber es kann noch eine Weile dauern, bis er das Gleichgewicht verliert, an das er sich so verzweifelt klammert.

     «Wo warst du eigentlich?»

     Lovis blickt mich neugierig an und ich zucke lächelnd mit den Schultern. «Hab' einen Briten getroffen.»

     Amüsiert hebt meine Bruder eine Augenbraue und passt sich meinem gemächlichen Schritt an. Ich bin von mir selbst überrascht, dass ich in der Lage bin, so langsam zu laufen. Es ist irgendwie unnatürlich.

     «Ein Brite also?»

     Er grinst und ich seufze, richte meinen Blick wieder auf Ajax, der bereits an unserem Wagen lehnt und auf uns wartet. Mathea ist irgendwo hinter uns. Von ihr ist nur gelegentlich ein angepisstes Schnauben zu vernehmen.

     «Ein Brite also.»

     «Wie hast du ihn getroffen?», erkundigt Lovis sich, während seine Augen ebenfalls zu Ajax huschen.

     «Wie gesagt: Ich hab' euer Zimmer nicht gefunden. Und bin dann irgendwie bei ihm gelandet», antworte ich und fahre mir durch die Haare, welche durch die brennende Sonne bereits erwärmt wurden. «Dann haben wir uns unterhalten. Nichts Spektakuläres.»

     Ich sehe, wie Lovis enttäuscht das Gesicht verzieht und lache. Er ist wie unsere Mutter: Immer auf interessante Neuigkeiten erpicht. Irgendetwas weltbewegendes. Oder zumindest ungewöhnliches. Lovis liebt Drama, so lange es nicht unsere Freundesgruppe betrifft.

     «Tut mir leid, dass ich deinen Erwartungen nicht gerecht werde», sage ich grinsend.

     «Enttäuschend, Talia. Einfach nur enttäuschend.»

     Mein Bruder schenkt mir ein kurzes Zwinkern und gesellt sich dann zu Ajax, welcher sich aus dem Wagen eine Mate besorgt hat und gerade dabei ist, das Getränk zu öffnen. Ich danke Mathea und Lovis stumm, dass sie daran gedacht haben, mehrere Flaschen zu besorgen. Wir sind irgendwann alle von dieser Flüssigkeit abhängig geworden.

     Neugierig drehe ich mich zu dem schwarzhaarigen Mädchen um, welches einige Schritte hinter mir über den Asphalt trottet. Ihr sturer Blick ist auf den Boden gerichtet, wodurch ihr einige Strähnen ins Gesicht fallen. Genervt steckt Mathea sie sich wieder hinter die Ohren, wo sie allerdings nicht lange verweilen.

     «Was ist los?», erkundige ich mich vorsichtig und trete an ihre Seite.

     Sie atmet geräuschvoll aus, rollt mit den Augen. Dann begegnen sich unsere Blicke. Eis trifft auf Sonne. Und langsam taut ihre Wut auf. Wie immer.

     «Meine Eltern haben angerufen», erwidert Mathea und ich merke, wie sich meine Augen überrascht weiten, während sie weiterspricht. «Waren nicht sonderlich begeistert. Aber im Großen und Ganzen interessiert es sie einen Scheiß. Die haben einfach genug von mir, schätze ich.»

     Es liegt keine Enttäuschung in ihrer Stimme und ich weiß, dass sich auch in ihren Gedanken keine Trauer finden lassen wird. Denn irgendwann hat das schwarzhaarige Mädchen mit der Tatsache abgeschlossen, dass sie mit ihren Eltern niemals ein enges Verhältnis haben wird. Und irgendwann war es in Ordnung.

     «Was haben sie gesagt?»

     Mathea grinst. «Dass ich meinen Arsch nach Hause bewegen soll.»

     Meine Mundwinkel zucken verräterisch. «Keine Zeitangabe?»

     «Ne, ich glaube, wir können uns alle Zeit der Welt lassen», antwortet meine Freundin schmunzelnd und streicht sich zum wiederholten Male eine Strähne aus dem Gesicht. «Es hat mich nur genervt, dass sie tausendmal angerufen haben. Als würde es sie interessieren.»

     Sie schnaubt verächtlich und ihr Blick gleitet wieder gen Boden.

     Ich nicke, halbwegs verständnisvoll. Aber, um ehrlich zu sein, werde ich es nie ganz verstehen können. Denn Lovis und ich hatten Glück. Unsere Eltern standen uns nie im Weg. Aber sie lieben uns und ich werde nie kapieren, wie Eltern ihre Kinder nicht lieben können.

     Wir kommen bei Lovis und Ajax an, die dabei sind, ihre Rucksäcke wieder im Wagen zu verstauen. Mathea und ich folgen ihrem Beispiel und treten dann wieder zu den anderen nach draußen. Wir schweigen, die Autobahn rauscht, die Luft flimmert.

     Aus den Augenwinkeln sehe ich einige Personen, die das schäbige Hotel ebenfalls verlassen. Zu meiner Überraschung ist unter ihnen auch Zale. Sein haselnussbrauner Schopf sticht kaum aus der Masse heraus, aber seine Aura scheint die anderen zu verwirren. Sie machen ihn Platz und unsere Blicke begegnen sich.

     Mit seinem selbstsicheren Grinsen auf den Lippen kommt er auf uns zu. Ich starre ihn fragend an, er grinst weiter.

     «So schnell sieht man sich wieder», begrüßt er mich euphorisch und zieht mich in eine kurze Umarmung.

     Ich spüre die Blicke der anderen auf mir. Mathea ist irrtiert, Lovis überrascht und Ajax offensichtlicht genervt. Und ich bin irgendwie überfordert.

     «Das ist Zale», stelle ich den braunhaarigen Jungen schnell vor.

     «Der Brite?», will Lovis schmunzelnd wissen.

     Zale grinst ihn an. «Der Brite.»

     «Was hab' ich verpasst?», wirft Mathea dazwischen und blickt mich neugierig an.

     Sie tritt zu Lovis, Zale und mir, während Ajax mit verschränkten Armen am Wagen steht und die Situation aus zusammengekniffenen Augen betrachtet. Ich weiß, dass er nicht gut auf fremde Menschen zusprechen ist. Also wundert es mich nicht, dass er seinen Abstand zu der Gruppe hält und abwartet.

     Ich blicke zu meiner Freundin, deren blaue Augen interessiert funkeln. «Ich hab' ihn vorhin kennengelernt.»

     Mathea nickt verstehend.

     «Ihr habt nicht zufällig noch Platz?», will der Brite wissen und deutet mit einem knappen Nicken auf den Wagen hinter uns. «Ich könnte eine Mitfahrgelegenheit nach wohin auch immer gebrauchen.»

     Lovis und ich tauschen einen raschen Blick, ehe meine Augen auf Ajax' treffen und er mir ein sanftes Lächeln samt Schulterzucken schenkt. Mein Kopf wandert wieder zu Zale, die uns anlächelt. Er wirkt nicht hilflos, aber er ist die Art von Mensch, die du gerne bei allem dabei haben willst.

     Deshalb heben sich meine Mundwinkel und ich nicke. «Steig ein.»

     «Aber lass bloß die Finger von den Keksen!»

     Zale lacht über Lovis' Worte, der ihn munter angrinst und kurz vor ihm in den Wagen huscht. Mathea folgt ihnen und ich bleibe mit Ajax draußen zurück.

     «Er ist in Ordnung», sage ich mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen.

     «Ich weiß», erwidert der Franzose schmunzelnd. «Außerdem kann ich mir vorstellen, dass die ganze Fahrt durch ihn noch etwas amüsanter wird.»

     Ich nicke lachend. «Da bin ich mir sogar ziemlich sicher.»

     Ajax lässt seine Hände wieder in die Taschen seiner Hosen wandern und blickt an mir vorbei ins Leere. Für einen Augenblick sagt niemand von uns ein Wort. Ich lausche den Geräuschen der Umgebung, die man irgendwie nur richtig wahrnimmt, wenn man sich auf nichts anderes konzentriert. Die Vögel, die rauschenden Blätter, der säuselnde Wind.

     «Haben sich deine Eltern schon gemeldet?»

     Ajax' Frage sorgt dafür, dass in meinen Ohren nur noch die Geräusche der Autobahn sind. Alles andere tritt wieder in den Hintergrund.

     «Jap», seufze ich und verschränke die Arme der Brust, mein Blick wandert zu dem nahgelegenen Wäldchen. «Dutzende Male.»

     Ajax lacht leise und nimmt einen Schluck seiner Mate. Auffordernd strecke ich meine Hand nach der Flasche aus und er lässt mich ebenfalls davon trinken. Dankbar gebe ich ihm das Getränk schließlich zurück und blicke ihn neugierig an.

     «Was ist mit dir?», frage ich. «Hat dein Vater sich gemeldet?»

    Ajax' Körper spannt sich kurz an, bis er den Kopf schüttelt und mich schief angrinst. «Noch nicht. Aber ich wette, dass er die Kreditkarte sperren wird. Wir sollten uns ganz schnell um genügend Bargeld kümmern.»

     Zustimmend nicke ich, ehe mich auf den Weg mache, in den Wagen zu steigen. «In der nächsten Stadt können wir ja Halt machen.»

     Ajax folgt mir und setzt sich hinters Lenkrad. Kurz danach erweckt er den Motor zum Leben und manövriert unsere kleine Fahrgemeinschaft aus dem Hinterhof und auf die Autobahn.

    Zale hat sich zu Lovis gesellt. Beide unterhalten sie begeistert miteinander und ich muss bei ihrem Anblick schmunzeln. Da scheinen sich wohl zwei mit ähnlicher Energie gesucht und gefunden zu haben. Mathea sitzt wieder hinter mir und hat den Blick auf ihr Handy gerichtet – vermutlich gerade in einer Diskussion mit ihren Eltern verstrickt, denn ihre Augen sind unzufrieden zusammengekniffenen.

     Und wieder einmal fahren wir einfach drauf los. Ohne Ziel, ohne Plan.

[...]

     «Was genau machst du eigentlich hier?», will Mathea von Zale wissen, nachdem sie ihr Handy in ihrer Jackentasche verschwinden lässt und sich nun an dem Gespräch beteiligt, das Lovis, Zale und ich in den letzten Minuten aufgebaut haben.

     Angesprochener fährt sich durch die zerzausten Haare und zieht die Beine an, bis er die Füße auf seinem Sitz stellen kann. «Ich bin vor ungefähr einem Jahr zu meinem Freund nach Deutschland gezogen. Er hat sich vor ein paar Monaten von mir getrennt. Seitdem wandere ich durch die Gegend.»

     Bei jedem anderen hätte ich wohl gesagt, dass es mir leid täte. Aber nicht bei Zale. Es liegt kein Schmerz in seiner Stimme, sein Körper ist entspannt und in seinen Augen funkelt weiterhin das pure Leben.

     Lovis zieht irritiert die Augenbrauen zusammen. «Was machst du dann noch hier? Könntest du nicht zurück?»

     «Ne, nicht wirklich», lacht Zale und nippt an der Coladose, die Lovis ihm gereicht hat. «Meine Tante hasst mich schon genug. Die würde mich nicht aufnehmen. Und genug Geld für 'ne Wohnung hab' ich sowieso nicht.»

     Er zuckt mit den Schultern und lächelt.

     «Sonst keine Verwandten oder Freunde, bei denen du unterkommen könntest?», hakt Lovis neugierig nach.

     Es scheint den gebürtigen Briten nicht zu stören, dass wir so interessiert an seinem Leben sind. Viel mehr wirkt es, als würde er die Aufmerksamkeit genießen. Auf eine erstaunlich sympathische Art und Weise.

     «Meine Eltern sind schon eine Weile tot und mit meinen Freunden hab' ich seit einem Jahr nicht mehr gesprochen», erwidert Zale. «Die scheinen mich nicht sonderlich zu vermissen.»

     Ich frage mich, wie bei seinen Worten immer noch ein Grinsen auf seinen Lippen liegen kann. Vermutlich ist nichts in der Lage, diesem Menschen den Tag zu versauen.

     «Das mit deinen Eltern tut mir leid», sagt Mathea vorsichtig und lächelt. «Und mit deinen Freunden auch. Das sind Arschlöcher.»

     Zale zuckt mit den Schultern. «Ist okay. Ich bin niemand, der Dingen lange hinterher trauert. Das hätten Mom und Dad nicht gewollt.»

     Kurz schweigen wir und ich werfe einen raschen Blick auf Ajax, der unserem Gespräch mit einem Ohr zu lauschen scheint. Ansonsten ist er komplett auf die Straße konzentriert, was ihn wohl nicht sonderlich stört.

     «Du sprichst viel zu gut, als dass du erst seit einem Jahr hier sein kannst», sagt Lovis schließlich mit gehobenen Mundwinkeln.

    Über Zales Gesicht huscht ein amüsierter Ausdruck und mir entgeht der Blick nicht, den er mir zuwirft, während ich einfach stumm dem Gespräch lausche.

     «Meine Mom war Deutsche», erklärt er. «Sie hat sich nie auf Englisch mit mir unterhalten. Ihr habt's hier also mit einem brezelliebenden Teetrinker zu tun.»

     Er lacht sein angenehmes Lachen und wir stimmen mit ein. Ich sehe, dass sogar auf Ajax' Lippen ein amüsiertes Grinsen liegt, obwohl er bis jetzt wie ich noch kein einziges Wort von sich gegeben hat.

     «Jetzt hab' ich Hunger», jammert Mathea leise.

     Nachdem wir uns gerade beruhigt haben, bringt uns dieser kleine Kommentar schon wieder zum Lachen. Zales Augen funkeln mindestens so hell wie die Sonne und Lovis krümmt sich auf seinem Sitz zusammen. Dabei war es nicht mal wirklich lustig. Aber wahrscheinlich sind wir bereits alle ein bisschen high vom Leben. Und dann ist urplötzlich alles lustig.

____

[author's note]

joa und auf einmal war zale mit am start haha
ich weiß noch nicht genau, wie sich das ganze mit einem weiteren reisebegleiter entwickeln wird oder wie lange wir zale's gesellschaft genießen werden. aber eigentlich ist gerade das das beste für mich an dieser geschichte haha
schönen abend euch noch :D

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