WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
02 | Schaukel
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

05 | Ruhe

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By nebelschwere

     ... oder wie ein Kampf um die Kekse ausbrach.

     DER GRUND, WESHALB ich es liebe, durch die Welt zu reisen, ist ausgesprochen simpel: Er nennt sich Freiheit. Ich reise, um mich frei zu fühlen und jedem Bild, das ich auf Instagram sehe, ein wenig mehr Realität einzuhauchen.

     Reisen ist das beste Mittel gegen Vorurteile. Reisen ist das einzige Medikament, was das Gift in unseren Köpfen zu töten vermag. Die Menschen, die am meisten auszusetzen haben und als erste ihre Mäuler aufreißen, um über das Leben anderer zu urteilen, was sie einen Scheiß angeht, sind auch diejenigen, die noch absolut gar nichts von der Welt gesehen haben.

     Reisen macht uns alle ein Stück menschlicher und dafür müssen wir uns nicht einmal für zwanzig Stunden ins Flugzeug setzen. Eine Fahrt in das benachbarte Land tut's auch. Und manchmal ist auch ein Ausflug in die nächste Großstadt ausreichend.

     Frei zu sein ist ein Privileg, doch viele haben vergessen, dass es einer ist. Wir vergessen, wie wichtig es ist, den Jüngsten zu zeigen, dass sie frei sind. Man spricht von dem Recht, frei zu sein, anstatt von der schlichten Tatsache, dass jeder Mensch frei ist. Dass wir handeln können, wie es uns beliebt, so lange es niemanden verletzt.

     Während ich die vorbeiziehende Landschaft betrachte, frage ich mich, wann ich mich zuletzt wirklich frei gefühlt habe. Vielleicht als Kind. Wenn man auf einer Schaukel sitzt und das Gefühl hat, dem Himmel noch näher zu sein, als man es in einem Flugzeug wäre, dann ist das Freiheit. Oder zumindest fühlt es sich für mich so an.

     Aber Freiheit ist so viel mehr, als Wind in den Haaren und einen endlosen Weg vor den Augen. Freiheit ist wie Glück – man kann es nicht genau beschreiben. Man kann es nur fühlen.

     Meine Augen huschen zu Ajax, der stumm lächelnd am Steuer des alten Wagens sitzt, während Lovis und Mathea hinter mir ihre Gesangskünste zum Besten geben. Ein Grinsen huscht auf meine Lippen, während ich ihren schiefen Tönen lausche. Aber es ist angenehm, denn sie sind zufrieden. Zufrieden mit der Situation und in diesem Moment auch mehr als nur zufrieden mit dem Leben.

     Keiner von uns vieren ist mit einer wundersamen Stimme gesegnet worden, aber wir lassen es uns nicht nehmen, regelmäßig Karaoke-Abende zu organisieren. Und macht das nicht auch eine gesunde Freundschaft aus? Dass man Dinge tun kann, die einem eigentlich unangenehm sind, aber für die man nicht verurteilt wird? Es wäre so viel langweiliger, wenn wir in allem gut wären. Wir könnten uns dann nicht beim gegenseitigen Versagen zuschauen.

     Hier sind wir also. Auf irgendeiner Autobahn, von der wir keine Ahnung haben, wo sie uns hinführen wird und mit mehr als genug Essen im Gepäck, von dem wir uns wahrscheinlich Wochen ernähren können.

     Keiner von uns hat es je laut ausgesprochen, aber ich glaube, dass wir alle das gleiche Ziel verfolgen. Wir wollen nicht an einem bestimmten Ort ankommen, sondern in der Freiheit. Irgendwo zwischen den verheißungsvollen Wellen und mysteriösen Steinlandschaften.

     «Wohin geht's jetzt eigentlich?», erkundigt Mathea sich neugierig, nachdem die letzten Töne des Liedes verklungen sind.

     «Wie wär's, wenn wir uns jeden Tag einfach eine Himmelsrichtung aussuchen und losfahren? Irgendwann müssen wir ja irgendwo ankommen», schlägt Ajax vor und blickt durch den Rückspiegel zu uns.

     Zustimmend nicke ich. «Klingt nach einem guten Plan.»

     «Bin dabei», ertönt Lovis' gedämpfte Stimme von hinten.

     «Als hättest du jetzt noch eine Wahl gehabt», lacht Ajax leise und richtet seinen Blick wieder auf die Fahrbahn.

     Die Sonne brennt auf die Welt, sodass die Oberfläche flimmert. Eine richtige Klimaanlage haben wir hier natürlich nicht, wodurch sich die Hitze durchaus deutlich macht und machen wird.

     «Da wir gerade sowieso Richtung Osten fahren, könnten wir die ja einfach beibehalten», sage ich und beobachte, wie uns ein silberner VW überholt.

     Ein neckendes Funkeln tritt in Ajax' Augen. «Da kann wohl jemand das Meer noch nicht zurücklassen.»

     Schmunzelnd zucke ich mit den Schultern.

     Es stimmt. Ich liebe das Meer. Mehr, als alle anderen Orten, die ich bis jetzt gesehen habe. Großstädte konnten mich noch nie faszinieren und überfüllte Plätze schon gar nicht. Deshalb sind die Touristestrände für mich auch noch nie interessant gewesen. Je abgeschiedener der Ort, desto besser. Wahre Freiheit liegt im Gefühl der Unentdecktheit.

     «Ich bin dafür, dass wir demnächst anhalten und uns umschauen», kommentiert Mathea und streckt sich gemächlich.

     «Wir sind aber noch gar nicht lange unterwegs», entgegne ich. «Wollen wir nicht lieber noch ein wenig weiterfahren?»

    «Wovor hast du Angst?», fragt meine beste Freundin, während ein sanftes Lächeln auf ihre Züge tritt. «Sie werden uns schon nicht mit Spürhunden suchen kommrn.»

     «Da wäre ich mir jetzt nicht so sicher», lacht Lovis, doch ich finde die Situation im Gegensatz zu ihm nicht ganz so amüsant.

     «Was machen wir, wenn sie uns suchen gehen?», will ich wissen.

     «Was soll schon passieren?»

     Ich blicke Ajax aus zusammengekniffenen Augen an. «Die könnten die Polizei auf uns hetzen. Wir sind minderjährig.»

     Ich klinge wie Ajax. Genau so unschlüssig und vorsichtig; darauf bedacht, irgendwie das Richtige zu tun und nicht zu viel zu riskieren.

     «Noch», erwidert Mathea grinsend. «Ajax wird bald achtzehn. Und dann ist das hier nicht einmal mehr illegal. Außerdem werden die nicht irgendwelchen siebzehnjährigen Ausreißern hinterherjagen.»

     «Sie hat recht», stimmt Lovis ihr zu und grinst mich an. «Keine Sorge, Prinzessin, wir werden dich vor den bösen Wölfen beschützen.»

     Schnaubend wende ich den Kopf ab und blicke aus der Frontscheibe, doch drehe mich recht schnell wieder zu meinen Begleitern um, als ich meinen Bruder lachen höre. «Nicht nötig, herzlichen Dank.»

     «Die Prinzessin wird nie von Wölfen gejagt», wirft Mathea mit hochgezogener Augenbraue dazwischen. «Nur von den neidischen Königinnen.»

     Seufzend verdreht Lovis die Augen. «Das war eine Metapher, Süße.»

     «Nenn mich noch einmal so, wenn du möchtest, dass wir deinem Leben ein verfrühtes Ende bereiten.»

     «Du bist immer so verdammt dramatisch, weißt du das eigentlich?»

     «Wieso ziehst du eigentlich Talia und mich mit rein?», erkundigt Ajax sich verwirrt.

     «Ich wollte nur gesagt haben, dass Süße so ziemlich der schlimmste Kosename auf dieser Welt ist», rechtfertigt Mathea sich, wobei sie die Aussagen ihres Kumpels wohl nicht gehört hat.

     «Das erklärt immer noch nicht, warum wir dir helfen sollen, Lovis umzubringen», erwidert Ajax grinsend.

     Es macht ihm Spaß, seine Freunde zu nerven.

     Und da wir so ziemlich seine einzigen sind, kriegen wir es natürlich jeden Tag ab. Ich will mich nicht beschweren, denn so lange es auf die Kosten anderer geht und ich mitlachen kann, was so gut wie immer der Fall ist, habe ich damit kein Problem.

     Eine Einstellung, die man sonst nicht an den Tag legen sollte. Denn dann ist man wahrlich ein Arsch. Und die Welt ist schon verkorkst genug.

     «Also ich helfe gerne», sage ich möglichst unbeteiligt und versuche, mein Grinsen zu unterdrücken, während ich beobachte, wie sich Lovis' Gesichtsausdruck verhärtet.

     «Siehst du?», freut Mathea sich und lächelt Ajax an. «Wir sind schon zu zweit.»

     «Ajax? Kannst du mir Französisch beibringen, damit wir unbemerkt Mordpläne aushecken können?»

     «Keine Chance», lehnt Ajax das Angebot sofort ab. «Wenn du genau so viel Talent hast, wie deine Schwester, dann kann ich das nicht verantworten.»

     «Bitte?»

     Empört blicke ich ihn an, aber mein bester Freund schenkt mir bloß ein schelmisches Grinsen und ein kurzes Zwinkern durch den Rückspiegel. «Sorry, aber meine Ohren bluten immer noch.»

     «Du bist so unsensibel», beschwere ich mich und verschränke die Arme vor der Brust.

     «Ha!», ruft Lovis aus. «Dass das gerade von dir kommt, überrascht mich jetzt doch ein bisschen.»

     «Wenn du damit andeuten willst, dass ich unsensibel sei, was ich definitiv nicht bin, empfehle ich dir, deine nächsten Worte mit Vorsicht zu wählen», zische ich meinem Bruder zu, welcher sich durch die zerzausten Haare fährt. «Du bist nicht der einzige Mensch, der weiß, wie man schnell ein Loch gräbt.»

     Es sind kindische Aussagen, die meinen Mund verlassen, aber es ist in Ordnung, da wir alle wissen, dass hier niemand irgendwas wirklich ernst meint.

     «Du kannst schnell Löcher graben?», erkundigt Mathea sich grinsend. «Was macht ihr denn in eurer Freizeit?»

     «Versteckte Talente», antwortet Lovis bloß und schiebt sich einen weiteren Keks in den Mund.

     Die Packung dürfte mittlerweile fast komplett leer sein.

     «Ich plane dich für die nächste Talentshow ein», meint das schwarzhaarige Mädchen schmunzelnd, bis ihr die Blick auf die Kekse fällt. «Hast du die alle alleine gegessen?»

     Verständnislos nickt Lovis. Zu mehr ist er auch nicht in der Lage.

     «Du bist so verdammt egoistisch», murrt Mathea genervt und streckt sich nach der Süßigkeit aus.

     Lovis wittert die Gefahr. Mit einem panischen Ausdruck in den runden Augen reißt er die Packung an sich und blickt Mathea warnend an.

     Ich versuche, ihren Kampf um die Kekse auszublenden und scrolle durch Instagramm, bis mich der ganze gefälschte Schimmer so sehr abfuckt, dass ich mein Handy schnaubend zurück in meinen Rucksack werfe und auf die Fahrbahn starre.

     Wieso müssen Menschen immer so tun, als wäre ihr Leben perfekt? Mag man andere Personen nicht so viel mehr, wenn man ihre Fehler und Macken sieht?

     Der Blinker wird betätigt. Das Klicken ist nervig, aber ich ignoriere es weitesgehend.

     «Wohin geht's?», erkundige ich mich bei Ajax, doch dann sehe ich schon das Tankstellenschild.

     «Muss auf's Klo», antwortet der Fahrer und lenkt den Wagen auf einen der freien Parkplätze.

     Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhrzeit, die ich, obwohl ich gerade erst mein Handy in der Hand hatte, schon wieder vergessen habe. Kurz vor um drei. Wir sind schon einige Stunden unterwegs, außerdem hätte ich nichts gegen ein paar Kaugummis einzuwenden. Mit einem raschen Blick zu Lovis und Mathea scheint es ebenfalls sinnvoll, zwei neue Kekspackungen zu besorgen, damit die beiden aufhören, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

     «Kommt, Leute!», rufe ich ihnen zu, während Mathea meinem Bruder gerade genervt erklärt, dass man als egozentrischer Mensch zwar weit kommt, aber für immer alleine bleiben wird.

     Lovis versteht dem Zusammenhang zwischen dieser These und den Keksen nicht.

     Seufzend schüttle ich den Kopf und folge Ajax aus dem Wagen. Mit den Händen in den Hosentaschen schlendert der hochgewachsene Junge gerade auf die Tankstelle zu.

     Es ist verdammt warm. Die Sonne verbrennt die Haut und jede Sekunde fühlt sich unendlich lang an. Ich liebe den Sommer, aber diese Hitze bereitet mir ausschließlich stechende Kopfschmerzen.

     «Es gibt eine Sache, die ich mit am meisten an Deutschland liebe», sagt Ajax plötzlich, als ich zu ihm aufgeschlossen habe und wir nebeneinander den Weg entlang laufen.

     Grinsend drehe ich ihm meinen Kopf zu. «Die fünzehn verschiedenen Arten, Kartoffeln zuzubereiten?»

     Ein sanftes Lachen ertönt, welches schon seit geraumer Zeit dafür zu sorgen scheint, dass für mich eine Sonne aufgeht, die endlich einmal nicht zu heiß ist.

     «Das auch», antwortet Ajax schließlich und blinzelt in die strahlende Sonne. «Ich habe aber eher an etwas anderes gedacht.»

     «Und was ist das, wenn ich fragen darf?»

     «Die Sanifairtoiletten.»

     Jetzt ist es an mir, in Gelächter auszubrechen, auch wenn ich ihm in diesem Punkt definitiv zustimmen kann und muss.

     Dann schweigen wir. Ich fühle mich von der Stille nicht erdrückt – es war noch nie erdrückend, mit Ajax zu schweigen.

     Die Autos rasen über die Autobahn und die Bäume rascheln. Wahrscheinlich bilde ich es mir ein, aber ich meine, das Meer in der nahen Ferne rauschen zu hören.

     Ajax läuft voran und öffnet die Glastür mit den Schultern. Er grinst mich an und wir betreten gemeinsam den Raum, welcher eine angenehme Kühle ausstrahlt. Dankbar fahre ich mir durch die Haare und genieße die willkommene Frische.

     Neben uns ist da nur eine weitere Frau, die sich über die Eistruhe lehnt und ihren Inhalt studiert.

     Ich blicke über die Schulter, doch Mathea und Lovis scheinen nicht vorzuhaben, uns zu folgen. Seufzend beschließe ich, den beiden ein paar Snacks mitzubringen, damit sie zumindestens für einige Zeit Ruhe geben. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass wir mindestens drei Kekspackungen auf Vorrat gekauft haben.

     Ajax ist schon bei den Toiletten verschwunden, weshalb ich alleine zwischen den Regalen umherstreife und willkürlich nach Dingen greife. Eigentlich ist es sinnlos, denn wir haben genug, aber es ist fast schon ein Automatismus.

     Ich komme an den Magazinen vorbei. Dass es Lustige Taschenbücher und Wendy's Zeitungen immer noch gibt, überrascht mich wenig. Old but gold, schätze ich.

     Gedankenverlorenen greife ich nach einer Ausgabe der Comics, die ich als Kind mehr als nur geliebt habe und ohne wirklich auf die Bilder oder den Text zu achten, durchblättere ich das Taschenbuch, während ich darauf warte, dass Ajax zurückkehrt.

     Über die Lautsprecher dringen die typischen Lieder der Charts – gerade gibt Shawn Mendes There's nothing holding me back zum besten. Früher habe ich den Sänger und seine Musik geliebt, aber mittlerweile halte ich mich, so gut es geht, von den Charts fern. Dennoch kann ich irgendwo verstehen, wieso der Kanadier eine so große Fangemeinde hat.

     «Melancholie?»

     Ajax' amüsierte Stimme lässt mich den Kopf drehen und ich blicke in seine funkelnden Augen, die meinen Blick treffen.

     «Vielleicht», sage ich grinsend und stelle den Comic zurück.

     Irgendwann werde ich mir mal wieder alle Teile reinziehen, die ich besitze. Das dürfte zwar einige Stunden dauern, aber es wären sinnvolle Stunden.

     «Ich habe die Teile früher geliebt», erkläre ich und folge Ajax zur Kasse.

     Er greift nach einer Kaugummipackung und legt sie zu den anderen Dingen auf den Tresen, ehe er sich wieder an mich richtet. «Ich weiß. Du hast bestimmt mehrere hundert Stück.»

     «Gut möglich.»

     Ajax bezahlt schneller, als ich reagieren könnte, was mich nervt, da er bis jetzt die gesamte Reise bezahlt hat. Aber ich schätze, dass das Geld vom Konto seines Vaters abgeht. Wie durch Zauberhand stört es mich weniger.

***

     Lovis ist misstrauisch, weil ich ihm seine Lieblingsnüsse mitbringe und Mathea bedankt sich überschwänglich, als ich ihr eine neue Kekspackung übergebe.

    Die Beiden haben ihren Konflikt zwar mehr oder weniger lösen können, aber wirklich glücklich sah keiner von ihnen aus, als Ajax und ich wieder am Wagen ankamen. Und das obwohl sie aus Frust eine weitere Kekspackung gegessen haben. Umso besser also, dass ich für Nachschub gesorgt habe.

     Unsere Fahrt geht weiter und Lovis hat sich entschieden, eine Karte auszupacken, um nach einem potenziellen Ort für die Übernachtung zu suchen. Dabei ist noch nicht ganz klar, ob wir im Wagen oder in einem billigen Hotel schlafen werden.

     «Ich bin dafür, dass wir im Wagen pennen», meint Mathea. «In ein Hotel können wir später immer noch.»

     Nickend stimme ich ihr zu.

     «Okay», sagt Lovis und blickt auf die Karte in seinem Schoß. «Wohin geht's also?»

     «Bitte keine Großstadt», werfe ich rasch in die Runde und bin erleichtert, als ich Zustimmung erhalte.

     «Großstädte sind Käfige», kommentiert Ajax schnaubend. «Und welcher Mensch sperrt sich schon freiwillig ein?»

     «Ich verstehe zwar wirklich nicht, was ihr gegen das Stadtleben habt, aber für unseren Roadtrip finde ich es auch nicht geeignet», erwidert Lovis schulterzuckend.

     «Hey, wie wär's damit?»

     Mathea deutet auf das Schild einer Abfahrt, auf dem einige Namen vermerkt sind, die mir nicht im Entferntesten etwas sagen. Aber Lovis' Augen huschen sofort wieder zurück zu seiner Landkarte und er fordert Ajax rasch auf, die Ausfahrt zu nehmen, da sich anscheinend einige Dörfer in der Nähe dieser Städte befinden.

     Also fahren wir. Vorbei an dürren Sträuchern, denen die Hitze nicht bekommt. Vorbei an mikrigen Dörfern, die unfassbar demprimierend aussehen – deprimierender, als das, in dem wir wohnen. Vorbei an hohen Bäumen, denen die Sonnen nichts ausmacht.

     Irgendwann blitzt das Meer am Horizont auf. Ich habe es schon so oft gesehen und trotzdem bin ich jedes Mal aufgeregt, wenn ich die Möwen schreien hören und das Wasser sehen kann. Ich versuche, es mir nicht so sehr anmerken zu lassen, aber ich spüre Ajax' wissenden Blick, sehe Lovis' sanftes Grinsen und höre Matheas leises Lachen.

     Wir fahren immer weiter, folgen irgendwelchen Straßen, die sich einsam durch die Landschaft schlängeln. Es ist, als würden wir alten Wanderwegen folgen, die vor langer Zeit entdeckt wurden und dann in Vergessenheit gerieten.

     Der Weg wird steiler und irgendwann kommen wir ganz oben an. Ajax lenkt den Wagen auf den Parkplatz eines Aussichtsplatzes, der vollkommen verlassen in der brodelnden Nachmittagssonne liegt. Der Himmel ist grenzenlos blau.

     Wir steigen aus und werden von dem stetigen Rauschen des Windes begrüßt, der über die Landschaft fegt und uns die erdrückende Hitze vergessen lässt. Irgendwie stimmt gerade alles, auf eine sonderbare Art und Weise.

     Wir stehen am Zaun und blicken über das endlose Blau, das mich unglaublich fasziniert und mir gleichzeitig Angst einjagt. Ich stütze meine Arme auf dem alten Holz ab, das an einigen Stellen schon morsch scheint, und beobachte, wie die Vögel am Himmel kreisen und dieser mit dem ruhelosen Wasser verschmilzt. 

     Der Strand am Fuße der Klippe ist menschenleer. Es scheint einer der wenigen Orte auf der Welt zu sein, der noch nicht von den Menschen eingenommen wurde. 

     «Sicher, dass wir in die Berge wollen?», erkundigt Lovis sich grinsend, aber er kennt die Antwort bereits.

     Ich lächle. Ich liebe das Meer, aber das Meer ist nicht die Welt. Ich will mehr sehen. Ich will das Unendliche bis zum Ende bereisen und jeden verborgenen Winkel erkunden, der sich mir bietet. Ich will die Berge sehen, denn ich bin mir sicher, dass sie eine unbekannte Ruhe versprühen werden, die nicht einmal das Meer übermitteln kann.

     Keiner sagt ein Wort, aber wir sind alle dankbar dafür. Meine Augen huschen über unsere Gruppe. Mathea erwidert meinen Blick. Wir lächeln beide.

     Gute Freunde sind nicht nur die, die dich ausschließlich zum Lachen bringen. Gute Freunde sind nicht die, die dir in allem zustimmen. Gute Freunde sind nicht die, die nicht hinterfragen. Gute Freunde sind die, mit denen sich schweigen wie reden anfühlt.

     Wir verharren einige Minuten, bis erst Lovis sich umdreht und wieder in den Wagen steigt. Dann folgt ihm Mathea und schließlich auch Ajax und irgendwann ich. Wir schweigen und lauschen der Playlist, bis wir ein klitzekleines Dorf am Rande des Nichts erreichen und unser Gefährt auf irgendeiner Wiese abstellen.

     Mathea und ich sitzen auf dem trockenen Gras und schauen der Sonne beim Untergehen zu, während Ajax und Lovis mit den Longboards ins Dorf fahren, um sich dort etwas umzuschauen. Das Meer rauscht und die Möwen kreischen. Fynn Kliemanns Stimme sprudelt aus den Lautsprechern und die Zeilen von Alles was ich hab passen so unfassbar gut zu dem Gefühl, das durch meine Adern pulsiert.

     Ich fühle mich nicht komplett frei, aber es ist bereits ein großer Teil der Last von mir abgefallen. Einfach nur, weil wir etwas wagen, was so unerreichbar schien.

     Das schwarzhaarige Mädchen neben mir legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab. «Das war die beste Idee, die wir je hatten.»

     Mein Grinsen scheint langsam in meinem Gesicht festzuwachsen. Aber ich habe kein Problem damit. Von mir aus könnte es immer so sein.

     «Und dabei hat die Reise noch nicht einmal richtig angefangen.»

     Mathea lacht und mir fällt wieder auf, wie sehr ich es mag. Es ist ehrlich und klar. Es passt zu dem Bild vor uns, das mir das Gefühl gibt, wir befänden uns in einer teuren Gemäldegalerie und würden das Werk eines international bekannten Künstlers betrachten. Irgendjemand hat diese Szene sicher schon einmal auf eine Leinwand gebracht.

     «Weißt du», beginnt meine beste Freundin, während sie sich wieder aufrichtet, «ich habe jetzt schon keinen Bock mehr, jemals zurückzukehren.»

     Unsere Blicke treffen sich und ich frage mich, ob es mir genauso geht. Ich mag unser Dorf nicht, aber es ist der Ort, der mir am vertrautesten ist. Nur glaube ich mittlerweile nicht mehr, dass das reicht, um es als meine Heimat zu bezeichnen.

     «Geht mir ähnlich», sage ich schließlich und richte meine Augen wieder auf das funkelnde Wasser. «Obwohl ich immer noch nicht realisiert habe, dass das hier echt ist.»

     Mathea lacht wieder. «Ich auch nicht. Aber wenn es Traum wäre, dann ist es der beste, den ich je gehabt habe.»

____

[author's note]

ich bin gerade ein bisschen am vorproduzieren, was mich selber wohl am meisten überrascht
könnte also sein, dass jetzt relativ regelmäßig neue kapitel der gruppe kommen :D

ich wünsche euch frohe ostern und hoffe, euch geht's allen gut :3

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