POSTKARTENSOMMER

By livschreibt

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❝Den Ort, an den ich will, gibt es nicht.❞ ❝Dann musst du wohl die Reise so schön wie möglich machen.❞ Phoeni... More

WIDMUNG
VORWORT
POSTKARTE 1: Klingt nach einem Roadtrip
POSTKARTE 2: Baby-Karotten, Sprühkäse und Freiheit
POSTKARTE 3: Hervorragende Schuhwahl
POSTKARTE 4: Toast zum Frühstück
POSTKARTE 5: Kirschkernspucken
POSTKARTE 6: Mit dem Herzen hören
POSTKARTE 8: Gewitterwolkenworte
POSTKARTE 9: Selbstzweifel sind die besten Kunstfälscher
POSTKARTE 10: Bilderbuchmoment und Gutenachtgeschichte
POSTKARTE 11: Korallenriff
POSTKARTE 12: Rote Gummibärchen
POSTKARTE 13: Sommermüdigkeit
POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke
POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten
POSTKARTE 16: Zeitstillstand
POSTKARTE 17: Manchmal ist das Leben eine Postkarte
POSTKARTE 18: Geschichten schreiben
POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht
POSTKARTE 20: Gartenzaun und Luftballons
POSTKARTE 21: Wie Zuhause
POSTKARTE 22: Kanten abschleifen
POSTKARTE 23: Angeknabberte Fingernägel
POSTKARTE 24: Schlangenlinien
POSTKARTE 25: Radioknistern
POSTKARTE 26: Magnete
POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten
POSTKARTE 28: Hochseile

POSTKARTE 7: Nette Worte

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By livschreibt

Einzig das Rauschen des Ozeans ist zu hören, während Yule und ich schweigend nebeneinander im Auto sitzen, die Fenster geöffnet, und unsere Burger essen.

Etwas Glamouröseres als McDonald's hat Ocean Shores nicht zu bieten und ich muss sagen, dass ich schon ein wenig über das verschenkte Potential, kleine süsse Restaurants am Strand zu bauen, enttäuscht bin.

Aber Yule und ich haben den Zugang zum Strand gefunden und es uns jetzt stattdessen im Auto bequem gemacht, während draussen der Wind pfeift wir den Blick aufs aufgewühlte Meer geniessen.

Dass ich die Angewohnheit habe, wie ein Wasserfall zu reden, das ist mir schon bewusst gewesen, bevor ich Yule, der mich jeden Tag mehrmals daran erinnert, gekannt habe. Plappern ist wie Atmen für mich und wenn ich still sein muss, dann fühl ich mich nicht wohl.

Aber nicht jetzt. Mit Yule fühlt es sich natürlich an, ruhig zu sein. Still. Einfach mal nur zu lauschen, statt selber zu reden.

Ich merke, wie mich eine Ruhe ausfüllt und ich habe den Verdacht, dass dieses Gefühl direkt von Yule auf mich überspringt.

Für ihn ist es normal, still zu sein. Es ist normal, zu schweigen. Yules Gedanken sind laut und er hört ihnen zu. Er braucht nicht zu reden, weil er immer etwas hat, dem er lauschen kann.

Ich nicht. Meine Gedanken sind flüchtig, und wenn einer kommt, dann spreche ich ihn aus.

Ich bin viel zu ungeduldig und lebendig, um darauf zu warten, wohin der Gedanke mich führen wird.
Viel zu ungeduldig, den Weg zu Ende zu gehen, während Yule ein geübter, ausdauernder Wanderer ist, der dem Pfad geduldig folgt. Er schweigt so lange, bis er am Ziel ist.

Und deshalb haben alle seine Worte eine Bedeutung, die mich jedes Mal trifft. Mich jedes Mal berührt und jedes Mal so wahr ist, dass ich nicht anders kann, als zu staunen.

Auf seinem langen Weg nimmt Yule Dinge mit, an denen ich blind vorbei gehe, weil ich schon auf die nächste Blume am Wegesrand zuspringe und dabei alles andere übersehe.

Wenn ich rede, dann wächst eine Blume. Wenn Yule spricht, entsteht ein ganzer Wald.

Erst jetzt, wo ich neben Yule sitze und schweige - wirklich schweige -, beginne ich zu verstehen, wie es ihm gehen muss.

Es gibt viele Arten von Schweigen. Respektvolles Schweigen, wenn jemand Anderes spricht. Oder Schweigen an Orten, an denen es sich gehört, still zu sein.
Peinliches Schweigen. Wenn die Stimmung angespannt ist und man nicht weiss, welches Rattern der Gedanken lauter ist - das des Gegenübers oder das von einem selbst, während man krampfhaft darüber nachdenkt, was man sagen soll.

Das hier, mit Yule, das ist friedliches Schweigen. Wir haben schon so viel geteilt, dass es egal ist, dass wir nicht reden und es ist egal, dass er nichts sagt. Dass er das Gespräch mit mir nicht sucht.

Denn es fühlt sich nicht länger so an, als wüssten wir nicht, was wir sagen sollen. Wir wissen beide genau, was wir sagen sollen. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür.

Schweigen hört sich schön an. Wenn man die richtige Person an seiner Seite hat. Die richtige Person, die mitschweigt.

🌲

Nach unserem unspektakulären Abendessen, bei dem wir dafür eine atemberaubende Aussicht direkt aufs Wasser genossen haben, sind wir wieder zurück in unserem Zimmer und sitzen auf dem Balkon, um die letzten Atemzüge des Tages zu geniessen.

»Ich glaube, mich haben schon mindestens zwanzig Mücken gestochen, seit wir wieder hier sind«, sage ich und schlage mit der flachen Hand auf meine Wade, um eine weitere Mücke zu vertreiben.

»Das muss an dir liegen«, erwidert Yule. »Mich hat noch keine einzige gestochen.«

»Wahrscheinlich halten sich die Mücken einfach nur von dir fern, weil sie bei so viel Koffein in deinem Blut direkt sterben würden.«

»Kann gar nicht sein. Ich hab heute ja gar kein Koffein zu mir genommen, weil eine gewisse Person sich einen Spass daraus gemacht hat, mich für dumm zu verkaufen.«

»Du trinkst so viel Kaffee, da spielt es gar keine Rolle, ob du einen Tag auslässt«, sage ich schulterzuckend.

»Wolltest du eigentlich nicht noch deine Postkarten schreiben?«

»Warum? Weil ich dann beschäftigt bin? Mach dir da nicht allzu grosse Hoffnungen, ich kann reden und schreiben gleichzeitig.«

»Daran habe ich keine Zweifel.«

Ich stehe auf und hole die Postkarten, die ich heute Nachmittag nach unserer Ankunft auf den Nachttisch gelegt habe, nachdem ich eine halbe Ewigkeit überlegt habe, was ich darauf schreiben könnte.

»Oh, sieh mal, da ist eine Möwe«, sage ich überflüssigerweise als ich zurückkomme, denn die Möwe ist riesig und genau vor Yules Nase auf der Brüstung gelandet.

»Das ist Fridolin«, erkläre ich sachlich und lasse mich mit Postkarten und Kugelschreiber bewaffnet neben Yule auf meinen Platz sinken .

»Fridolin?«

Komplettes Unverständnis zeichnet sich auf Yules Gesicht ab, während er zwischen mir und der Möwe hin und her blickt, als würde er versuchen herauszufinden, woher wir uns kennen.
Oder vielleicht fragt er sich auch einfach nur, was sich in meinem Kopf mal wieder Verrücktes abspielt. Das ist wohl wahrscheinlicher.

»Warum Fridolin?«

»Tja, hast du eine bessere Idee?«

»Nein, aber ich -«

Zufrieden lehne ich mich zurück und verschränke die Arme. »Siehst du, dann heisst er Fridolin.«

Yule schüttelt den Kopf und murmelt: »... ich weiss nicht, warum die Möwe überhaupt einen Namen braucht.«

»Na warum nicht? Sie sitzt bei uns auf dem Balkon, ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe. Setz mal eine freundlichere Miene auf, Yule, sonst kriegt er Angst«, fordere ich Yule auf und deute mit dem Kinn auf unseren Gast. »Und sag hallo zu Fridolin.«

»Sonst noch Wünsche? Hätte er gern etwas Toast?«, fragt Yule spöttisch. »Sogar getoastet.«

»Na los, jetzt mach schon, sag hallo zu Fridolin.«

»Hallo zu Fridolin«, sagt Yule trocken, kein Anzeichen einer freundlichen Miene auf seinem Gesicht.

Ich verdrehe die Augen. »Ich denke, Fridolin würde sich bestimmt über etwas Toast freuen.«

»Tja, er wird aber leider keinen bekommen.«

Fridolin breitet die Flügel aus, stösst ein empörtes Geräusch aus, als hätte er Yule verstanden, und fliegt davon. Wahrscheinlich zum nächsten Balkon, wo er netter behandelt wird.

Na ja, an mir lag's nicht.

»Sieh nur, jetzt ist er beleidigt«, sage ich vorwurfsvoll.

»Ich glaube, damit kann ich leben.«

Ich widme mich meinen Postkarten, aber weil ich mehr als bloss eine gekauft habe, da mir alle Motive gut gefallen haben, kann ich mich jetzt nicht entscheiden, welche davon ich meiner Mom schicken soll und welche ich für mich als Erinnerung behalten will.

Also entscheide ich mich dafür, die Karte an Mom zu schicken, die mir am wenigsten gefällt. Sie ist ehrlich gesagt ziemlich hässlich und ich frage mich, warum ich sie überhaupt gekauft habe.

Wahrscheinlich genau aus dem Grund, um mir die Entscheidung leichter zu machen, welche ich abschicken soll und welche nicht. Manchmal bin ich schon ein schlauer Fuchs.

Weil ich nicht weiss, was ich schreiben soll, beginne ich damit, die Adresse aufzuschreiben, während ich penibel darauf achte, den Kugelschreiber nicht zu verschmieren.

Und dann lehne ich mich in meinem Stuhl zurück, lege die Beine auf die Brüstung und starre auf die Gräser, die vor uns aufragen, weil ich mir dadurch irgendwie erhoffe, dass mir eine Antwort auf die Frage, was ich schreiben könnte, zufliegt. Es geschieht nicht.

»Hör auf damit«, sagt Yule, ohne von seinem Buch aufzublicken.

The Picture of Dorian Gray.

»Womit?«

»Du klickst mit dem Kugelschreiber.« Yule schliesst sein Buch. »Es stört mich beim Denken.«

Oh. Tatsächlich. Es ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich gedankenverloren geklickt habe.

Immerhin habe ich mir nicht gedankenverloren das Gesicht angemalt, wie heute Nachmittag.

»Das ist die Hintergrundmusik, die ich zum Schreiben brauche«, erkläre ich und lege den Stift beiseite.

»Wohl eher das Geräusch deiner Gedanken, so lästig wie das ist.« Er schnaubt.

»Hey!«, protestiere ich, aber Yule hat seine Aufmerksamkeit schon wieder dem Buch gewidmet und achtet gar nicht auf mich.

Ich puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ziehe meine Strickjacke enger um meinen Oberkörper. Es hat zwar merklich abgekühlt und niemand, der einen heissen Sommer gewohnt ist, würde die Temperaturen als sommerlich bezeichnen, trotzdem ist es noch warm genug, um draussen zu sitzen.

»Weisst du, was ich nie gewusst habe?«, sage ich irgendwann, nachdem ich eine Weile mit meinen Haarsträhnen gespielt habe, und warte gar nicht darauf, dass Yule mir eine Antwort gibt.

»Dass ein Hirsch kein männliches Reh ist. Bisher habe ich das immer angenommen.«

»Ja«, erwidert Yule. »Und der Igel ist der Bruder des Stachelschweins, oder was?«

Ich pruste los, weil sein Tonfall so trocken ist, während Yule noch immer nicht mit der Wimper zuckt, geschweige denn den Kopf hebt.

»Du bist ein Idiot. Ich hab's ernst gemeint. Ich wusste das nicht. Bis ich gestern Abend ein bisschen gegoogelt habe, nachdem wir die Rehe gesehen haben.«

»Bist du sicher, dass es nicht Elche waren, die wir gesehen haben? Oder Pumas?«

»Jetzt hör schon auf.« Ich stosse ihn an der Schulter an und Yule sieht endlich auf.

»Ich lese gerade«, sagt er unnötigerweise.

»Jetzt nicht mehr.«

Yule stöhnt und vergräbt den Kopf in seinen Händen, bevor er mich wieder ansieht. »Ist dir langweilig oder erträgst du es bloss nicht, keine Aufmerksamkeit zu bekommen?«

»Wenn ich es nicht ertragen würde, keine Aufmerksamkeit zu bekommen, dann wäre ich längst gestorben in deiner Gegenwart«, erwidere ich und verdrehe die Augen. »Ich wette, alle Pflanzen, die du je hattest, sind nach einer Woche vertrocknet, weil du ihnen kein Wasser gegeben hast.«

Meine Pflanzen sterben hingegen, weil ich ihnen zu viel Wasser gebe. Was das jetzt wohl über mich aussagt?

»Wie gut, dass ich keine Pflanzen habe.«

»Auch keine Kakteen? Die würden zu deiner Seele passen.«

Yule hat eine Kaffee-Kaktus-Seele. Schwarz wie Kaffee und kratzig wie ein Kaktus. Ich lache unwillkürlich bei der Vorstellung und presse mir die Hand auf den Mund.

»Vielleicht sollte ich tatsächlich mal über Kakteen nachdenken. Für die Recherche, wenn mein nächster Roman in Phoenix, Arizona spielt, du weisst schon.«

»Ach, halt doch die Klappe. Benutz deine Fantasie lieber mal, um mir beim Schreiben dieser Postkarte zu helfen.« Ich greife nach der Karte und wedle damit vor seiner Nase herum. »Ich weiss nicht, was ich schreiben soll.«

»Ja und?« Er zuckt mit den Schultern. »Was soll ich jetzt dagegen machen?«

»Du bist doch der Schriftsteller von uns beiden. Lass dir mal was einfallen.«

»Seh ich so aus, als könnte ich nette Worte schreiben?« Beide Augenbrauen wandern in die Höhe.

Wenn ich ihn mir ansehe, dann nein. Definitiv nicht. Nett ist ganz bestimmt nicht das Wort, das einem in den Sinn kommt, wenn man Yule sieht.

Gross, schlaksig, kantiges Gesicht, zusammengezogene Augenbrauen, düsterer Blick, dunkle Augen und fast genauso dunkles, beinahe schwarzes Haar, das ihm in die Stirn fällt.

Aber wenn man ihn ansieht - ein Funkeln in den Augen, wie bei flüssiger Tinte, kleine winzige Sommersprossen auf der hellen Haut, ein nachdenklicher Zug um den Mund, Tintenflecken an den Fingern und Haar, das aussieht, als wäre er sich mehrmals mit der Hand hindurch gefahren -, dann ist nett noch immer nicht das Wort, das einem in den Sinn kommt.

Dafür aber wortgewandt. Nachdenklich. Poetisch. Schön.

Jedenfalls lässt sich dann erahnen, dass Yule in der Lage ist, schöne Worte zu schreiben. Nicht nette Worte - schöne Worte.

»Ich dachte, du könntest vielleicht ein wenig kreativ werden und über deinen Horizont hinausblicken«, sage ich also und versuche, mein bestes Lächeln aufzusetzen, von dem ich hoffe, dass es hilft, Yule zu überzeugen. Obwohl ich es eigentlich besser wissen sollte.

»Tut mir leid, so grenzenlos um auf dein Niveau zu kommen ist nicht mal meine Kreativität.« Der spöttische Zug um seinen Mund sagt mir genau, was er damit meint. »Deiner Genialität könnte ich nie gerecht werden.«

»Weisst du was? Ich schreibe meiner Mom einfach von meiner reizenden Reisebegleitung.« Ich setze ein zuckersüsses Lächeln auf und schnappe mir wieder den Kugelschreiber. »Sie wird begeistert sein, wenn ich ihr erzähle, dass du mit Plüschsocken schläfst oder einen rosa Teddy hast. Sie weiss ja nicht, dass das alles nur erfunden ist.«

»Und du fragst dich tatsächlich, weshalb ich keine Romanfigur nach dir benennen möchte?«, fragt Yule sarkastisch. »Ich könnte einfach keine Figur schreiben, die auch nur annähernd an dich rankommt. Du bist einmalig.«

Ich werfe mir mein Haar über die Schultern »Danke.«

»Das war kein Kompliment.«

Ehrlich gesagt kommt es sogar ziemlich nah an eine Beleidigung ran, dass Yule denkt, ich wäre nicht in der Lage, den Sarkasmus, der sich nicht sehr erfolgreich in seiner Stimme versteckt, zu erkennen.

»Einstellungssache.«

Ich beginne wieder mit dem Kugelschreiber zu klicken und setze schwungvoll ein Liebe Mom oben auf die Postkarte. Nicht ganz an den Rand, sondern etwa zwei Fingerbreiten darunter - so habe ich weniger Platz für den Rest und muss ergo weniger schreiben.

»Danke für deine Hilfe auf jeden Fall«, sage ich trocken zu Yule und beginne einen Satz zu schreiben, der sich schon nach den ersten paar Worten anhört, als hätte ihn ein Erstklässler geschrieben.

»Man tut, was man kann«, erwidert er.

Liebe Mom,
Ich fahre zusammen mit Yule der Küste entlang und es gefällt mir sehr gut hier.

Es ist nichtssagend und wird den Gefühlen, die mich bisher auf dieser Reise schon bis in den letzten Winkel meines Herzens erfüllt haben, nicht gerecht. Nicht mal annähernd.

Aber wenn ich so darüber nachdenke, dann ist das auch gar nicht möglich. Niemals könnte ich mit Worten ausdrücken, wie es sich anfühlt, wenn das Herz vor Glück kurz vor dem Platzen ist. Niemals könnte ich mit Worten beschreiben, wie schön es hier ist.

Also versuche ich es gar nicht erst und gebe mich damit zufrieden, dass einzig meine Erinnerungen, die ich in meinem Herzen einschliesse, an die schönen Augenblicken herankommen würden. Kein Wort und kein Bild.

🌲

Wie schlecht meine Fähigkeit, mich länger als fünf Minuten auf eine Sache zu konzentrieren, ist, fällt mir auch jetzt wieder auf, als ich nach dem zweiten Satz schon wieder das dringende Bedürfnis verspüre, etwas zu sagen.

Meine sprunghaften Gedanken sind einfach zu schnell, als dass ich sie zu lange an einer Stelle hätte halten können.

»Schreibst du mir auch eine Postkarte, Yule? Damit ich eine Erinnerung an all das hier habe, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Wenn du meinst, dass du sie lesen kannst.«

Yules Buch liegt ungeöffnet auf dem Tisch neben ihm. Offenbar hat er es aufgegeben, den Versuch zu unternehmen, sich konzentrieren zu können.

»Du musst dir halt ein bisschen Mühe geben«, sage ich.

»Ich überlege noch, ob es mir das wert ist.«

»Bitte, Yule.« Ich greife nach seinem Arm und schüttle ihn. »Sie ist ja schliesslich für mich.«

»Ja«, erwidert er und nickt, »eben deswegen muss ich ja überlegen, ob es das wert ist.«

Ich sage einfach nichts, sondern starre Yule so lange an, bis mir die Augen wehtun, aber ich gebe ganz bestimmt nicht auf, indem ich den Blick abwende. Erst, als Yule kapitulierend seufzt, gebe ich mich zufrieden und grinse.

»Na gut. Vielleicht. Aber nur, wenn du mir auch eine schreibst.« Und dann schiebt er hinterher: »Damit ich was hab, womit ich mich vergleichen kann, wenn ich mal an meinen schriftstellerischen Fähigkeiten zweifle.«

🌲

Am Ende des Abends sitze ich tatsächlich mit zwei fertigen Postkarten da und bin ziemlich stolz auf mich. Und zwar nicht nur, weil ich es geschafft habe, etwas halbwegs Vernünftiges auf die Postkarte für Mom und etwas - wie ich finde - unglaubliches Witziges auf die für Yule (damit er sich immer daran erinnern wird, wie genial mein Humor ist) zu schreiben, sondern vor allem, weil ich es auch geschafft habe, Yule davon zu überzeugen, mir auch eine Karte zu schreiben.

Wahrscheinlich steht darauf nur Du bist der nervigste Mensch, der mir je begegnet ist oder so, aber damit kann ich leben. Denn immerhin ist die Postkarte, die er an mich adressiert hat, schön - ich habe ihm nämlich die schönste aus meiner kleinen Sammlung gereicht.

Für Yule war der Abend eher weniger erfolgreich, wie er mir murrend mitteilt, als ich das Licht ausknipse. Und dafür gibt er mir die Schuld. Er hat es nämlich gerade mal geschafft, fünf Seiten zu lesen.
Ich habe absolut keine Ahnung, was das mit mir zu tun haben soll.

Wieder einmal haben wir ein Zimmer erwischt, in dem es zwei Betten gibt und die Betten in diesem hier sind so gross, dass ich mir schrecklich allein vorkomme, eingewickelt in all die Laken, mit dem Kopf zwischen den Unmengen von Kissen.

Nicht zum ersten Mal spiele ich mit dem Gedanken, Yule zu fragen, ob ich zu ihm unter die Decke kriechen kann, aber weil ich weiss, dass es keinen Sinn hat, beisse ich mir auf die Unterlippe und drehe mich auf die Seite, ziehe das Laken hoch bis zum Kinn.

Yules Gestalt ist in der Dunkelheit nur schemenhaft auszumachen, aber seine Atemzüge höre ich dafür ganz deutlich. Er ist auch noch wach. Ich höre es am Rascheln seiner Decke.

»Phoenix?«, sagt er plötzlich und seine Stimme klingt in der Ruhe des Zimmers, die nicht einmal von Meeresrauschen erfüllt wird (ja, darüber bin ich noch immer nicht hinweggekommen), sehr laut, obwohl er gedämpft spricht.

Warum genau er es tut, ist mir nicht ganz klar - denn es geschieht bestimmt nicht aus Rücksicht auf mich. Vielleicht gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, das besagt, dass man in der Dunkelheit leise spricht.

»Hm?«, frage ich und blinzle in die Dunkelheit, bis ich eine Bewegung auf Yules Seite wahrnehme.

Er hat sich vom Rücken auf die Seite gedreht, sodass er mich jetzt genauso ansehen müsste wie ich ihn.

»Erzählst du mir was von dir?«, fragt er und bewirkt damit, dass ich fast aus dem Bett falle vor Überraschung.

»Ich habe das Gefühl, ich rede ständig von mir, obwohl ich eigentlich nie viel rede, und du, obwohl du ständig plapperst, sagst nie was. Erzähl mir was über dich«, fordert er mich noch einmal auf. Bestimmter dieses Mal, aber noch immer mit diesem sanften, leisen Unterton in der Stimme, der sich wie ein Gutenachtlied anhört.

»Was willst du hören?«, frage ich.

»Ganz egal, sag einfach irgendetwas.«

»Alles klar. Mach dir Notizen, das kannst du später alles für deine Protagonistin brauchen.«

Bestimmt hört Yule meiner Stimme an, dass ich gerade grinse.

»Du spinnst doch.«

»Also, der erste Fakt über mich: Ich spinne nicht.«

Vielleicht ein winziges bisschen, denn andernfalls wäre ich wohl kaum hier gelandet. Aber das muss andererseits auch heissen, dass Yule spinnt. Und wenn wir beide spinnen, dann sind wir vielleicht schon wieder normal.

»Und der zweite Fakt: Ich bin spontan.«

»Das wär mir ja gar nicht aufgefallen.«

»Und weisst du, wie spontan ich bin?«, frage ich. »Ich klebe Sticker einfach irgendwohin, anstatt sie jahrelang aufzubewahren aus Angst, sie an der falschen Stelle aufzukleben.«

»Was bist du für ein Monster? Niemand klebt Sticker einfach irgendwohin.«

»Warum nicht? Was bringt es denn, immer zu warten? Manchmal muss man einfach machen.«

Und das meine ich nicht nur in Bezug auf die Sticker. Die Sticker sind lediglich eine Veranschaulichung meiner Lebensphilosophie, die ich für sehr genial halte.

»Ich dachte eigentlich, ich soll dir was erzählen. Warum höre ich stattdessen dich reden?«, frage ich mit einem strengen Unterton in der Stimme, der durch das Schmunzeln, das ich nicht unterdrücken kann, an Ernsthaftigkeit verliert.

»Erzähl weiter, ich versuche, so gut es geht, die Klappe zu halten und keine Kommentare abzugeben. Aber du weisst ja, wie schwer es ist, die Klappe zu halten und still zu sein, oder?«

›Ich versuche, keine Kommentare abzugeben‹ - und dann schiebt er schon den nächsten Seitenhieb hinterher. Unglaublich.

»Okay, lass mich nachdenken«, sage ich dann und schweige eine Weile, in der ich nachdenke, was ich Yule über mich erzählen soll.

Sein Innerstes zu beschreiben ist mindestens genauso schwer, wie eine Postkarte zu schreiben.

Okay, vielleicht ist das mit der Postkarte sogar noch ein bisschen schwerer.

»Es gibt so vieles, das ich tun, so vieles, das ich sehen möchte«, beginne ich schliesslich langsam und plötzlich wird es immer leichter, zu erzählen und die Wort reihen sich aneinander, ohne dass ich gross darüber nachdenken muss, was ich sage.

Vielleicht liegt es auch einfach am Drang daran, die Stille auszufüllen. Am Wissen, dass ich jetzt gerade die Einzige bin, die es kann.

»Ich habe mich nie damit zufrieden gegeben mit dem, was ich hatte, wenn ich wusste, dass ich etwas tun könnte, um mehr zu haben. Und damit meine ich nicht materielle Dinge, die sind mir weitestgehend egal - abgesehen von den paar Schätzen, die ich besitze. Ich meine es anders.«

Alles, woran ich hänge - wirklich hänge - passt in die kleine selbstbemalte Box, die ich in meinem Nachttisch aufbewahre. Sie ist gefüllt mit handgeschriebenen Briefen, Kieselsteinen mit besonderer Form oder Dinge mit längst vergessener Bedeutung, weil sie schon so alt sind, dass ich nicht mehr weiss, woher sie stammen. Ein Flaschendeckel zum Beispiel. Ich habe ihn immer noch, weil ich weiss, dass er mir irgendwann einmal genug bedeutet hat, um ihn behalten zu wollen.

»Deswegen wollte ich auch aus der Stadt raus. Natürlich hätte ich den Sommer zu Hause im Garten unter dem Kirschbaum verbringen können, ohne mir Gedanken machen zu müssen. Aber ich wollte etwas tun. Ich will aufbrechen und die Welt sehen, ein bisschen so wie du.«

Ich nicke zu ihm rüber, obwohl er mich natürlich nicht wirklich erkennen kann.

»Und ich will mich von all den Dingen mitreissen lassen. Ich will glücklich sein können, ohne einen Anlass dafür zu haben. Ich will es nicht von etwas abhängig machen, sondern von innen leuchten. Und ich will, dass andere das wahrnehmen können. Ich will andere anstecken und begeistern können, sie an der Hand nehmen und mit ihnen in den Sonnenuntergang tanzen.«

Ich stelle mir die Szene bildlich vor und plötzlich erfüllt mich eine unbestimmte Sehnsucht nach einem Ort, den es nicht gibt. Und das Verlangen, den Ort zu erreichen, ist so stark, dass es mich zum Weitersprechen bewegt.

Weil ich vielleicht mit meinen Worten erreichen kann, dem Ort wenigstens in Gedanken möglichst nahe zu kommen.

»Oder sie im Meer mit Wasser anspritzen. Ganz egal. Solange wir dabei lachen. Ich schätze die kleinen Dinge, weil ich glaube, dass sie im Leben die grösste Rolle spielen. Deshalb sammle ich auch Tassen oder Steine oder flechte Freundschaftsbänder, schreibe Briefe an meine Freunde oder trockne Gänseblümchen.«

Jedes Jahr wächst meine Sammlung und all die Dinge, die meine Mutter als unnötigen Krims Krams bezeichnet, sind von unvorstellbarem Wert für mich.

»Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin. Ich will einen alten Liebesbrief zwischen vergilbten Seiten eines Buches finden. Ich will, dass jemand meine Augen sieht und denkt, dass sie das Schönste sind, was er je gesehen hat. Ich will, dass jemand meine Hand nimmt und mich mit sich zieht an einen Ort, an dem es nur uns beide gibt. Will inmitten einer Blumenwiese sitzen, Sommerkleider tragen und den Wind in meinen Haaren spüren.«

Yule gibt keinen Mucks von sich und als ich aufhöre zu reden und meine Worte verklingen, glaube ich schon fast, dass er eingeschlafen ist.

Doch dann sagt er »Phoenix« und ich bin sofort wieder hellwach, weil in seiner Stimme ein Unterton liegt, der sich anhört wie Honig und Milch, wie die Abendsonne auf goldenen Maisfeldern, wie die zarten Wolken an einem schönen Frühlingstag.

»Das ist so schön.«

Ich bin so verblüfft von diesen Worten, dass ich ein unsicheres Lachen ausstosse und gar nicht weiss, was ich sagen soll.

»War das etwa gerade ein Kompliment aus dem Mund des grossen Yule Robinson? Jetzt ist mein Leben vollkommen.«

Und natürlich weiss ich nichts Besseres, als einen sarkastischen Kommentar zu machen und damit die Sekunde zu zerstören, die ein Gefühl in mir ausgelöst hat, das verdammt nah an das gekommen ist, wovon ich eben noch gesprochen habe.

»Ich war mir nicht so sicher, ob dich meine quietschfröhlichen Worte nicht zu sehr blenden und zu unerträglich sind für dein schwarzes, koffeingetränktes Herz.«

»Da will man einmal was Nettes sagen und du machst es kaputt.« Yule stösst ein schnaubendes Lachen aus und ich stimme mit ein.

»Das ist normalerweise meine Rolle«, sagt er dann. »Vielleicht sollte ich das mal überdenken.«

Wieder breitete sich die Stille zwischen uns aus, die mir schon so vertraut ist, und legt sich wie eine warme Decke über uns.

Und als Yule wieder die Stimme erhebt, ist sie so leise, dass sie die Stille kaum übertönt und die Wärme der Decke nicht durchbricht. Wenn möglich trägt er mit seinen Worten sogar noch dazu bei.

»Phoenix, das war echt verdammt schön. Danke, dass du das mit mir geteilt hast.«

Gerne, denke ich nur, denn ich bin schon dabei, in den Schlaf zu gleiten.

🌲

Die Kapitel hier werden immer länger, als ich eigentlich geplant habe, aber ich kann einfach nicht aufhören zu schreiben. Durch meine Charaktere, die eine Vorliebe für tiefgründige Gespräche haben, kann ich einfach schreiben und schreiben.
Es ist eine Ansammlung von Gedanken, von denen ich nicht weiss, woher sie kommen oder wohin sie gehen. Ein bisschen wie die Schätze, die an den Strand gespült werden, bevor der Ozean sie wieder zurückholt, wenn sie niemand aufnimmt.

Danke fürs Lesen! ♥️

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