WAS UNS HIGH MACHT | ✓

By nebelschwere

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❝Das ist es, was uns high macht. Nicht der Kick, nicht der Alkohol, nicht die Joints. Es ist das Leben. Richt... More

before we start
aesthetics
00 | Intro
01 | Freibad
03 | Fluchtreflex
04 | Hamstern
05 | Ruhe
06 | Schlaglöcher
07 | Brezeln
08 | Revolution
09 | Telefongespräche
10 | Kindheitshelden
11 | Nachrichten
12 | Dächerwelten
13 | Sommergefühle
14 | Gedankenflüge
15 | Winkekatzen
16 | Komplikationen
17 | Großstadt
18 | Nachtwanderungen
19 | Lagerfeuer
20 | Friseurbesuche
21 | Regenbogen
22 | Rückblicke
23 | Glühwürmchen
24 | Outro
before it ends

02 | Schaukel

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By nebelschwere

     ... oder wie Ajax und Lovis eine Party unter Wasser setzten.

     EUPHORIE IST WUNDERSCHÖN. Euphorie ist sonnenblumengelb, babyhimmelblau und sonnenaufgangsviolett. Euphorie pulsiert nicht durch die Adern, sondern füllt den ganzen Körper in ihren Farben.

     Euphorie ist ein Künstler und wir sind die Leinwand. Mut ist ihr Pinsel und Freiheit ihre Palette. Euphorie ist nicht unser Leben, aber alles, was das Leben gut macht. Euphorie ist meine Droge und ich werde niemals von ihr loskommen.

     Gerade jetzt schwimme ich in sonnenblumengelben Kreisen, babyhimmelblauen Blumen und sonnenaufgangsvioletten Tupfern. Ich bin die freie Leinwand, die Euphorie heute Nacht auserkoren hat. Ich bin die Abhängige, die sich niemals von dieser Droge lösen wird.

     Wir sind die Glücklichen, die niemals Schäden durch ihre Abhängigkeit erleiden werden.

     Meine Haare fliegen im Fahrtwind und mein breites Lächeln wird von Euphorie für die Ewigkeit festgehalten, während ich - so schnell ich kann - in die Pedalen trete und hinter Ajax über den Feldweg jage. Lovis hatte mal wieder recht damit, dass es nützlich sein könnte, die Fahrräder zwischen den Bäumen zu verbergen, denn unsere Flucht geht nun schneller, als zunächst erwartet, weiter.

     Ein weiterer Vorteil ist, dass unsere Klamotten durch den Fahrtwind viel schneller trocknen. Zwei Fliegen mit einer Klatsche sozusagen.

     Man kann von hier bereits das Meer rauschen hören und unwillkürlich frage ich mich, ob Euphorie für uns heute vorgesehen hat, das dunkle Wasser zu erreichen. Der salzige Geruch steigt in meine Nase und meine Augen tränen durch den säuselnden Wind, der uns ins Gesicht schlägt.

     Ich werfe keinen Blick über die Schulter - vertraue einfach darauf, dass Lovis und Mathea hinter mir sind - drehe meinen Kopf nur, um in Richtung Strand zu blicken, der sich zu unserer Rechten erstreckt und zwischen den hohen Sträuchern hindurchschimmert.

     «Ajax!», brülle ich, da der Franzose schon einen ordentlichen Abstand zwischen uns beide gebracht hat.

     Natürlich hört mich mein bester Freund nicht - wie auch, wenn man gefühlt 100 Kilometer zwischen sich und den Rest der Welt gebracht hat. Zu viel zum Thema der gebürtige Franzose würde sich gerne mit Menschen umgeben.

     «Hey, Ajax!», versuche ich es erneuert und stecke noch mehr Kraft in meine Beine, ziemlich stolz darauf, dass meine Kondition doch noch nicht ihre Koffer gepackt hat und in den Sommerurlaub geflogen ist. «Ajax!»

     Genervt verstärke ich den Griff meiner Händen um den Lenker des alten Rades.

     «Was ist los?», brüllt der Junge vor mir endlich zurück.

     «Lass zum Strand!»

     «Was?»

     «Lass uns zum Strand fahren!»

     «Red' deutlicher, verdammt.»

     Beherrscht atme ich energisch aus. «Wir. Zum. Strand! Okay?»

     Ein durchdringendes Quietschen ertönt und zerschneidet die angenehme Ruhe der Nacht. Ajax' Rad kommt abrupt zum Stehen und auch ich verlangsame meine Fahrt. Wobei ich jetzt gar keine Lust mehr habe, Ajax meinen Vorschlag zu unterbreiten.

     «Bist du taub oder was?», erkundige ich mich angepisst, als ich meinen besten Freund eingeholt habe.

     «Wie bitte?»

     «Ich bin gerade so kurz davor, dir eine reinzuhauen.»

     Das breite Grinsen in Ajax' Gesicht scheint mich nur weiter provozieren zu wollen. «Da brichst du dir ja eher was, als dass ich Schaden nehmen werde.»

     «Unterschätze meine Fähigkeiten nicht», schnaube ich bloß. «Fahren wir jetzt zum Strand, ja oder nein?»

     «'Türlich», erwidert Ajax schmunzelnd. «Es ist nur immer ziemlich lustig, wie schnell du durchdrehst, wenn du das Gefühl hast, dass man dich nicht versteht.»

     «Wie unglaublich lustig du doch bist», meine ich mit ausdrucksloser Miene und drehe mich zu Lovis und Mathea um, die hinter uns zum Stehen kommen. «Ich hätte es mir denken können.»

     «Was ist los?», erkundigt sich mein Bruder interessiert, wobei er die Unterarme auf dem Lenker seines neongrünen Fahrrads aufstützt und aus funkelnden Augen zu uns blickt.

     «Ajax hielt sich mal wieder für ganz lustig» antworte ich knapp. «Können wir jetzt weiter?»

     «Nach dir, Schwesterherz», grinst Lovis, was mir einen missbilligenden Laut entlockt.

     Ohne einen weiteren Kommentar fahre ich los, das Lachen der Jungs ignorierend.

***

     Das alte Metall gibt nicht sehr vertrauensvolle Laute von sich, dennoch sind Mathea und Ajax der Meinung, sie könnten sich neue Zirkustricks ausdenken und auf den heruntergekommenen Schaukeln herumturnen.

     Unsere Schuhe und Fahrräder liegen verlorenen einige Meter abseits im Sand, welcher sich unter meinen nackten Füßen noch erstaunlich warm anfühlt. Die Sonne hat über den Tag wirkliche Arbeit geleistet und den Boden für uns vorgeheizt.

     Meine Blicke folgen Mathea, welche sich an einem Salto beim Abspringen versucht. Obwohl sie offensichtlich nicht wirklich begabt ist, liegt auf ihren Lippen ein ehrliches Lächeln und ihre Augen scheinen durch die Dunkelheit zu strahlen, die nur von der Taschenlampenfunktion an unseren Handys durchbrochen wird.

     «Du brichst dir noch was», lacht Lovis.

     Er hat sich auf einer alten Bank niedergelassen, an der schon einzelne Balken fehlen. Sie passt zu dem Gesamtbild des Spielplatzes, der kaum noch von Menschen aufgesucht wird, da das Meer hier nicht ganz so gut zum Schwimmen geeignet ist, wie es die meisten gerne hätten.

     Lovis und ich haben den Ort vor einigen Jahren gefunden und ihn zu unserem geheimen Treffpunkt ernannt. So geheim, wie er uns damals vorkam, ist er nicht wirklich. Aber in seltenen Fällen trifft man hier auf andere Menschen und wenn, dann nur auf Gleichaltrige, die gleichermaßen nach einem Ort suchen, zu dem sie flüchten können.

     «Wann startet eigentlich unsere Reise?», erkundige ich mich und fahre mit den Händen durch den feinkörnigen Sand.

     «So bald wir möglich», antwortet Ajax und kommt schweratmend auf mich zu, während Mathea weiterhin auf der Schaukel herumturnt.

     «Morgen?», schlage ich grinsend vor und lasse mir von dem blondhaarigen Franzosen aufhelfen.

     Mein bester Freund kopiert meinen Gesichtsausdruck und zwinkert mir munter zu. «Keine Einwände. Dann müssen wir aber heute den Tresor knacken.»

     «Könnten etwas schwieriger werden», gibt Lovis zu bedenken und kommt langsamen Schrittes auf uns zu. «Dein Vater ist wie ein verdammter Wachhund. Der hört alles.»

     «Stimmt», seufzt Ajax und runzelt nachdenklich die Stirn.

     «Ist er nicht demnächst auf einer Geschäftsreise?», erkundige ich mich. «Wir könnte einfach noch ein paar Tage warten.»

     «Keine schlechte Idee», stimmt mein Bruder mir zu, während er sich den Sand von der Hose klopft. «Trotzdem könnte sich die ganze Aktion als etwas komplizierter herausstellen, als gedacht.»

     «Ich sag's nur ungern, echt, aber Lovis hat Recht», seufzt Mathea.

     «Aufgegeben?», hake ich grinsend nach, als das schwarzhaarige Mädchen mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck auf uns zukommt.

     Ein böses Funkeln tritt in ihre Augen. «Spar's dir.»

     Lachend strecke ich einen Arm nach ihr aus und wie von selbst verschränken sich unsere Finger. Ein großer Vorteil an Matheas impulsiven Gemüt ist, dass sie nie lange an ihrer rauchigen Wut festhalten kann. Sie vermischt sich rasch mit der besänftigenden Sommerluft.

     «Gut», beginnt Ajax mit abwesenden Blick. «Wir warten bis Samstag. Und dann ziehen wir durch.»

     Zustimmend nicke ich.

     «Klingt gut», meint auch Mathea und legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab, die für ihre Größe genau richtig ist. «Du besorgst die Schlüssel, ihr zwei den Wagen und ich kümmere mich um die Ausrüstung.»

      Ein belustigter Ausdruck tritt auf Lovis' Züge. «Wenn du Ausrüstung sagst, klingt das ziemlich professionnell.»

     «Du arbeitest hier ja auch mit einem Profi zusammen», erwidert Mathea feixend.

     «Dann kann ja nichts mehr schiefgehen», lache ich.

     Stille legt sich über uns, doch ich bin mir sicher, dass wir alle den selben, sonnigen Gedanken nachhängen und uns diesen Sommer bereits im Kopf anmalen. Ich weiß, dass unsere Vorstellungen nicht so erfüllt werden, wie wir es uns wünschen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das trotzdem einer der besten Sommer unseres Lebens.

     «Lasst uns zurückfahren», schlägt Ajax schließlich vor und stapft durch den Sand zu unseren Fortbewegungsmitteln hinüber. «Ich habe Hunger.»

     Jubelnd reckt Mathea eine Faust in die Luft. «Ich auch, los geht's!»

     «Ihr seid so verdammt verfressen», bemerkt Lovis grinsend und folgt unseren Freunden.

     Wehmütig blicke ich noch einmal über die Schulter auf das rauschende Meer, welches über die niedrigen Felsen schwappt. Lieber würde ich noch eine Weile hierbleiben, aber ganz allein ist das nicht wirklich einladend.

     Also stoße ich nur einen enttäuschten Seufzer aus und folge den Spuren der anderen, die sich schon wieder im feinen Sand verlieren.

***

     «Diese Veranstaltungen sind zum Kotzen!», beschwert sich dass Mädchen mit den auffälligen, roten Haaren und hübschen Sommersprossen, während sie ihren Blick missmutig über die Versammlung gleiten lässt.

    Ich verkneife mir ein Lächeln und hebe das Champagnerglas an die Lippen. «Es geht noch schlimmer, glaub mir.»

     Der Blick der Unbekannten huscht zu mir und ich merke, wie es in ihrem Kopf rattert.

     «Kennen wir uns?», hakt sie schließlich misstrauisch nach.

     Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. «Nö. Ist es verboten mit Leuten zu reden, die man nicht kennt?»

     Ihre schmalen Augen kneift sie zusammen, was es so aussehen lässt, als hätte sie gar keine mehr. Ihre Ausstrahlung erinnert mich an Matheas - die aufrechte Körperhaltung, als wollten sie sich beweisen und diese misstrauischen Blicke, wenn die Menschen für sie Unbekannte sind.

     Nach unserem kurzen Strandbesuch war Ajax der Meinung gewesen, es wäre besser, wenn wir noch einmal bei der Veranstaltung seines Vaters vorbeischauen würden. Sofort hatte Mathea sich mit einem mitleidigen Lächeln in meine Richtung verabschiedet und war in der Dunkelheit verschwunden.

     Da ihre Eltern keinen Kontakt zu meinen oder Ajax' hatten, schlich sie sich nur gelegentlich auf eine dieser Partys. Dies auch nur, wenn ich sie anflehte, mich nicht schon wieder alleine zu lassen. Oder wenn sie mal wieder Lust auf teuren Champagner und eine übertriebene Gardarobe hatte.

     Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht ganz, was Lovis, Ajax und ich jetzt hier sollen. Weder passen unsere Klamotten in die Kleidervorschrift, noch fahren wir drei auf solche Events wirklich ab. Aber mein Bruder und bester Freund hatten eisern daraufbestanden und zu Hause vergammeln wollte ich auch nicht. Dementsprechend sitze ich nun hier - zwischen zu teuren Anzügen, Kleidern und Getränken. In der stillen Hoffnung, meine Eltern würden sich bald verabschieden.

     Wie die beiden mit Ajax' Vater Geschäfte abschließen können, ist mir nach wie vor ein Rätsel, das zu verstrickt ist, um es je auszuknobeln.

     «Nein, ist es nicht.»

     Die melodische Stimme des rothaarigen Mädchens reißt mich aus meinen Gedanken. Fragend blicke ich sie an und bemerke erfreut, dass ihre Fassade bröckelt und sie mich nicht länger ansieht, als sei ich ihr fremd. Vielleicht teilen wir beide das gleiche Leid.

     «Was?», gebe ich wenig intelligent von mir.

     Schmunzelnd schüttelt das Mädchen den Kopf. «Es ist nicht verboten mit Leuten zu reden, die man nicht kennt.»

     «Zum Glück, sonst hätte ich in meinem Leben schon einigen Straftaten begangen», lache ich und nehme einen weiterne Schluck der farblosen Flüssigkeit zu mir.

     «Wohl wahr», kommentiert das Mädchen schmunzelnd.

     Ich erwidere ihr Lächeln und lasse zu, dass sich eine kurzzeitige Stille über uns legt, in der wir die verschiedenen Gäste beobachten, die sich übertrieben zur Begrüßung auf die Wange küssen oder den Rücken tätscheln.

     «Es ist so erbärmlich, findest du nicht?», rutscht es aus mir heraus.

     «Definitiv», stimmt Angesprochene mir zu. «Ich wünschte, meine Eltern wären nicht so verdammt scharf darauf, bei jeder Einladung anzutanzen.»

     Seufzend trinke ich aus meinem Glas. «Same. Ich verstehe allgemein nicht, wie sich meine Eltern hier wohlfühlen. Sie sind eigentlich das komplette Gegenteil hiervon.»

      «Ich schätze mal, dass jeder reiche Mensch hier eingeladen ist», meint die rothaarige Schönheit achselzuckend. «Und um gute Verträge oder desgleichen abzuschließen, würden manche sogar über Leichen gehen.»

     Nachdenklich lege ich die Stirn in Falten, kann ihr aber nur Recht geben. Denn alles andere würde wohl wahrlich keinen Sinn ergeben. Schließlich weiß ich, dass meine Eltern auch nicht besonders viel von diesen Gartenpartys halten.

     «Ich bin übrigens Brisa», stellt sich meine neue Bekanntschaft lächelnd vor.

     «Talia», erwidere ich und hebe mein Glas. «Was machst du hier?»

     Schnaubend streicht Brisa sich eine lockere Strähne hinter das Ohr. «Offensichtlicherweise hoffen, dass ich bald gehen kann?»

     Ihre Antwort entlockt mir ein leises Lachen: «Da sind wir schon zwei.»

     Ihre grünen Augen funkeln im Licht der Scheinwerfer, die den Garten mit greller Helligkeit durchfluten. «Nimm's mir nicht übel, aber was genau machst du hier?»

     Brisas Blick huscht kurz über mein Outfit und ich verziehe das Gesicht. Ich habe in der einen Stunde, die wir wieder hier sind, schon so einige Blicke zugeworfen bekommen. Man kann es niemanden übelnehmen: mit der schlichten Hose und der Jeansjacke passe ich nicht ganz zu den glitzernden Kleidern und matten Anzügen.

      «Sagen wir's so: ich hatte nicht vor, noch einmal zurückzukommen.»

     «Sieht man.»

     Schmunzelnd fahre ich mir durch die Haare, die ich hier als einzige Person offen trage. Selbst Brisa besitzt eine strenge Hochsteckfrisur. Allerdings scheint sie nicht sehr glücklich darüber zu sein, denn ich spüre ihren wehmütigen Blick, der meiner wilden Haarpracht gilt.

     «Bist du alleine hier?», erkundigt sie sich weiter und lehnt sich auf ihrem Stuhl seufzend zurück.

     Kopfschüttelnd verneine ich die Frage. «Mein Bruder ist hier noch irgendwo. Und ein Freund von mir.»

     «Wie heißen die beiden?», will Brisa wissen. «So viele Jugendlichen sind hier ja nicht. Vielleicht kenne ich sie.»

     «Das wage ich zu bezweifeln», erwidere ich lächelnd. «Lovis und Ajax vermeiden es, neue Leute kennenzulernen.»

     «Sagt mir leider wirklich nichts», seufzt Brisa enttäuscht und lächelt. «Aber die Namen sind schön.»

     Schnaubend begutachte ich den Auswahl an Essen, die auf unserem Tisch ausgebreitet wurde. «Deiner erst.»

     «Hm», macht sie, während ihr Blick abschweift. «Ich weiß nicht, ich mag ihn nicht wirklich.»

     «Ich schätze, man mag seinen eigenen Namen nie», merke ich schmunzelnd an. «Hat deiner wenigstens eine coole Beudetung?»

     «Wenn du 'Wind' cool finden solltest, dann ja.»

     «Frei wie der Wind», meine ich lachend und beinahe augenblicklich steigt Brisa in mein Gelächter ein, wobei sie missmutig ihr rundes Gesicht verzieht.

     Dennoch glitzern ihre Augen amüsiert. «Total. Haben Ajax und Lovis dich zurückgelassen?»

     «Jap», beantworte ich ihre Frage augenverdrehend. «Erst bestehen sie darauf, dass wir zurückkommen und jetzt haben sie nichts bessers zu tun, als mich sitzenzulassen. Danke dafür auf jeden Fall.»

     «Das nenne ich wahre Geschwisterliebe und Freundschaft», kommentiert Brisa und nimmt einen Schluck ihres Getränks, wobei sie angeekelt das Gesicht verzieht.

     Schmunzelnd beobachte ich sie. «Alkohol ist nicht so deins?»

     «Nope», bestätigt das kleinere Mädchen meine Vermutung. «Ich find's ekelhaft. Keine Ahnung, wie alle darauf so abfahren.»

     Während sie redet, dreht Brisa suchend den Kopf. «Vielleicht sollte ich irgendeinen Strauch damit bewässern.»

     Ich lache über ihre Worte und fahre mit den Fingern langsam über das Glas in meiner Hand. Ich würde weder behaupten, dass ich Alkohol unbedingt in meinem Leben brauche, noch, dass Champagner das beste Getränk auf dieser Welt ist, aber schmecken tut es mir trotzdem. Das könnte vielleicht auch daran liegen, dass ich schon ziemlich früh angefangen habe, mich durch die alkoholische Vielfalt durchzuprobieren.

     «Du meintest, dass die beiden darauf bestanden haben, dass ihr zurückkommt», reißt Brisa mich aus meinen Gedanken und lenkt meinen Blick wieder auf sich. «Demnach wart ihr nicht den ganzen Abend hier?»

     Ich muss lächelnd den Kopf schütteln. «Wir sind nie einen ganzen Abend hier. Meistens verziehen wir uns nach dem Hauptgang und kommen nicht zurück.»

     «Aber heute seid ihr ausnahmsweise mal um zwei Uhr nachts wiedergekommen?»

     «Exakt.»

     Interessiert mustert Brisa mich aus ihren grasgrünen Augen. «Wo seid ihr dann immer?»

     Unbehaglich zucke ich mit den Achseln, denn wir vermeiden es, den Leuten zu erzählen, wo wir uns herumtreiben. Unausgesprochene Regel. Ich weiß selber nicht genau, warum es so ist.

     «Meistens am Strand», antworte ich deshalb vage.

     «Oh Gott. Versprich mir bitte, dass ihr mich nächstes Mal mitnehmt», seufzt Brisa und kräuselt die Nase, als sie einen weiteren Schlucks des Champagners trinkt.

     Ich erwidere nichts, denn es wäre ein Versprechen, das ich vermutlich nicht einhalten könnte. Deshalb lasse ich meinen Blick wieder durch den Garten streifen und Brisa tut es mir glücklicherweise gleich.

     Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie sich ein hochgewachsener Mann mit scharfem Blick durch die Menge drängelt und dabei verdächtig in unsere Richtung marschiert. Rasch drehe ich den Kopf und erhebe mich räuspernd - Brisa einen entschuldigenen Blick schenkend.

     «Ich muss los», erkläre ich. «Wir sehen uns bestimmt irgendwann mal wieder.»

     Die rothaarige Schönheit zeigt mir mit einem sanften Lächeln, dass sie es mir nicht übel nimmt: «Bis bald, Talia. Pass auf dich auf. Die Welt ist grausam.»

     Mit diesen Worten steht sie ebenfalls auf, streicht ihr Kleid glatt und schenkt mir einen letzten, freundschaftlichen Blick, bevor sie mit ihrem Champagnerglas in der Menge verschwindet. Höchstwahrscheinlich ist sie jetzt auf der Suche nach einem geeigneten Strauch, der ihr den Champagner abnehmen wird.

     Ich streiche mich rasch eine Strähne meines kupferfarbenen Haares zurück, das sich durch den Besuch im Freibad wie eine ekelhafte Perücke anfühlt. Dann mache ich mich auf den Weg, um Ajax' Vater zu entkommen, der nicht sehr glücklich über meine Rückkehr scheint. Beziehungsweise über unserer Flucht. Oder beidem.

     Geschickt schlängele ich mich durch die Menschenmassen, die sich auf dem perfekt gemähten Rasen versammelt haben und laute Gespräche führen. Die Luft flimmert und ich habe das Gefühl, jeden Moment erblinden zu müssen. Wie viel Schmuck kann eine einzelne Person eigentlich ertragen?

     Aber das Leben meint es heute nicht ganz so gut mit mir: eine energische Hand legt sich auf meine Schulter und veranlasst mich, in meiner Bewegung innezuhalten, wobei ich in meinen Gedanken schon sämtliche Beleidigungen durchgehe, die ich Ajax und Lovis nachher an den Kopf werfen werde.

      Ajax' Vater ist angepisst. Das spüre ich, bevor ich es sehe.

      Also setze ich mein freundlichstes Lächeln auf und drehe mich zu dem Millionär um, der mich aus zusammengekniffenen Augen mustert.

     «Guten Abend», begrüße ich ihn höflich. «Ist alles in Ordnung?»

     «Ich dachte eigentlich, ich hätte mich klar ausgedrückt», knurrt der Mann nur und durchbohrt mich mit seinen Blicken. «Ich bin es leid, dass ihr euch jedes Mal neue Unsinnigkeiten in eure verfluchten Köpfe setzt. Ihr solltet mit euren dummen, kindischen Ideen aufhören und euch endlich mal benehmen, wie es sich gehört.»

     Ich presse die Lippen aufeinander, damit mir ja kein Wort entschlüpft. Aber ich bin mir sicher, dass er die Wut und Beleidigungen, die ich ihm jetzt zu gerne entgegenschleudern würde, in meinen Augen sehen kann.

     «Ajax' Zukunft steht auf dem Spiel», fügt mein Gegenüber seinen Worten hinzu, seine Stimme ist mittlerweile leiser und beherrschter geworden; kurz huscht sein Blick über meine Klamotten, doch zu meinem Glück kommentiert er es heute nicht weiter. «Ich weiß, dass ihr es nicht mögt und nicht versteht - vielleicht nicht einmal verstehen wollt - aber ich möchte sein Bestes. Und das erreiche ich nur, wenn ihr endlich mit euren Spielchen aufhört.»

     «Sein Bestes?», wiederhole ich mit monotoner Stimme und augenblicklich schießen Bilder meines besten Freundes durch meinen Kopf, die genau das Gegenteil beweisen. «Wenn es wirklich das ist, was Sie wollen, dann muss ich Sie enttäuschen und Ihnen mitteilen, sass Sie eine Menge falsch machen.»

     «Talia», fährt Ajax's Vater mit bebender Stimme fort, «ich weiß, dass ihr das nicht versteht. Und ich weiß, dass ihr frei sein wollt. Aber diese Welt gibt euch dafür keine Zeit mehr. In dieser Gesellschaft wird euch keine Zeit gewährt, um frei zu sein.»

     Mit funkelnden Augen begegne ich seinem Blick. «Dank Leuten wie Ihnen haben wir keine Freiheit mehr. Schieben Sie es nicht irgendwem in die Schuhe, wenn Sie selber verantwortlich sind.»

     Ein kaltes Lachen entfährt dem grauäugigen Mann. «Wann seht ihr endlich ein, dass es nicht nur unsere Schuld ist? Wann versteht ihr, dass alles, was wir uns wünschen, ist, dass ihr eine lebenswerte Zukunft haben werdet?»

     Ich erwidere nichts, habe seinen Worten nichts hinzuzufügen.

     Ich hatte diese Konservation selbst schon oft mit eigenen Eltern - will und kann diesen Kampf nicht auch noch mit Ajax' Vater austragen, bei dem ich mich einfach nicht entscheiden kann, ob ich ihn hassen oder er mir leidtun soll.

     Die Miene meines Gegenübers wird hart und er zieht seine Hand zurück. Unsere Blicke treffen sich, doch ich kann in seinem nichts mehr lesen.

     «Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend», sagt er schließlich mit ausdrucksloser Stimme. «Wenn Sie ihn sehen sollten, sagen Sie meinem Sohn bitte, dass ich auf der Suche nach ihm bin.»

     «Natürlich», erwidere ich ebenso emotionslos und richte mich auf.

     Mir ist bewusst, dass meine Augen weiterhin unzufrieden funkeln und mir ist nach wie vor danach, diesem Mann für längere Zeit irgendwo einzusperren. Ich weiß, dass es nicht fair wäre, denn irgendwo hat er recht: er will auf seine eigene, ziemlich spezielle, Art, das Beste für seinen Sohn.

     Ich beobachte, wie sich der Geschäftsführer den Anzug richtet und mir ein knappes Nicken schenkt, bevor er zwischen den anderen Menschen verschwindet.

     Kurz schließe ich die Augen, vergewissere mich dann, dass niemand zu mir sieht, um dann auf dem Absatz kehrtzumachen und in Richtung des kleinen Wäldchens zu hasten, das sich hinter dem mittelhohen Zaun befindet.

     Just in diesem Moment ertönen schrille Schreie hinter mir, die mich irritiert herumfahren lassen. Im flimmernden Licht der Scheinwerfer sehe ich, wie unzählige Wasserstropfen durch die Luft fliegen und sich auf den Gästen der Veranstaltung ergießen. Man könnte allerdings meinen, es würde sich um Säure handeln, denn sofort eilen die Männer ihren Begleitungen ritterlich zur Hilfe und versuchen, sie mit ihren Jacken vor der äußerst gefährlichen Flüsigkeit zu schützen. Und die Damen und Herren, deren Begleitungen sich wohl im Inneren der Villa befindem, rennen wie aufgeschreckte Hühner durch die Gegend.

     Mit offenem Mund lasse ich meinen Blick über dieses absurde Szenario wandern, bis meine Augen zwei dunkle Gestalten erspähen, die Richtung Wald flüchten. Und natürlich ganz zufälligerweise aus der Ecke kommen, von wo die Rasensprenger für den gesamten Garten kontrolliert werden können.

     Ajax und Lovis kommen rasend schnell auf mich zu - ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Euphorie kehrt zurück, als ich bemerke, dass Ajax einen kleinen Rucksack an sich drückt und mir vielsagend entgegenhält.

     Ich vergesse, dass ich den beiden für ihre Aktion eigentlich eine runterhauen wollte. Ebenfalls ignoriere ich die Tatsache, dass unser Plan eigentlich anders aussah. Stattdessen schlage ich bei Lovis ein und zu dritt setzen wir unseren Weg fort, ohne auch nur ein einziges Wort austauschen zu müssen.

     Mit einem breiten Grinsen fische ich mein Handy aus der Tasche meiner Jacke, wähle Matheas Nummer und renne weiter, bis ich zwischen den dichten Geäst des Wäldchens verschwinde.

____

[author's note]

können wir mal ganz kurz stolz darauf sein, wie schnell es diesmal ins richtige geschehen geht? 😂

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