POSTKARTENSOMMER

By livschreibt

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❝Den Ort, an den ich will, gibt es nicht.❞ ❝Dann musst du wohl die Reise so schön wie möglich machen.❞ Phoeni... More

WIDMUNG
VORWORT
POSTKARTE 1: Klingt nach einem Roadtrip
POSTKARTE 2: Baby-Karotten, Sprühkäse und Freiheit
POSTKARTE 3: Hervorragende Schuhwahl
POSTKARTE 4: Toast zum Frühstück
POSTKARTE 6: Mit dem Herzen hören
POSTKARTE 7: Nette Worte
POSTKARTE 8: Gewitterwolkenworte
POSTKARTE 9: Selbstzweifel sind die besten Kunstfälscher
POSTKARTE 10: Bilderbuchmoment und Gutenachtgeschichte
POSTKARTE 11: Korallenriff
POSTKARTE 12: Rote Gummibärchen
POSTKARTE 13: Sommermüdigkeit
POSTKARTE 14: Der freie Platz auf der Picknickdecke
POSTKARTE 15: Eingeknickte Buchseiten
POSTKARTE 16: Zeitstillstand
POSTKARTE 17: Manchmal ist das Leben eine Postkarte
POSTKARTE 18: Geschichten schreiben
POSTKARTE 19: Den Ort, an den ich will, gibt es nicht
POSTKARTE 20: Gartenzaun und Luftballons
POSTKARTE 21: Wie Zuhause
POSTKARTE 22: Kanten abschleifen
POSTKARTE 23: Angeknabberte Fingernägel
POSTKARTE 24: Schlangenlinien
POSTKARTE 25: Radioknistern
POSTKARTE 26: Magnete
POSTKARTE 27: Postkarte voller Wahrheiten
POSTKARTE 28: Hochseile

POSTKARTE 5: Kirschkernspucken

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By livschreibt

Es ist unglaublich schwer, eine neutrale Miene zu wahren, als ich Yule seinen Kaffeebecher reiche, und würde er mir tatsächlich ins Gesicht sehen, dann würden ihm meine zuckenden Mundwinkel ohne jeden Zweifel auffallen. Aber weil er gerade mit dem Navi beschäftigt ist, gebe ich ihm den Kaffee einfach in seine ausgestreckte Hand, ohne dass er den Kopf hebt.

Besser für mich - ich bin eine absolute Niete darin, Freude zu verstecken und gerade freue ich mich ziemlich über meinen kindischen Streich. Vielleicht ein bisschen zu sehr.

Ich verstecke mein Grinsen hinter meinem eigenen Becher und beobachte Yule verschmitzt dabei, wie er zum wohl dritten Mal versucht, mit seinem Finger auf dem Touchscreen zu schreiben.

»Mach du mal, ich glaube, das Auto kann meine Handschrift nicht lesen«, sagt er schliesslich und lässt sich frustriert seufzend in seinen Sitz sinken.

»Kein Wunder«, sage ich und betrachte amüsiert Yules kläglichen Versuch, ein kleines n zu schreiben.

Hätte ich nicht gewusst, was das krakelige Zeichen tatsächlich darstellen soll, hätte ich wohl eher auf ein Boot getippt, als dass ich auf die Idee gekommen wäre, dass es ein Buchstabe sein soll.

»Du hast deinen Lehrer bestimmt regelmässig Nervenzusammenbrüche beschert, wenn du Essays eingereicht hast.«

Beim Gedanken daran, dass mein Englischlehrer, der jeden, dessen Essay nicht genauso ordentlich geschrieben war, wie er es sich vorgestellt hat, beim Anblick von Yules Handschrift wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen wäre, lache ich leise in mich hinein.

»Nicht nur dann.« Yules Mundwinkel verziehen sich zu einem verschlagenen Grinsen.

»Du warst bestimmt immer der neunmalkluge Schüler in der letzten Reihe, zu intelligent, um aufpassen zu müssen und wenn du es doch getan hast, dann mit skeptischer Miene, nur darauf wartend, dass sich eine Gelegenheit ergibt, den Lehrer mit einem spöttischen Kommentar zu korrigieren.«

Ich drehe mich so in meinem Sitz herum, dass ich Yule direkt ansehen kann und stelle meinen Kaffeebecher in die dafür vorgesehene Halterung. »Stimmt's oder hab' ich recht?«

Triumphierend ziehe ich eine Augenbraue nach oben, weil ich sicher bin, es mit meiner Beschreibung ziemlich genau auf den Punkt gebracht zu haben.

Ich selbst hätte zwar auch nicht den Preis der aufmerksamsten oder aktivsten Schülerin gewonnen - um ehrlich zu sein, bin ich mir sogar recht sicher, dass die Lehrer erst einmal nachdenken mussten, welches Gesicht sich hinter dem Namen Phoenix Edwards verbirgt, wenn sie die Mitarbeitsnote gemacht haben (was eigentlich auch schon so ziemlich alles über meine Noten in diesem Bereich sagt) -, aber wenn ich schon nicht aufgepasst habe, dann war ich wenigstens nicht diejenige, die alles, was der Lehrer tat, mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen verurteilt hat.

Ich war viel eher diejenige, die aufgrund regen Zettelchenaustauschs gar nicht mitbekommen hat, was vor sich ging, und deshalb auch keinen Grund hatte, einen Lehrer zu verurteilen.

Yule grinst schief und sieht irgendwie zufrieden mit sich aus. »Du hast das regelmässige Zuspätkommen vergessen.«

»Ach ja.« Ich nicke. Wie habe ich das auch vergessen können. »Der Liebling aller Lehrer, ich bin mir sicher.«

»Und trotzdem haben sie nie etwas gemacht.« Yule zuckt lässig mit den Schultern.

»Warum nicht?«

Obwohl ich mich nicht gerade als Musterschülerin bezeichnet hätte (aufgrund der Unmengen an Zettelbotschaften, die mich vom Unterricht abgelenkt haben), bin ich nur ein einziges Mal unangenehm aufgefallen. Und zwar als ich viel zu laut gelacht habe über einen Witz, den mir meine Banknachbarin erzählt hat.

Umso unfairer habe ich es also gefunden, dass ich nur wegen dieses einen Mals ohne jegliche Diskussion zum Nachsitzen geschickt wurde (und dabei war der Witz gar nicht so lustig gewesen und das Nachsitzen hat sich nicht einmal gelohnt), während andere Leute mit allem durchzukommen schienen.

Andere Leute sind wohl auch Yule.

»Weil ich zu gut war«, erwidert Yule mit einem hochmütigen Schulterzucken.

Ich schnaube. »War ja klar.«

Das Arschloch, das trotz allem Bestnoten schreibt. Es sollte mich eigentlich gar nicht wundern.

»Weisst du, wie belastend es manchmal ist, gut in etwas zu sein?«, sagt Yule dann unvermittelt und verzieht das Gesicht.

»Du Ärmster.« Ich lege ihm die Hand auf den Unterarm, mein Tonfall unverkennbar ironisch.

Yule verdreht die Augen. »Ich mein's ernst.«

»Ich auch. Der Ausdruck meines Mitleids war vollkommen ernst und überhaupt nicht sarkastisch gemeint.«

Yule lacht schnaubend. »Ach halt doch die Klappe.«

»Ist mies, mit den eigenen Waffen geschlagen zu werden, was?« Ich kann nicht anders als zu grinsen.

»Du bist unglaublich nervig.«

»Stimmt.« Ich nicke. »Und ich bin ausserdem eine gute Zuhörerin und da du mein neuer bester Freund« - bei diesen Worten verzieht Yule das Gesicht, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, von mir als Freund bezeichnet zu werden (Halleluja, zum Glück habe ich nicht zum Spass den Ausdruck ›fester Freund‹ verwendet - hätte er sich dann vor ein Auto geschmissen?) - »bist, höre ich dir trotzdem zu, wenn du ein Problem hast«, sage ich und mache eine grosszügige Geste mit der Hand.

»Schiess los, erzähl mir, warum es so unerträglich schwer ist, gut in etwas zu sein.«

Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und sehe Yule über den Rand meines Bechers hinweg auffordernd an.

»Der Sarkasmus in der Stimme gefällt mir immer noch nicht.«

»Sei nicht so eine Drama Queen.«

Yule macht zwar ein genervtes Gesicht, aber ich sehe der Regung in seinen Augen an, dass er mir jetzt gleich etwas erzählen wird. Etwas, das ihn beschäftigt.

»Warst du noch nie gut in etwas?«, fragt er schliesslich und beisst sich auf die Unterlippe, als müsse er nachdenken. »So richtig gut. Die Beste?«

Doch. Im Kirschkernspucken. Aber das erzähle ich Yule jetzt lieber nicht. Etwas sagt mir nämlich, dass Kirschkernspucken nicht unbedingt das ist, was er meint.

Aber Yule scheint gar nicht auf meine Antwort zu warten. Wahrscheinlich würde sie ohnehin nur seinen Gedankengang unterbrechen.

»Du bist so gut, dass alle von dir erwarten, jedes Mal wieder so gut zu sein. Sie rechnen mit deiner Leistung.« Er hebt eine Schulter.

»Du setzt einen gewissen Standard und obwohl es sich extrem gut anfühlt, ihr Lob zu bekommen, hast du jedes Mal Angst, dass du ihre Erwartungen nicht mehr erfüllen kannst, weisst du?«

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie der Druck jedes Mal gestiegen ist, besser als meine Schwester zu sein. Weil bei den Familienfesten alle immer auf mich gesetzt haben und ich sie auf keinen Fall enttäuschen wollte, indem ich die Kirschkerne nicht so weit spuckte wie Sedona.

Aber auch das sage ich Yule nicht. Stattdessen nicke ich einfach nur und gebe ihm damit zu verstehen, dass er weiterreden soll.

»Du tust die Dinge nicht mehr aus Spass, sondern mit der ständigen Sorge, nicht mehr gut genug zu sein.«

Er macht eine kurze Pause, fährt mit dem Finger den Rand seines noch unangerührten Kaffeebechers nach. Eine Weile ist es still zwischen uns und einzig das Gelächter einer Familie, die über den Parkplatz des Motels geht, ist zu hören.

Dann fährt Yule fort, seine Stimme nachdenklicher dieses Mal. Leiser. »Manchmal ist es einfacher, unter dem Radar zu sein und einfach das tun zu können, was man mag, ohne dass ständig irgendwelche Leute irgendwas von einem erwarten.«

Er hat es zwar nicht ausgesprochen, aber mir ist klar, dass er vom Schreiben spricht. Er liebt es, und er will es perfekt machen. Aber eben nicht nur für sich selbst, sondern weil andere Leute, Lehrer vielleicht, fest damit rechnen.

»Ich weiss, was du meinst.« Und zwar nicht nur bezogen auf die Kirschkernen. »Aber denkst du nicht, dass der Radar auch Vorteile hat? Wenn du immer unter dem Radar bist, dann hast du zwar keinen Druck, aber du hast auch keinerlei Anerkennung.«

Ich lege den Kopf schief und betrachte Yules Profil. Seine kantigen Gesichtszüge, die so gar nicht zu den weichen Worten passen, die er manchmal von sich gibt. Die gerade Nase. Und die dunkeln Haare, die ihm immer in die Stirn fallen.

Sein Gesicht, das meistens den Ernst seiner Gedanken widerspiegelt, von dem ich aber weiss, dass es auch vor Faszination strahlen kann.

»Braucht es nicht ein bisschen von beidem?«, frage ich schliesslich.

»Du hast recht.« Er nickt nachdenklich. »Irgendwie. Aber es ist schwer, eine Mitte zu finden.«

»Bist du perfektionistisch, Yule?«

»Was denkst du denn?« Er lacht trocken.

»Ich glaube, dass du dir den Druck vor allem selber machst. Ich denke, die Angst, nicht gut genug zu sein, kommt daher, dass du dir zu viele Gedanken machst und nie zufrieden bist.« Ich ziehe ein Bein an und stütze meinen Kopf auf mein Knie.

»Überleg mal, von all den Malen, in denen du dir Sorgen gemacht hast, wie viele Male hast du tatsächlich jemanden enttäuscht? Die Leute mögen das, was du tust, aus einem Grund. Sie mögen es, weil es von dir kommt. Und dann werden sie auch alles andere von dir mögen.«

»Es ist schwer, selbst zu wissen, ob es gut ist oder nicht. Das, was ich geschrieben hab, meine ich. Ich kann es nicht beurteilen, weil ich keinen Massstab habe, an dem ich es messen könnte.«

Er schweigt einen Moment. »Ich kann nicht einfach auf einen Basketballkorb schiessen und sehen, ob ich treffe, weisst du?«

Tja. Schreiben ist wohl doch ein bisschen was anderes als das Kirschkernspucken.

»Aber was, wenn du den Korb nicht dann triffst, wenn deine Texte gut sind, sondern dann, wenn du sie fertig geschrieben hast?«, sage ich. »Sie müssen doch nicht gut sein nach dem Ermessen anderer, sie müssen nur dich stolz machen. Und du bist doch sicher stolz, wenn etwas fertig ist, oder nicht?«

Yule nickt zögerlich.

»Einfach ein bisschen mehr Spass an der Freude. Einfach ein bisschen weniger nachdenken, ein bisschen mehr geniessen. Und dann ist es egal, was andere denken, weisst du? Und weisst du noch was, Yule?«

»Was?«

»Diesen Sommer erwartet keiner was von dir. Diesen Sommer tun wir ganz einfach das, was wir wollen und ich stelle keinerlei Forderungen an dich - ausser, dass du keinen Toast mehr kaufen sollst.« Ich hebe drohend den Zeigefinger.

»Du lässt das wie eine Kleinigkeit aussehen, aber kannst du dir vorstellen, was für einen Druck du mir damit machst, Phoenix?« Auf Yules Gesicht zeichnet sich gespielter Ernst ab. »Genau das wollten wir doch vermeiden.«

»Tja, tut mir leid, aber dein blöder Toast hat dich auf geradem Weg auf meinen Radar gebracht.«

»Danke«, sagt er und seine Stimme ist dabei merkwürdig leise und überhaupt nicht sarkastisch, wie ich es von ihm gewohnt bin.

»Gerne«, erwidere ich. »Sind noch genügend Plätze im Rampenlicht frei.«

»Ich mein's ernst. Danke. Für deine Worte.«

Es hat sich noch nie jemand bei mir für Worte bedankt und dass es ausgerechnet Yule ist, der es tut, bedeutet mir viel.

Yule, dessen ganzes Wesen aus Worten besteht. Wahrscheinlich träumt er nicht in Bildern, sondern in Buchstaben.

»Das hast du schön gesagt. Das schreib ich vielleicht auf. Um mich daran zu erinnern. Wenn ich darf?«

»Du kannst es deine Protagonistin sagen lassen. Deine Protagonistin Phoenix

»Träum weiter, Edwards.« Er schnaubt. »Und nur, damit das klar ist, ich zweifle nicht an meinen Texten.« Er reckt das Kinn in die Höhe. »Ich bin voller Selbstbewusstsein.«

Pfff. Na klar. Das, was er eben alles erzählt hat, das hat er gar nicht ernst gemeint. Eigentlich hat er gar keine Zweifel, nicht gut genug zu sein. Nie.

Nachdem unsere kleine Seelsorger-Session beendet ist, gebe ich schliesslich eine Adresse ein, die irgendwo in der Nähe des Ortes liegt, an den wir wollen.

Und mich überkommt ein kleines bisschen Genugtuung, weil das Auto meine Handschrift sofort erkennt, im Gegensatz zu Yules.

Wir haben beschlossen, heute entlang der Küste zu fahren und zu versuchen, eine Unterkunft zu finden, die am Meer liegt. Wo genau das sein wird, werden wir schon noch früh genug herausfinden - spätestens dann, wenn Yule zu genervt von meinem Geplapper ist und aus dem Auto aussteigen möchte.

Er hat schon gedroht, sich einfach Kopfhörer reinzustecken, wenn ich mich nicht zusammenreisse, aber eigentlich ist mir egal, ob er zuhört oder nicht. (Obwohl es natürlich schon ein wenig seinen Reiz verliert, wenn ich weiss, dass ich ihm dann nicht mehr auf die Nerven gehen kann.)

Während Yule mich beobachtet, greift er abwesend nach seinem Kaffeebecher und hebt ihn an seine Lippen. Und um nicht allzu interessiert auszusehen nehme ich meinen Kaffee ebenfalls in die Hand und trinke einen Schluck.

»Das ist nie im Leben schwarzer Kaffee«, sagt Yule, nachdem er einen Schluck getrunken hat und den Becher angewidert begutachtet.

Also bitte - so ekelhaft ist Decaf nun auch wieder nicht.

»Was hast du mir da gegeben?«

»Kein Zucker und keine Milch, wie du gesagt hast«, sage ich mit Unschuldsmiene und streiche mir mein Haar über die Schulter.

»Da fehlt das Koffein.«

»Als ob du das jetzt schmecken würdest.«

»Du hast mir nicht ernsthaft Decaf gegeben?« Yules Augenbrauen wandern in die Höhe, während er mich anstarrt.

»Irgendwie musste ich mich ja rächen dafür, dass du mich ausgelacht hast.« Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust und schiebe die Unterlippe hervor.

Dabei fühle ich mich überhaupt nicht wie ein kleines Kind. Ganz und gar nicht. Null.

Yule starrt mich weiter an, dann legt er den Kopf in den Nacken und lacht.

Yules Lachen ist gar nicht so selten, wie ich gedacht habe. Er kann durchaus lachen - vor allem über mich.

»Du rächst dich mit -« Seine Schultern beben, während er erneut zu lachen beginnt. »...mit Decaf?«

»Scheint seine Wirkung ganz gut zu erfüllen, oder nicht?«, sage ich und ahme dabei Yules für gewöhnlich trockenen Tonfall nahezu perfekt nach.

Daraufhin hält er die Klappe und presst die Lippen aufeinander, während ich in aller Ruhe (begleitet von meinem fröhlichen Summen) die Adresse weiter eingebe.

🌲

»Wie schön ist das Leben?«, frage ich und staune über die wunderschöne Kulisse, die sich uns abseits der Strasse bietet.

Mittlerweile haben wir die Küste fast erreicht und in der Ferne hinter grünen Wiesen, die sich meilenweit erstrecken, lassen sich schon die Klippen und der Pazifik ausmachen.

Das Wetter ist zwar nicht ganz so schön wie gestern, es windet ziemlich heftig (so heftig, dass ich mir das Haare waschen und bürsten heute morgen getrost hätte sparen können) und ein paar Wolken sind am Himmel zu sehen, trotzdem tut es der malerischen Landschaft keinen Abbruch.

Wenn möglich trägt es sogar noch zu ihrem Charme bei.

»Auf einer Skala von eins bis zehn«, fahre ich fort.

»Jetzt gerade?« Yule hält demonstrativ den Becher in die Höhe. »Eins. Nein - warte. Null Komma fünf

Nach mehr als einer Stunde ist er noch immer nicht über meinen kleinen Streich hinweggekommen. Ich hätte ihm ja meinen Kaffee angeboten, um ihn zu besänftigen, doch leider befindet sich in meinem Becher zum entkoffeinierten Kaffee zu allem Übel auch noch Vanillesahne.

Ich kenne Yule zwar noch nicht allzu lange, aber ich bin mir ziemlich, ziemlich sicher, dass er das sogar noch schlimmer finden würde.

»Du bist eine Drama Queen«, sage ich grinsend.

»Und du eine Hexe.«

»Ich weiss. Siehst du meine Haarfarbe?« Ich nehme eine meiner Strähnen in die Hand und betrachte sie. »Früher hätte man mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«

»Ich kann's nachvollziehen«, murmelt Yule und macht ein düsteres Gesicht.

»Erstaunlich.« Nachdenklich beisse ich mir auf die Unterlippe und mustere Yule interessiert. »Ich dachte wirklich, deine Laune würde sich bessern, wenn du keinen schwarzen Kaffee mehr trinkst.«

»Tja, da lagst du falsch. Ich bin einfach so. Du kannst mich von jetzt an also wieder schwarzen Kaffee trinken lassen.«

Mit meinem Finger piekse ich in die Seite. »Dann sei mal anders und hab gute Laune.«

»Ist sehr schwer in deiner Gegenwart.«

»Ich glaube, wenn du einmal was Nettes sagst, fresse ich einen Besen.«

»So weit wird es nicht kommen, du brauchst also keine Angst um deinen Besen zu haben, kleine Hexe.«

»Und wenn doch, dann schreib ich es auf - mit Datum und allem.« Ich grinse. »Und ich erzähle allen davon.«

Während ich das sage, fällt mir ein, dass ich gar nicht wüsste, wem ich davon erzählen sollte. Ich kenne Yules Freunde nicht. Weiss nicht, mit wem er sich abgegeben hat während seiner Schulzeit. Mit wem er in der hintersten Reihe sass und - die Arme verschränkt, den Stuhl nach hinten gekippt - gelangweilt dem Lehrer gelauscht hat.

Wie kann es sein, dass Yule mir in all den Jahren High School kein einziges Mal aufgefallen ist?

Erstaunlich, wie man doch manchmal über Leute hinwegsieht, von denen man im Nachhinein denkt, sie nie mehr übersehen zu können. Weil einem plötzlich all die Merkmale, die sie ausmachen, so vertraut sind, dass man sie selbst in Dingen wahrzunehmen glaubt, die nicht im Entferntesten in Verbindung mit der Person selbst stehen.

Und weil diese Merkmale plötzlich so aussergewöhnlich erscheinen, dass man sich wundert, wie sie jemals in der Masse haben untergehen können.

»Keine Sorge, das Papier und die Spucke kannst du dir sparen.«

🌲

Okay, Hand hoch, wer hat alles schon an seinen Texten gezweifelt? 🙋🏼‍♀️ Wir alle, oder?

Das nächste Kapitel spielt definitiv am Meer und Yule wird vielleicht wieder ein wenig nachdenklich. 🌊

Danke fürs Lesen. ♥️

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