Am Ende des Nirgendwo

By Jo_Leilani

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Unschlüssig steht Emilia an einem warmen Spätsommertag am Flughafen ihrer Heimatstadt. Gerade 18 geworden, mi... More

Kapitel 2

Kapitel 1

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By Jo_Leilani

Ohne einen Blick hinein zu werfen, schob Emilia ihre Hand in ihre Tasche und suchte den weißen Umschlag, in dem sich ihre Chance auf Freiheit befand. Er war tief in ihrer Tasche vergraben, weil er das Wichtigste war, das sie besaß. Die blaugrauen Augen starr auf die große Abflug-Tafel gerichtet, begann sie die einzelnen Scheine zu zählen. In den letzten Tagen hatte Emilia dutzende Male begonnen zu zählen und es nie bis zum Ende geschafft, war jedes Mal unterbrochen worden. Aber das machte gar nichts, denn sie konnte sich nur zu gut an die Worte ihrer Mutter erinnern, als sie ihr den Umschlag überreicht hatte.

„Emilia, zu deinem 18. Geburtstag war es der Wunsch deiner Großmutter, dass du das Geld erhältst, dass sie 18 Jahre für dich gespart hat. Leider kann sie es dir nicht mehr selbst überreichen."

Achtzehntausend Euro hatte die Großmutter für ihre Enkelin in 18 Jahren gespart. Tausend Euro, jedes Jahr. Trotz Geldsorgen hatte sie dies mit einer Beharrlichkeit getan, die selbst Emilia erstaunte. Nur wenige Wochen vor deren Geburtstag war die alte Frau friedlich in ihrem Bett eingeschlafen und hatte damit eine tiefe Leere in ihrer Enkelin hinterlassen. Emilia spürte Tränen in ihre Augen treten, die sie entschlossen wegblinzelte. Der Tod ihrer Großmutter war nur ein Geschehnis der letzten Monate, weshalb sie heute hier stand. Nicht umsonst zählte sie den letzten Sommer zum schlimmsten ihres Lebens.

Heute hatte Emilia es tatsächlich geschafft bis zu Ende zu zählen. Natürlich hatten sich die Scheine im Umschlag nicht verringert. Dabei hatte es sie allerhand Überredungskunst gekostet, dass ihre Mutter ihr den Betrag nicht abnahm, um ihn auf die Bank zu bringen.

„Aber Mutter! Ich bin doch jetzt erwachsen, ich eröffne gleich nach der Schule ein eigenes Konto auf der Bank, was sollte ich denn mit so viel Geld sonst zuhause anfangen?"
„Ich weiß Emilia, trotzdem würde ich mich wohler fühlen, wenn ich das Geld auf unser Familienkonto lege. Ich weiß, wie junge Leute ticken, ich war schließlich auch einmal jung."
Emilia blinzelte ihre Mutter einige Momente enttäuscht an. Dann senkte sie den Kopf, seufzte tief und hielt ihrer Mutter den Umschlag hin. Es war riskant, aber die einzige Möglichkeit, ihrer Mutter vorzumachen, dass sie tatsächlich nicht vorhatte, das Geld auszugeben. Wenngleich genau das der Plan war. Ihre Mutter schien hin und her gerissen zu sein, blickte zuerst zu dem Geldumschlag, dann zu ihrer Tochter.
„Na gut, du hast recht. Du bist alt genug und musst lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Und ich würde es ohnehin sofort mitbekommen, wenn du das Geld leichtfertig ausgibst."
In Emilia brach lauter Jubel aus. Ihre Mutter aber lächelte sie nur artig an und nickte.
„Keine Sorge, Mutter. Ich werde dich und Vater nicht enttäuschen, das weißt du doch."

Emilia war tatsächlich am nächsten Tag mit dem Umschlag aufgebrochen, allerdings weder zur Schule, noch zur Bank. Stattdessen hatte sie von ihrem eigenen Ersparten ein Taxi bezahlt, den schweren Campingrucksack, der seit Jahren im Schrank verstaubte und von dem Emilia nicht wusste, zu welchem Zweck er jemals gekauft worden war, in den Kofferraum gehievt und war zum Flughafen gefahren. Auf dem Weg hatte sie im Sekretariat ihrer Schule angerufen und sich krankgemeldet, so würde sie vor den späten Abendstunden niemand vermissen.

Ihr Vater führte eine erfolgreiche Anwaltskanzlei und ihre Mutter war für ihr eigenes Modelabel und ihre Kollektionen beliebt. Die wenigen Tage, an denen sie keine Überstunden gemacht hatten, konnte Emilia an einer Hand abzählen. Und obwohl es viele Regeln in Emilias Leben gab, überließen die Eltern der Schule oder den Professoren und Lehrern der Nachmittagsaktivitäten, die Emilia im Anschluss besuchen musste, die Kontrolle dieser. In der Familie war immer schon höchster Wert auf einwandfreie Bildung gelegt worden. Seit sie denken konnte, mussten die Aktivitäten in ihrer Freizeit einen Zweck erfüllen. Von Ballett über Fremdsprachenunterricht hatte Emilia bereits als Sechsjährige alles gekannt. Nun kam es ihr fast wie ein Segen vor, dass sie nie großartig gegen ihren goldenen Käfig rebelliert und ihren Eltern damit niemals einen Grund gegeben hatte, an ihrem Gehorsam zu zweifeln. Nun aber konnte Emilia diesem Druck nicht mehr standhalten. Vor allem nicht, nach dem, was im letzten Schuljahr passiert war und nicht nur ihr Leben in ein heilloses Chaos gestürzt hatte. Heute war zudem der klassische Tanz-Unterricht ausgefallen, es war also der ideale Zeitpunkt für ihre Flucht. Vielleicht sogar der einzige in nächster Zeit.

Unschlüssig wanderte Emilias Blick über die vielen verschiedenen Destinationen. Sie wollte auf Nummer Sicher gehen und nicht zu lange auf einen passenden Flug warten. Umso schneller sie fort kam, umso größer waren die Chancen, dass man ihren Weg nicht allzu schnell verfolgen würde können. Einige Ziele schieden von Anfang an aus. Alle Länder, für die Visa nötig waren und jene, in denen Unruhen oder Krieg herrschten. Sie wollte zwar um jeden Preis fort, aber sie hatte nicht vor dafür ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Jetzt, wo sie es endlich selbst in der Hand hatte und frei entscheiden konnte, wie sie es leben wollte. Schließlich sprang ihr die griechische Insel Kos ins Auge. Für einen kurzen Moment überlegte Emilia noch. Sie war noch nie in Griechenland gewesen, hatte jedoch bereits von den verschiedenen Inseln gehört. In ihrer Erinnerung war die Insel Kos nicht sehr groß und zog nur im Hochsommer allerhand Touristen an. Emilia rechnete jedoch damit, dass dort jetzt zumindest noch spätsommerliche Temperaturen herrschten. Bis zum Wintereinbruch konnte sie also durchaus dort bleiben. Zudem wollte sie vorerst in kleineren Städten unter dem Radar bleiben – zu groß war die Gefahr, dass man sie fand. Vielleicht fand sie in Kos ja sogar eine unscheinbare Arbeit, mit der sie sich Kost und Logis verdienen konnte. Umso länger Emilia darüber nachdachte, umso idealer erschien ihr die Insel. Der Flug ging erst in knapp zwei Stunden, mit etwas Glück bekam sie also noch einen Platz in dem Flieger.

In Windeseile versuchte Emilia zu überblicken, wo sie Last-Minute Tickets buchen konnte. Schließlich entdeckte sie einen Informationsschalter, hinter dem eine Flughafenmitarbeiterin mit einem dicken Buch in der Hand, saß. Kurzerhand marschierte sie auf die junge Frau zu und blickte sie auffordernd an, bis die ihren Blick hob.
„Was kann ich für Sie tun?" fragte sie leicht säuerlich über die Störung.
„Ich würde gerne noch heute nach Kos fliegen. Lässt sich da etwas machen?" Emilia dagegen lächelte zuckersüß.
Sie wusste, dass ihr feines Gesicht mit den blaugrauen Augen und den langen braunen Wimpern selbst auf Frauen Eindruck machte. Den zarten aber durchtrainierten Körper verdankte sie zum einen den Genen ihrer Mutter und zum anderen dem eisernen Drill beim Ballett. Die junge Frau senkte ihren Blick auf den Bildschirm ihres Computers und drückte mit verkniffenem Gesichtsausdruck eine Weile schweigend auf der dazugehörigen Maus herum.
„Sie haben Glück. Es sind noch zwei Economy Plätze sowohl für den Flug nach Athen, als auch für den Anschlussflug nach Kos frei. Wird aber nicht billig."
„Das macht nichts", versicherte Emilia schnell.
„Kostet dann vierhundertdreißig Euro. Bar oder mit Kreditkarte?"
„Bar."
Skeptisch musterte die Mitarbeiterin Emilia. Für einen kurzen Moment schien sie zu überlegen, weshalb Emilia so viel Bargeld mit sich führte, doch dann zuckte sie kaum merklich die Schultern und nickte.

Nur wenige Mausklicks später hatte Emilia Bargeld gegen zwei Flugtickets eintauschen können und machte sich auf den Weg zum Sicherheitscheck. Ihr Gepäck hatte gerade noch die passende Größe für die Gepäckfächer über den Sitzen, weshalb sie sich zumindest die Gepäckabgabe sparen konnte. Bevor sie jedoch durch die Kontrolle ging, stoppte sie auf den Toiletten, wo sie mit flinken Fingern ihre neue Prepaid-SIM in ihr neues Handy einbaute. Schon vor Wochen, als ihr Plan Gestalt angenommen hatte, hatte sie sich sowohl eine neue SIM-Karte, als auch ein neues Gerät besorgt und es wie einen Schatz gehütet. Ihre Eltern hatten ihr noch nie vertraut und schon vor Jahren eine Ortungsanwendung auf ihrem Handy installiert – zu ihrem eigenen Besten, wie sie sagten. Deshalb konnte sie ihr altes Gerät einfach nicht in ihr neues Leben mitnehmen, es lag ausgeschaltet auf ihrem Nachttisch. Die Sicherheitskontrolle hatte sie schließlich rasch durchquert, denn sie hatte sich beim Packen ihres Rucksacks auf die notwendigsten Dinge beschränkt. Neben ihrer Kleidung, die vom leichten Sommershirt bis zur dicken Winterjacke reichte, trug sie, außer ihrem Pass und dem neuen Handy, keinerlei persönliche Dinge mehr bei sich. Sie hatte die letzte Woche in der Schulbibliothek in jeder freien Minute recherchiert – sicherheitshalber nur von dort, denn auch ihr Laptop und die Computer im Arbeitszimmer der Eltern wurden von jenen überwacht – und viele Erfahrungsberichte von Weltreisenden und deren Packlisten gelesen. Was brauchte man unbedingt auf so einer Reise ins Ungewisse? Obwohl Emilia bereits an vielen Orten auf der ganzen Welt Urlaub gemacht hatte, stets war es mit den Eltern gewesen und nur selten war es dabei um richtigen Urlaub gegangen. Immer hatte ihre Mutter beim Koffer packen das Ruder übernommen und nützliche Utensilien, wie ein Flaschenöffner oder Blasenpflaster, schloss ein Business-Trip nach Mailand, um ihre neue Kollektion vorzustellen, eben nicht ein. Also hatte Emilia sich schließlich kurz vor ihrer Abreise noch einen Schlafsack, ein neues Hygieneset, eine Reiseapotheke und ein kleines Campingset und andere nützlichen Kleinigkeiten zugelegt. Die Erfahrungsberichte rieten unerfahrenen Reisenden auf alles gefasst zu sein.

Als Emilia schließlich in der Abflughalle angekommen war, blieb sie zunächst unschlüssig stehen. Und nun? Sie hatte noch über eine Stunde Zeit bis ihr Boarding begann und die große Anzeigetafel, die sich über eine ganze Seite der Abflughalle erstreckte, zeigt noch nicht einmal das Gate für ihren Flug nach Athen an. Dann aber meldete sich mit einem leisen Gurgeln ihr Magen und Emilia erinnerte sich wieder daran, dass sie heute noch nichts zu sich genommen hatte. Am Morgen hatte sie kurz nach ihren Eltern das Haus verlassen, damit die Putzfrau und der Gärtner, die üblicherweise gegen acht Uhr kamen, sie nicht bei ihrer Flucht erwischten. Für Frühstück hatte sie keine Zeit und um Etwas einzustecken zugebenermaßen keinen Kopf gehabt. Ihr Magen wies sie erneut mit einem vorwurfsvollen Grummeln darauf hin, dass er gefüllt werden wollte, somit gab Emilia gedanklich seufzend auf und reihte sich am Ende einer schier endlosen Schlange hungriger Reisender vor einem kleinen Café ein. Zwanzig Minuten später saß sie schließlich in dem überfüllten Café an einem Tisch mit zwei weiteren Reisenden, einen Teller mit Toast, Rührei und Speck vor sich.

„Und Süße, wohin verreist du?" wollte der schlaksige junge Mann ihr gegenüber wissen.
Emilia sah nur widerwillig von ihrem Frühstück auf und blickte in die stechenden grünen Augen des Mannes. Er konnte kaum älter als sie sein, denn obwohl seine Gesichtszüge hart wirkten, waren sie dennoch jugendlich. Unwillig funkelte Emilia ihr Gegenüber an.
„Wüsste nicht, was dich das anginge?" erwiderte Emilia ungerührt.
„Oh, du bist eine von den ganz Aufgeschlossenen."

Das Mädchen neben ihm hob belustigt eine Augenbraue, löffelte aber schweigend ihren Fruchtjoghurt weiter. Emilia sah sich bereits nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit um, doch das Mädchen kam ihr schließlich zuvor.
„Du darfst Daniel nicht so ernst nehmen. Mein Bruder ist ein Idiot."
Emilia zuckte nur die Schultern und schob sich die letzte Gabel voll Rührei in den Mund. Auf Unterhaltungen dieser Art hatte sie keine Lust. Bevor sie irgendwelche Bekanntschaften zuließ, wollte sie zumindest Deutschland verlassen haben. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr zudem, dass es höchste Zeit war, ihr Gate zu suchen.
„Nett, euch kennengelernt zu haben", erklärte Emilia mit vor Sarkasmus triefender Stimme, schulterte ihren Rucksack und verließ das Café ohne die Geschwister eines weiteren Blickes zu würdigen. Das ging ja gut los!

Wenige Minuten später stand Emilia mit mehreren Dutzend Wartenden an ihrem Gate. Der Flug war nahezu ausgebucht und Emilia wunderte sich einen Moment, dass sie so kurzfristig noch einen Platz ergattern konnte. Scheinbar war Griechenland auch in der Nachurlaubszeit sehr beliebt. Jetzt konnte ihr neues Leben also beginnen!


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