SLOWTOWN

By agustofwind

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❝While I'm doing my time due to circumstance, cross that bridge, face the consequence.❞ Sie arbeiten so gut z... More

EPIGRAPH ㅡ slowtown
PROLOG ㅡ the existential importance of slowtown for jeon jeongguk
KAPITEL EINS ㅡ the korean job
KAPITEL ZWEI ㅡ long island getaway
KAPITEL DREI ㅡ camilla
KAPITEL VIER ㅡ brother
KAPITEL FÜNF ㅡ kiss the blood off my hands
KAPITEL SECHS ㅡ cittàlenta
KAPITEL SIEBEN ㅡ the prodigal son
KAPITEL ACHT ㅡ addio
KAPITEL NEUN ㅡ the end of a friendship
KAPITEL ZEHN ㅡ speakeasy
KAPITEL ELF ㅡ birthright
KAPITEL ZWÖLF ㅡ the unholy trio
KAPITEL DREIZEHN ㅡ into that good night
KAPITEL VIERZEHN ㅡ a ghost of christmas past
KAPITEL FÜNFZEHN ㅡ the calm before the storm
KAPITEL SECHZEHN ㅡ sic semper tyrannis
EPILOG ㅡ the existential importance of slowtown for kim taehyung
GOODBYE ㅡ leave the city

KAPITEL SIEBZEHN ㅡ slowtown

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By agustofwind

In den ersten Tagen war ihm alles verzerrt und verkehrt erschienen. Für jemanden, der sein gesamtes Leben in der gleichen Stadt verbracht hatte – einer facettenreichen und veränderungswilligen Stadt zwar – aber immer noch einer Stadt, die ihr Einzugsgebiet mit unverminderter Rigidität verteidigte, würden sich niedrige Häuser, enge Gässchen und der Geruch von Salz niemals normal anfühlen.

Aber Jeongguk konnte nicht von sich behaupten, dass er es nicht auf irgendeine Weise genoss. Das Fischerdorf von Paso Nuevo an der nördlichen Karibikküste von Kolumbien drängte sich geradezu malerisch in die felsige Bucht, von der aus man die azurblaue See von allen Winkeln überblicken können.

Die See! Noch ein neuartiges Phänomen, das er bisher eindeutig nur in einer von New York abgemilderten Version kannte; verfälscht bekommen hatte, wenn man so wollte. Der Hudson und der East River waren eine trübe, schmutzige Entschuldigung eines Meer, das von den Einwohnern der Stadt in den zweihundert Jahren, die man eine Metropole auf der Sumpflandschaft errichtet hatte, graduell in einen Abwasserkanal verwandelt worden war.

Man konnte es überhaupt nicht mit den kristallklaren Wogen der lauwarmen See vergleichen, die Kolumbien bis Maracaibo umschwemmten. Jeden Morgen brach sich das Sonnenlicht auf der glatten Oberfläche und Jeongguk war an ein Kaleidoskop erinnert, das splitterhaft seine Scherben des Lichts auf Betrachter, Sand und Bäume warf.

Paso Nuevo war ein kleines Paradies, aber nichts auf dieser Welt würde die Einmaligkeit der kleinen Insel übertreffen, die gut vierzig Kilometer von der Küste entfernt in den ewig gleichmütigen Strömungen der karibischen See lag. Jeongguk war sich nicht einmal sicher, ob die unbewohnte Insel einen offiziellen Namen trug, aber was er mit Sicherheit wusste, war die Tatsache, dass Kim Seokjin gottgesandt war.

Es war inzwischen beinahe zwei Wochen her, dass Taehyung und er in Nacht und Nebel aus Bayville geflohen waren – und Yoongi ihnen gerade so viel Zeit gelassen hatte, dass sie es bis nach Oyster Bay geschafft hatten, bevor er sämtliche Häscher des Kartells nach ihnen ausgesandt hatte. Sie waren in einer solchen Fülle unterwegs, dass Jeongguk sofort bewusst wurde: je früher sie die Stadt verließen, desto besser.

Einerseits hatte es Jeongguk unendlich geschmerzt, New York zurückzulassen – es war die Stadt, die er besser kannte als die Rückseite seiner Hand – doch auf der anderen Seite wusste er, dass Taehyung sich in ernstzunehmender Gefahr befände, wenn sie das Land nicht auf schnellsten Wege verließen.

Und an dieser Stelle war Seokjin ins Spiel gekommen.

Sie hatten sich gerade die zweite Nacht in Folge in einer verlassenen Lagerhalle verbracht, die von dem Kartell schon vor Ewigkeiten wegen schlechter Lage aufgegeben worden war, als es plötzlich an der Tür geklopft hatte.

Die Lagerhalle befand sich irgendwo draußen in den Frachthäfen von Staten Island, und Jeongguk wusste, dass sich aus Prinzip selten einmal jemand aus dem Kartell dorthin verirrte. Dennoch hatte er Taehyung avisiert, sich sofort in den hinteren Raum der Halle einzuschließen, während er selbst die einzige Waffe gezogen hatte, die er auf die Schnelle in die Finger bekam – einen alten, verrosteten Eisenhaken, den er bis zum Anschlag emporhielt.

Natürlich hatte Taehyung sich geweigert, Jeongguk zurückzulassen und noch ehe sie in einen handfesten Streit ausbrechen konnten, hatte es ein erneutes Mal an der Tür geklopft, diesmal ungeduldiger.

„Jetzt macht endlich auf!", rief jemand auf Koreanisch, dessen Stimme Jeongguk sehr bekannt vorkam. „Ich bin's, Seokjin. Ich schwöre, dass ich euch nichts Böses will."

Taehyung und Jeongguk hatten sich unschlüssig angesehen, dann hatte Taehyung mit den Schultern gezuckt, die Tür von innen entriegelt und sie unter größten Mühen beiseite geschoben.

Tatsächlich stand niemand Geringeres als Seokjin vor ihnen, ein Mundschutz und Kappe bis ins Gesicht gezogen. Als er Taehyung und Jeongguk vor sich erkannte, schien seine gesamte Contenance zu zerfallen und er fiel zuerst Jeongguk, dann seinem Cousin um den Hals.

„Fuck", murmelte er frenetisch, sobald er sich wieder von ihnen gelöst hatte. „Fuck, ihr Idioten. Was habt ihr nur getan?"

Auf diese Frage hatte niemand eine Antwort gewusst, aber Taehyung hatte unvermittelt nach Jeongguks Hand gegriffen, wie immer in den letzten Tagen, wenn ihm die Tragweite seiner Tat wieder ins Bewusstsein gerufen wurde. Jeongguk hatte ihn keine Träne um seinen Vater vergießen zu sehen, und er war inzwischen davon überzeugt, dass Taehyung Hyun-sik nicht aus einer spontanen Laune heraus erschossen hatte. Er wirkte gefasst und in sich gekehrt, aber habe er nun endlich das getan, worauf er sich sein Leben vorbereitet hatte.

„Wie hast du uns gefunden?", flüsterte Jeongguk, während er Seokjin in das Innere der Halle zog und die massive Tür hinter ihm zuzog.

„Es war nicht leicht. Ich suche euch seit zwei Tagen. Ungefähr seit genau dem Augenblick, in dem Yoongi in die Menge der Gäste getreten ist, und ihnen verkündete, dass du deinen Vater getötet hast, Tae."

Seokjin lachte hohl und ungläubig, als wollte er es selbst nach achtundvierzig Stunden immer noch nicht wahrhaben. „Das hast du doch, Tae, oder? Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Areum denkt, dass Yoongi Hyun-sik getötet hat und dir das jetzt in die Schuhe schiebt. Auch Sora hat ihre Schwierigkeiten, dir das anzuhängen."

Taehyungs Gesicht war steinern. „Nein, es stimmt. Ich habe ihn erschossen. Und ich würde es bei Gelegenheit wieder tun, wenn ich müsste."

„Yoongi hat uns laufen lassen", fügte Jeongguk erklärend hinzu, als Seokjin sich mit bestürzten Gesicht zu ihnen umwandte. „Wir haben ihm versprochen, dass wir das Land verlassen. Aber er macht es uns nicht gerade leicht, mit Häschern und Hit-Men des Kartells an jeder Straßenecke. Wie sollen wir uns jemals zu JFK oder La Guardia durchschlagen, wenn wir es wahrscheinlich nicht mal durch eine Sicherheitskontrolle schaffen, ohne von jemanden entdeckt zu werden?"

„Und deswegen versteckt ihr euch hier?" Seokjin schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich wusste, dass ihr die Stadt noch nicht verlassen haben könnt, weil Yoongi wirklich jeden möglichen Ausgang auf irgendeine Weise überwacht. Aber dass du gerade ein altes Lager des Kartells als Versteck verwendest, Jeongguk, das ist riskant, selbst für dich."

Jeongguk gab ein humorloses Schnauben von sich. „Wenn du eine bessere Alternative weißt, ich bin ganz Ohr."

„Du weißt, dass ihr die Stadt nicht auf konventionellen Wege verlassen könnt", begann Seokjin.

„Was schlägst du vor?", meinte Jeongguk ironisch. „Sollen wir mit Taucheranzügen aus dem Hudson rauspaddeln, bis uns eine Strömung erfasst und uns nach Europa trägt?"

„Nein, ihr sollt den Privatjet unserer Familie nehmen. Yoongi wird nicht im Traum einfallen, dass ihr den offensichtlichsten Weg nehmt, gerade vor seiner Nase."

Jeongguk blickte ihn ungläubig an. „Du spinnst. Wie sollen wir es zum Flughafen schaffen?"

„Man merkt, dass du noch nie privat geflogen bist", meinte Seokjin trocken. „Oder überhaupt geflogen. Nimmst du ein Privatflugzeug, musst du dich nicht mit dem Pöbel auf dem Flughafen durch die Sicherheitskontrolle drängen. Das ist ein vollkommen separater Eingang. Trump und Konsortien verwenden den genauso sehr wie wir. Yoongi könnte niemals seine Männer dort positionieren. Die Flughafensecurity ist sehr streng mit finster wirkenden Männern, die aussehen, als ob sie auf etwas warten."

Jeongguk und Taehyung wechselten einen raschen Blick und Jeongguk fühlte, wie die Hoffnung seinen Körper zu durchziehen begann. In den vergangenen Tagen war er der festen Meinung gewesen, dass sie es niemals aus Staten Island heraus schaffen würden.

„Und was ist mit dem Piloten und dem Personal?", fragte Taehyung zögernd. „Sie sind zwar nur vom Kartell angestellt, und haben keine Ahnung von dem Chaos, das gerade in unseren Reihen entbrennt, aber das heißt nicht, dass sie nicht irgendwie ein Wort gegenüber der falschen Person verlieren."

„Ich habe bereits eine zweite Flugcrew engagiert", erwiderte Seokjin. „Für einen einmaligen Job. Jeder der Beteiligten bekommt eine Million Dollar Honorar und glaub mir, da ist keiner dumm genug, um viele Fragen zu stellen."

„Aber wohin sollen wir?", antwortete Taehyung wieder und Jeongguk spürte den Druck seiner Finger um seine. „Die meisten Orte, die ich kenne, sind mit kartellnahen Leuten verseucht und ich bin mir sicher, dass die uns im Handumdrehen an Yoongi verraten, wenn sie sich dafür einen Vorteil herausschlagen können."

Plötzlich wirkte Seokjin verlegen und Jeongguk bemerkte mit Unruhe, wie er von einem Fuß auf den anderen zu treten begann. „Also... was das angeht..."

Jeongguk starrte ihn an, der Hauch einer Vorahnung in seinen Gedanken. „Nein, oder? Du hast sie nicht da mit hineingezogen."

„Sie hat dich gesucht, Jeongguk. Sie hat seit zwei Tagen nichts von dir gehört und war außer sich vor Sorge. Also hat sie mich angerufen und–"

„Du hast ihr deine Nummer gegeben?"

Seokjin starrte ihn an, ein apologetischer Ausdruck in seinem Gesicht. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment. Aber... ich mag sie, Jeongguk. Das weißt du."

Taehyung blickte verwirrt zwischen ihnen hin und her. „Über wen sprechen wir?"

„Vale", sagten Jeongguk und Seokjin wie aus einem Mund.

„Aber das ist jetzt irrelevant", fügte Seokjin hinzu. „Auf jeden Fall hat sie mir eine Idee gegeben. Erinnerst du dich noch an Tia Sofia, Jeongguk? Sie hat manchmal auf Vale, Diego und dich aufgepasst, wenn Maria arbeiten musste."

Jeongguk konnte nicht umhin, als ein schnaubendes Lachen von sich zu geben. Seokjin den Namen der älteren, ledigen Dame von sich geben zu hören, die mitsamt ihrer Katzen und Porzellanfiguren in einem winzigen Appartement in Brooklyn lebte, und Jeongguk immer mehr Angst eingejagt hatte, als dass er sie hätte mögen können, war einfach zu komisch. Tia Sofia war eine von den wenigen anderen kolumbianischen Freunden, die Maria in New York hatte. „Flüchtig. Was ist mit ihr?"

„Es stellt sich heraus, dass sie auf einem Haufen Land in Kolumbien sitzt. Vale hat es auch erst vor kurzem herausgefunden. Tia Sofia liegt ihr ohnehin schon die Hälfte der Zeit damit in den Ohren, dass endlich jemand aus der Familie runterfahren muss und sich darum kümmern sollte. Sie hat keine lebenden Verwandten mehr und Vale, Diego und du seid die einzigen, die sie jemals als Enkelkinder gesehen hat."

Jeongguk hob eine Augenbraue. Tia Sofia war immer freundlich zu ihm gewesen, obwohl er, anders als seine zwei Pflegegeschwister, nicht wirklich kolumbianischen Blutes war, aber er hatte niemals geglaubt, dass ihre Zuneigung so weit ging, dass sie irgendjemanden von ihnen einen ganzen Haufen Land vererben wollte.

„Unter anderem ist sie in Besitz einer kleinen Insel vor Paso Nuevo, an der karibischen Küste. Unbewohnt und auf Karten die Hälfte der Zeit nicht zu finden. Eigentlich ist es nur ein sehr großer Fels im Meer, auf dem sich ein paar Palmen niedergelassen haben. Anscheinend hat jemand in den Achtzigern versucht, eine private Touristeninsel daraus zu machen, weil angeblich sogar ein Haus darauf steht. Nichts besonderes, und auch nicht fertig gebaut, aber fürs Erste sollte es reichen."

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Bedeutung von Seokjins Worten zu ihm durchgedrungen war. Taehyung blickte Jeongguk mit geweiteten Augen an und er spürte, wie der nervöse Knoten in seinem Bauch sich etwas auflockerte. „Warte", sagte er langsam. „Und du sagst, Taehyung und ich... könnten die Insel verwenden, um uns fürs Erste darauf zu verstecken."

Seokjin grinste breit und Jeongguk merkte, dass er überaus stolz auf sich war. „Genau das sage ich. Die Flugcrew ist avisiert, euch bis nach Panama City zu bringen, die ungefähr anonymste Stadt der Welt und von dort aus fährt euch ein Schiff bis nach Paso Nuevo."

„Ich–", begann Jeongguk, aber Seokjin war offensichtlich noch nicht fertig.

„Vale hat mit Tia Sofia gesprochen und gesagt, dass sie überlegt, mit ihren Freunden im Sommer dort hinunter zu fahren. Sie war überglücklich und hat sofort eine breite Liste mit Kontakten zur Verfügung gestellt, von einem Motorbootverleih bis hin zu einem guten Freund ihrer verstorbenen Mutter, der einen Lebensmittelladen in Paso Nuevo betreibt. Die Stadt ist gerade touristisch genug, dass ihr nicht auffallen werdet, auch wenn es wahrscheinlich besser wäre, wenn ihr die meiste Zeit auf der Insel bleiben würdet."

Jeongguk ertappte sich dabei, wie er nach Lücken und Fehlern in Seokjins Plan suchte, nach irgendetwas, das es dem Kartell leicht machen würde, Taehyung in die Finger zu bekommen – aber er fand keine. Es war beinahe unmöglich, dass das Kartell eine Verbindung zwischen Tia Sofia und Jeongguk herstellte und dass Seokjin sich als das fehlende Glied in der Kette hervortat, würde wohl nicht einmal Yoongi erwarten.

Wenn die Flugcrew tatsächlich so verschwiegen und diskret war, wie Seokjin anhand seines saftigen Schweigegelds annahm, dann würde niemand auch nur ahnen können, auf welchem Kontinent sie sich verstecken – und selbst wenn, mit Panama City war eine gute falsche Spur gelegt.

„Okay", sagte er schließlich und er musste nur einen kurzen Blick mit Taehyung wechseln, um zu wissen, dass er diesem Plan mehr als zustimmte. „Dann folgen wir dem, was du gesagt hast, Seokjin."

Dieser ließ ein triumphierendes Lächeln sehen und klatschte in die Hände. „Ihr werdet es nicht bereuen. Ich bin mit meinem Auto da, und ich würde ich euch ja zum Flughafen fahren, aber es ist nur ein Zweisitzer und es ist besser, wenn man mein Auto erst mal nicht in der Nähe des Flughafens sieht. Aber ich habe einen Wagen an den Eingang zum Hafen bestellt. Den nehmt ihr, er wird euch unmittelbar zum Privatflughafen bringen. Taehyung kennt den Privatjet gut, also werdet ihr wissen, wohin mit euch."

Jeongguk war überrascht, das musste er ehrlich sagen. Äußerst überrascht. Er hatte Seokjin in seinem Leben noch keinen kohärenten Plan aufstellen sehen – so sehr er seinen guten Freund liebte, er war sich beizeiten nicht sicher, ob er überhaupt weiter als fünf Minuten in die Zukunft planen konnte.

Er hatte ihn ganz eindeutig unterschätzt. Oder sich von der mühsam kurierten Fassade des inkompetenten Dandys täuschen lassen, die Seokjin offensichtlich mit äußerster Hingabe kuriert hatte.

„Ab Panama City wird's kritischer. Nicht, weil ich glaube, dass das Kartell seine Mittelmänner dort unten platziert hat, sondern weil es eine wildfremde Stadt ist und ihr euch bis zum Hafen durchschlagen müsst. Dort wartet ein kolumbianischer Kapitän auf euch, den ich mit genügend Schweigegeld geschmiert habe, dass er euch wahrscheinlich bis nach Feuerland bringen würde. Er wird euch in Paso Nuevo absetzen und dann verliert ihr keine Zeit und geht unmittelbar zu Esteban. Er hat ein Lebensmittelgeschäft gleich am Fischmarkt. Unübersehbar, wenn man Tia Sofia Glauben schenken darf. Keine Umwege, habt ihr verstanden? Das ist Sofias alter Freund und er wird euch helfen, ein Motorboot zu mieten und euch zur Insel bringen. Vale hat sich mit ihm in Kontakt gesetzt und gesagt, dass ihr Vorräte für ungefähr eine Woche braucht."

Jeongguk nickte, während er versuchte, sich die Fülle an Namen und Informationen zu merken, mit denen Seokjin sie bestürmte.

Oh, Vale, seufzte er. So sehr er Seokjin schätzte, er war sich fast sicher, dass das meiste davon auf den Mist seiner Schwester gewachsen war. Seiner wundervollen Schwester, die vermutlich vor Sorge um ihn beinahe verging. Sie verdiente das nicht.

„Ich habe zuerst überlegt, euch zwei Burner-Handys mitzugeben, aber ich glaube, es ist wirklich besser, wenn wir nicht in Kontakt stehen. Ich bin zu nahe an Yoongi dran, und wenn er bemerkt, dass ich weiß, wo ihr steckt... es ist zu gefährlich."

„Das gefällt mir nicht", sagte Jeongguk. „Was wenn wir wieder fliehen müssen?"

„Esteban hat ein Telefon. Tia Sofia kennt seine Nummer und hat sie Vale gegeben. Falls etwas ist, ruft sie an."

„Ich will Vale wirklich nicht–"

„Sie hält das aus, Jeongguk", erwiderte Seokjin eindringlich. „Im Gegenteil. Sie möchte nichts mehr, als euch zu helfen. Vertraut ihr."

„Ich vertraue ihr", sagte Jeongguk hitzig. „Aber ich will meine Familie nicht noch tiefer in dieses Chaos ziehen."

Seokjin stieß seufzend die Luft aus. „Dafür ist es jetzt zu spät. Wir müssen jetzt mit dem arbeiten, was geschehen ist."

Sie hatten sich voneinander verabschiedet, schnell und geschäftsmäßig, aber Jeongguk war das Herz gen Boden gesunken, als er die Lagerhallentür hinter Seokjin geschlossen hatte und gemeinsam mit Taehyung ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte.

Seokjins Plan war wie geschmiert gelaufen. Der Wagen hatte sie am Hafen von Staten Island abgeholt und nach Jamaica in Queens gebracht, wo sich der internationale Flughafen von New York befand. Er war sogar bis auf die Landebahn vorgefahren, in einen kleinen Hangar, in dem das Privatflugzeug der Kims mit laufenden Triebwerken auf sie gewartet hatte.

Keine zehn Minuten später waren sie abgehoben und der fünfstündige Flug war in einem Augenblick vergangen. Taehyung hatte an Jeongguks Schulter geschlafen, ihre Hände miteinander verschränkt, wie es in den letzten Tagen zu ihrer konstanten Gewohnheit geworden war. Jeongguk selbst hatte kein Auge zugetan, sondern seinen Freund beobachtet.

Im Schlaf hatte er die Augenbrauen zusammengezogen und Jeongguk wusste, dass er den Mord an seinem Vater immer und immer wieder durchlebte. Selbst, wenn er behauptete, es hätte nur getan, worauf er sich sein Leben lang vorbereitet hatte, schien ihn zumindest sein Unterbewusstsein Lügen zu strafen.

Jeongguk konnte nichts tun, als mit seinem Daumen über seine tiefe Stirnfalte zu streichen und sein Gesicht in Taehyungs Haar zu vergraben.

Dieses war, zum ersten Mal seit beinahe sechs Jahren, wieder tiefschwarz. Seokjin hatte ihnen im Flugzug einen Rucksack dagelassen, der mit dem Nötigsten gefüllt war – hauptsächlich Geldbündel mit amerikanischen Dollar und kolumbianischen Pesos. Am Boden des Rücksacks hatte eine Schachtel mit schwarzer Haartönung gelegen und Taehyung hatte sie mit spitzen Fingern hervorgezogen.

„Natürlich", hatte er geschnaubt. „Seokjin war noch nie ein großer Anhänger meiner Haarexperimente."

Dennoch hatte er sich in der Flugzeugtoilette eingeschlossen und kam eine halbe Stunde später mit glänzend schwarzem Haar zurück. Der Anblick war so ungewohnt, dass Jeongguks Herz ein paar Schläge ausgesetzt hatte.

„Ich sehe aus wie mein Vater", hatte Taehyung gemurmelt und sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf gezogen, ehe er wieder auf dem Sitz zu Seiten Jeongguks Platz genommen hatte.

„Nein", hatte Jeongguk geantwortet. „Du siehst aus wie Areum."

Und wie Yoongi, aber das hatte er in diesem Augenblick lieber unerwähnt gelassen.

Ihm war vor dem Moment gegraut, in dem das Flugzeug zu seinem Landeanflug ansetzte – denn so eigenartig es sich auch anfühlen mochte zu fliegen, dort oben waren sie fern gewesen vor den Dingen, die am Erdboden wieder bittere Realität annahmen.

So hatte schließlich die schwierigste Etappe ihrer Flucht begonnen. Der Flughafen von Panama City lag im Landesinneren und der Shuttleverkehr zum Hafen war mehr als spärlich. Irgendwann hatte Jeongguk einfach entschieden, ein Taxi zu nehmen, das sie mit einer nagelneuen Hundert-Dollar-Note bezahlt hatten. Bis sie den richtigen Hafen gefunden hatten, an dem der von Seokjin engagierte Kapitän mit seinem Fischkutter anlag, waren beinahe drei Stunden vergangen.

Dieser schien offensichtlich nach ihnen Ausschau gehalten zu haben, und kämpfte sich durch nichts anderes als gezieltes Herumfragen ziemlich schnell zu ihnen durch. Jeongguk wurde zum wiederholten Male mit äußerstem Unwohlsein bewusst, wie auffällig Taehyung und er aufgrund ihrer fremden Ethnizität wirkten. Er hoffte, dass es in Paso Nuevo anders sein würde – der Tourismus war nach wie vor der schützendste Mantel, die man über sie werfen konnte.

Die Reise dorthin verlief jedoch beschwerlich und zäh; sie gerieten, kurz nachdem sie im Hafen von Panama City ausgelaufen waren, in hohen Seegang und während Taehyung unverblümt auf Deck herumspazierte wie ein geborener Pirat, setzte sich Jeongguk in eine Ecke, möglichst weit weg von einem der Bullaugen, gegen die das Wasser schwappte, und hoffte auf seinen baldigen Tod.

Hundert Kilometer vor der kolumbianischen Küste klarte das Wetter auf und die See glättete sich. Als Jeongguk sich wieder auf das Deck schleppte, saß Taehyung inmitten einer riesigen Taurolle und blickte mit einem andächtigen Ausdruck in den Augen auf die weite See, die sich bis ans Ende der Welt zu erstrecken schien. Sein ungewohnt dunkles Haar klebte vom letzten Regenschauer an seinem Kopf, genauso sehr wie sein T-Shirt und als er Jeongguk in dem Aufgang erkannte, machte sich ein unvergleichliches Lächeln auf seinem Gesicht breit. Jeongguk hatte ihn nie so sehr geliebt, wie in diesem Augenblick.

Der Kapitän, der mit Jeongguk auf Spanisch sprach, erklärte ihnen, dass er sie etwas abseits vom Haupthafen von Paso Nuevo anlegen würden, weil die Stadtverwaltung eine Registration sämtlicher Passagiere voraussetzte und weder Jeongguk noch Taehyung im Besitz falscher Papiere waren.

Sie legten an einem Sandstrand an, von dem aus ein beinahe hundert Meter langer Steg in die See ragte. Jeongguk dankte dem Kapitän und hoffte simultan, nie wieder einen Fuß auf ein Schiff setzen müssen.

Den Rest des Weges in die Innenstadt von Paso Nuevo schlugen sie sich zu Fuß durch – immer entlang der Küste, durch dichtes Dschungeldickicht, bis hin zu feinen, mit Muscheln und Touristen übersäten Sandstränden. Während Jeongguks Magen nach wie vor unangenehm ziepte und die Müdigkeit in jeder seinen Zellen saß, schien Taehyung den Spaß seines Lebens zu haben.

Er sammelte vier Muscheln, die auf seiner Handfläche perlmuttfarben schimmerten, als er sie Jeongguk entgegenhielt und behauptete steif und fest in den Bäumen einen Papagei gesehen zu haben.

Obwohl Jeongguk bohrende Kopfschmerzen und unendlichen Durst hatte, fühlte er, dass Taehyungs gute Laune ansteckend war. Vielleicht, weil sie fast am Ziel waren, und weil Taehyung zum ersten Mal in einer sehr, sehr langen Zeit ehrlich glücklich wirkte.

Estabans Lebensmittelladen im Herzen von Paso Nuevo zu finden, war kein Kunststück – es war schlichtweg der einzige Gemischtwarenladen im Dorf, auf dem zusätzlich noch in großen roten Lettern der Name des Inhabers geschrieben stand.

Paso Nuevo besaß den Charme eines ehemaligen Fischerdorfs, das durch Tourismus eine zweite Renaissance erfahren hatte. Die meisten Häuser waren schmuck und konform, ohne ihren originalen Flair verloren zu haben, auch wenn es offensichtlich der Einfluss internationaler Besucher war, dass jedes Schild neben Spanisch auch auf Englisch gehalten war.

Taehyung war kaum von der Ansicht der Stadt wegzubekommen. Er blieb vor jedem Brunnen, jedem Marienabbild und jeder Statue Bolivars stehen und Jeongguk ließ ihn seufzend gewähren; in dem Wissen, dass sie zumindest keine Mühen haben würden, als Touristen durchzugehen.

Esteban, der mit vollen Namen José Esteban Moreno hieß, schien offensichtlich bereits auf sie gewartet zu haben und begrüßte sie mit offenen Armen. Tia Sofia, die Tochter seiner verstorbenen Nachbarin, hatte bereits vor ein paar Tagen angerufen und den Besuch ein paar „Estadounidenses" angekündigt – Amerikaner, wie Jeongguk Taehyung rasch übersetzte. Esteban sprach zwar wie jeder in dieser Stadt zumindest Bruchstücke Englisch, aber als Jeongguk auf seine Fragen auf Spanisch antwortete, wechselte er erleichtert in seine Muttersprache.

Seine Tochter, die ungefähr in Marias Alter war, begrüßte sie ebenfalls mit überschwänglichster Freunde darüber, dass Tia Sofia, die im Übrigen jeder so nannte, ganz gleich, ob man in einem Verwandtschaftsverhältnis zu ihr stand, ihre Ankündigung endlich wahrgemacht hatte, um die Insel dort draußen im Ozean wieder aufleben zu lassen.

Sie verschwand irgendwann hinten im Laden und kehrte ein paar Sekunden später mit mehreren bis an den Rand prall gefüllten Plastiktüten zurück, die offenbar von oben bis unten mit Lebensmitteln bepackt waren. Sie erklärte Jeongguk, dass sie und ihr Vater vor kurzem auf der Insel gewesen waren, um alles auf ihre Ankunft vorzubereiten und zu ihrer größten Freude bemerkt hatten, dass die alten Stromgeneratoren aus den Achtzigern gerade noch so gut funktionierten, dass zumindest rudimentär warmes Wasser und Strom vorhanden sein würde. Die Generatoren seien bis zum Rand mit Benzin gefüllt und sollten bei mäßigen Verbrauch einen guten Monat anhalten.

Gemeinsam brachen sie in Richtung Hafen auf, wo Esteban bereits ein Motorboot vorbereitet hatte, das seine Tochter und Taehyung mit den Lebensmitteln füllten, während Esteban Jeongguk zeigte, wie man das Boot bediente. Zudem gab er ihm Karte und Kompass in die Hand, für alle Fälle, wie er es ausdrückte.

Seine Tochter blieb in Paso Nuevo zurück, als Taehyung, Jeongguk und Esteban eine Viertelstunde später in der Mittagshitze in Richtung der Insel ausbrachen. Sie war so klein, dass sie nicht einmal einen offiziellen Namen trug, aber Esteban nannte sie, wie jeder in Paso Nuevo, Isla Salome – benannt nach Tia Sofias Mutter, die in diesen Breiten eine wahre Berühmtheit gewesen sein musste.

Sie waren kaum zwanzig Minuten unterwegs, als sich am Horizont eine Erhebung hervortat – zuerst hielt Jeongguk sie für einen besonders unförmigen Schatten einer Wolke, die sich vor die Sonne geschoben hatte, aber sobald sie näher heranfuhren, erkannte Jeongguk, dass es sich dabei um eine winzige Insel handelte – kaum größer als drei Fußballfelder, die von azurblauen Meer umspült wurde. Es schien nur ein Gebäude zu geben; im Bauhausstil gehalten, mit grauen Betonwänden und spiegelnden Fensterscheiben. Es war teilweise unverputzt, aber Jeongguk gefiel es trotzdem. Die Vegetation schien den Großteil der Baufläche wieder zurückerobert zu haben, denn die Palmen ragten so dicht an das Haus heran, dass ihre Blätter scheinbar mit den Fenstern verschmolzen. Es gab sogar eine Anlegestelle, an dem bereits ein anderes, kleineres Boot vertäut war.

„Meines", hatte Esteban mit einem Lachen gemeint, als er Jeongguks fragenden Blick bemerkte. „Oder glaubst du, dass ich zum Festland zurückschwimme?"

Er zeigte Jeongguk und Taehyung, wie man das Boot ordnungsgemäß festband, damit es nicht von der ersten halbwegs großen Welle mitgerissen wurde und half ihnen anschließend, die Lebensmittel und ihr spärliches Gepäck den verwilderten Fußweg hinauf zum Haus zu tragen.

Villa Salome, wie das eklektische Gebäude offensichtlich genannt wurde, ging über zwei Stockwerke, wovon eines in eine große Veranda mündete. Jeongguk bemerkte mit allergrößten Erstaunen, dass sowohl die Veranda, wie auch das Innere der Villa möbliert war. Es gab sogar ein Badezimmer mit angeschlossener Dusche. Hatte Seokjin nicht gesagt, dass der Hausbau nicht vollendet worden war?

„Wir haben noch einiges machen lassen", erklärte Esteban auf Jeongguks überraschte Frage hin. „Sofia weiß über die meisten Dingen gar nicht Bescheid, und als wir gehört haben, dass bald amerikanische Freunde von ihr hier vorbeikommen, haben wir versucht, das Haus etwas auf Vordermann zu bringen."

Während Esteban zum Boot zurückging, um die restlichen Plastiktüten zu holen, übersetzte Jeongguk Taehyung rudimentär, was der alte Kolumbianer gesagt hatte.

„Wow", murmelte Taehyung, während er seine Arme um Jeongguks Schultern schlang und seinen Kopf an seine Schulter lehnte. „Seokjin hat uns unwissend ins Paradies geschickt."

„Es ist alles so perfekt hier", antwortete Jeongguk. „Ich werde fast misstrauisch."

Taehyung lachte, hell und ehrlich, und die letzte Fessel, die das Leben im Kartell um sein Herz gelegt hatte, zersprang vor seinen Augen in winzige Bestandteile. „Ich hatte schon so lange Pläne, mit dir aus New York zu verschwinden. Zumindest für einen Kurzurlaub, aber du warst einfach nicht wegzubekommen." Er seufzte und Jeongguk verfluchte den Schatten, der auf sein Gesicht fiel. „Und mein Vater hätte es ohnehin nicht erlaubt."

Als Esteban zurückkehrte, führte er sie durch die restlichen Zimmer. Die meisten waren vollkommen leer, bis auf zwei Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Der zweite Stock war sauber geputzt, sodass sogar die Fenster im Licht der Sonne blitzten, aber auch dort oben fand sich nichts außer ein paar aufeinandergestapelten Fliesen. „Das wird alles möbliert und eingerichtet, sobald mehr Gäste auf Isla Salome kommen."

„Stell dir vor", sagte Taehyung mit einem eigenartigen Unterton in der Stimme, als Esteban wieder ins Erdgeschoss zurückkehrte und sie einen Augenblick für sich hatten, „wie schön es sein könnte, wenn wir eine gewöhnliche Familie wären. Dann könnten wir hier alle zusammen herkommen. Du und ich, Sora, Areum, Seokjin und Eunjin. Wir könnten sogar Jimin und Yoongi mitnehmen."

Jeongguk lachte bei dem Ausdruck, der bei der Erwähnung seines Halbbruders über Taehyungs Gesicht fiel.

„Hey, nicht lachen", schmollte er. „Wenn wir eine gewöhnliche Familie wären, hätte ich wahrscheinlich sogar ein gutes Verhältnis zu ihm."

„Aber jetzt ist er leider der Grund, wieso wir auf einer winzigen Insel im karibischen Meer feststecken."

Taehyung legte den Kopf schief und strich über Jeongguks Haar, das vom Spritzwasser der beiden Bootsfahrten struppig war. „Stimmt. Dafür könnte ich ihm fast dankbar sein."

Sie verbrachten den restlichen Tag damit, das Haus wohnbar zu machen. Während Taehyung die Küche putzte und die Lebensmittel in den Kühlschrank einräumte, den Esteban mithilfe des Stromgenerators wieder zum Laufen gebracht hatte, bevor er ans Festland zurückgefahren war, suchte Jeongguk genügend Feuerholz zustande, dass sie die Feuerpfanne auf der Veranda in Betrieb nehmen konnten.

Estebans Tochter schien ihnen ein halbes Rind eingepackt zu haben und weder Jeongguk noch Taehyung fiel etwas Besseres ein, als es auf Holzspießen über dem Lagerfeuer zu braten.

Als die Sonne gerade in den Ozean sank, überzeugte Taehyung Jeongguk, mit ihm zum Strand hinunterzugehen, um sich den Schmutz und Schweiß des Tages im warmen, sauberen Meerwasser hinunterzuwaschen. Jeongguk folgte Taehyung nur widerwillig; er war noch nie ein Freund von großen Gewässern gewesen und die Nachmittage in Bayville hatten ihn grundlegend traumatisiert. Er konnte sich mindestens an vier Gelegenheiten erinnern, als Areum oder Seokjin (oder beide gleichzeitig) versucht hatten, ihn zu ertränken, wenn Taehyung gerade unachtsam gewesen war.

Allerdings lagen Welten zwischen der unbarmherzigen, eiskalten Brandung des Atlantischen Ozeans bei Bayville und dem Badewannenwasser der karibischen See – und selbst Jeongguk musste zugeben, dass es weitaus Schlimmeres gab, als sich von den sanften Wellen umspülen zu lassen.

Hier, in der Einsamkeit ihres neuen Elysiums, konnte niemand die Finger vom anderen lassen. Es gab keine Sekunde, in der Taehyung seine Arme nicht um Jeongguks Körper geschlungen hatte und Jeongguk bekam gar nicht genug davon, seine Finger unter Taehyungs Kinn zu legen und ihn zu küssen, bis sie beide atemlos waren.

In ihrer ersten Nacht auf der Insel schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Ohne, dass sie darüber gesprochen hatten, wussten sie beide, dass dies der richtige Zeitpunkt war – und obgleich die Vorstellung Jeongguk zuvor in atemlose Panik versetzt hatte, fühlte er, wie seine Selbstzweifel unter Taehyungs vorsichtiger Führung endgültig dahinschmolzen.

Obwohl er seit der Neujahrsnacht nicht mehr richtig geschlafen hatte, war der Anblick von Taehyung in seinen Armen, der genauso unwillig schien, auch nur einen Augenblick zu verpassen, einnehmender als alles andere auf dieser Welt.

„Ich liebe dich", flüsterte er gegen Taehyungs Stirn, seine Lippen auf seiner weichen Haut, zum hundertsten Mal an diesem Tag. „Ich liebe dich so, so sehr."

Sein bester Freund musste seine Worte nicht erwidern, dass Jeongguk ihre Wahrheit vernahm, aber er tat es trotzdem.

Am nächsten Tag schliefen sie bis Mittag und machten sich dann daran, die Insel zu erforschen. Sie schien um einiges weiter nach hinten in den Ozean zu ragen, als sie zuerst geglaubt hatten und sie brauchten beinahe den gesamten Nachmittag, um die Insel zu umrunden. Während auf der Vorderseite der Insel der Zugang zum Meer nur an der Anlegestelle zugänglich war, weil eine Reihe von Klippen dort stufenförmig in den Ozean abfielen, war die Hinterseite von weichen, feinen Sandstränden gesäumt.

„So könnte es vor mir aus bis in alle Ewigkeit weitergehen", murmelte Taehyung gegen Jeongguks Lippen, während sie im Sand unter dem Schatten einer Palme lagen. Taehyung hatte seinen Kopf wie üblich auf Jeongguks Brust gelegt, nur unterbrochen von den kurzen Intervallen, in denen er genug davon hatte, Jeongguk nicht zu küssen.

„Ich glaube nicht, dass Esteban und seine Tochter uns allzu bald hier rauswerfen."

Der Gedanke schien Taehyung mehr als zufriedenzustellen.

Sie blieben den gesamten restlichen Nachmittag am Nordstrand, bis Jeongguk sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten konnte und sie zum Haus zurückkehrten, um mit ihren rudimentären Fähigkeiten etwas zu kochen.

Die Tage vergingen wie im Flug, und sie gingen ihrer neuen Routine mit allergrößter Hingabe nach: den Tag über erforschten sie die Insel, kletterten auf die Klippen und sprangen von dort ins Wasser, an der einzigen ungefährlichen Stelle, die nicht mit spitzen Felsnasen gesäumt war. In der Nacht lagen sie bis in die frühen Morgenstunden wach und sprachen über alles, das ihnen einfiel. Taehyung revitalisierte seine Kindheit aus der Perspektive des Menschen, den er vor Jeongguk ewig geheim gehalten hatte und ließ nichts von dem aus, das Areum angedeutet hatte. Seine Depressionen während seiner Zeit auf dem Internat, und wie nur die E-Mails, die er mit Jeongguk ausgetauscht hatte, genug gewesen waren, um ihn am Leben zu halten.

Später sprach er über seine einseitige Liebe für seinen besten Freund, die ihn, wie er steif und fest behauptete, von einem Tag auf den anderen plötzlich überrumpelt hatte.

„Eines Morgens bin ich aufgewacht, und habe mich irgendwie... vollkommen anders gefühlt", sagte er mit einem Grinsen, dem die Schwermut nicht abzuerkennen war. „Zuerst dachte ich, dass ich Fieber habe oder ein Gehirnaneurysma, aber dann wurde mir bewusst, dass alles vollkommen in Ordnung war. Nur, dass ich mir endlich eingestanden habe, dass ich in dich verliebt bin."

Seine Erkenntnis habe in ihm zuerst eine heftige Abwehrreaktion ausgelöst, eine Panik, die überhaupt nicht mehr von ihm weichen wollte – denn Taehyung hatte gewusst, dass Jeongguk nichts dergleichen empfand. Dass es vielleicht sogar einem Verrat an ihrer Freundschaft gleichgekommen wäre, wenn er sich erlaubt hätte, weiter so zu fühlen.

Aber ganz gleich, was Taehyung unternommen hatte – er war in den Scherben seiner Destruktivität immer mit einer Konstante in den Händen zurückgeblieben: er liebte Jeongguk und nichts konnte dieser Tatsache etwas anhaben.

Er war nach dem Schulabschluss zurückgekommen in die Welt seines Vaters, und sollte nun, mit achtzehn Jahren, seinen Platz im Kartell einnehmen. „Und du warst auch da", sagte Taehyung. „Du warst in der Mitte des Kartells und wartetest auf mich. Wartetest darauf, dass ich mein Leben als Thronfolger einer Schreckensherrschaft aufnehme, von der ich mich auf dem Internat grundlegend entfremdet habe."

Es war ein bittersüßer Sieg für ihn gewesen, denn einerseits hatte er endlich Jeongguk an seiner Seite gehabt – bis in alle Ewigkeit, wenn nichts grundlegend schief liefe – doch andererseits sah er sich immer noch in dem Leben, das ihn schon einmal an den Rande des Todes getrieben hatte.

„Mit Yoongi fiel mir eine Rettung in den Schoß, die ich mir nicht im Entferntesten jemals erwartet hätte", fuhr er fort und Jeongguk betrachtete stumm sein Gesicht, das im schwachen Schein der Lampe schöner war, denn je. „Und... dann, naja, dann hab' ich das Angebot meines Vaters angenommen, zum Schmollen nach Korea zu gehen und habe dann noch zusätzlich seinen gezinkten Deal akzeptiert, der dich in Sicherheit wahren sollte."

Taehyung seufzte tief auf und schien einen Augenblick tief in sich gekehrt. „Ich bereue es nicht, Jeongguk."

„Was?"

„Dass ich ihn getötet habe. Ich habe in den vergangenen Tagen viel darüber nachgedacht. Habe auf späte Reue gewartet. Oder darauf, dass Seokjin mir die Hölle heiß macht. Aber nichts davon ist passiert." Er schluckte und Jeongguk strich mit seinem Daumen vorsichtig über Taehyungs Kinnlinie, der sich kurz in der Berührung zu verlieren schien. „Ich glaube ehrlich, dass ich das richtige getan habe."

„Dein Vater war ein Tyrann", murmelte Jeongguk zustimmend.

„Und so soll es immer den Tyrannen ergehen", antwortete Taehyung, bevor er Jeongguk an sich heranzog.

In einer der folgenden Nächte sprachen sie auch nach Monaten wieder über Slowtown. Diesmal war Jeongguk derjenige, der zu erzählen hatte. Von der Zeit, in der ihre gemeinsame Gedankenstadt nur zu dem Zwecke existiert zu haben schien, um Jeongguk Hoffnung zu geben; seltene Momente der Glücklichkeit.

„Keine Ahnung", sagte er unschlüssig, während er ins Feuer blickte, das zwischen ihnen in der Metallpfanne tanzte. „Manchmal glaube ich fast, dass sie eigenständig ist. Sie wusste bisher immer, was ich gebraucht habe und hat es mir umgehend gezeigt."

Taehyung antwortete nicht und Jeongguk merkte, dass er seinem Blick auswich. Er entschied sich, das Thema nicht noch einmal anzusprechen.

Je länger sie die Welt ausgeschlossen hatten und auf ihrer Insel in vollkommener Zeitstarre lebten, desto mehr fühlte Jeongguk, wie ein Leben der Sorge und Anstrengung von ihm abfiel. Es begann damit, dass er am Morgen aufwachte, und nicht mit klopfenden Herzschlag aufrecht im Bett saß, weil er nicht wusste, was ihn heute erwarten würde.

Der konstante, brennende Schmerz in seiner Brust, den er seit Taehyungs Rückkehr in die Stadt vor ungefähr einem Monat verspürt hatte, als ihm bewusst geworden war, dass er seinen besten Freund tatsächlich entgegen aller bisheriger Annahmen tatsächlich... liebte, hatte sich in nichts als warmes Wohlgefallen ausgelöst.

Manchmal schien es ihm fast, als schlösse sich der Kreis, als sei er wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt – Taehyung und er, alleine, sich gegenübersitzend auf dem Dachboden einer Welt, die ihre korrumpierenden Finger noch nicht nach ihnen ausgestreckt hatte.

Manchmal war es, als seien die vergangenen fünfzehn Jahre nie geschehen. Das waren die Augenblicke, in denen er sich am glücklichsten fühlte.

Inzwischen waren fast zwei Wochen vergangen und ihre Vorräte auf der Insel gingen langsam zur Neige. Taehyung hatte in den vergangenen zwei Tagen nur noch Zwiebeln und Paprika in eine Pfanne geworfen, weil sie die restlichen Vorräte längst verbraucht hatten – und so entschied Jeongguk, dass er ans Festland zurückkehren würde, um bei Esteban einzukaufen.

Taehyung hatte vor, ihn zu begleiten, obwohl Jeongguk wohler bei dem Gedanken war, ihn nicht in der Öffentlichkeit herumspazieren zu lassen.

„Komm schon", schmollte Taehyung, während er mit einem Besen über die Veranda kehrte. „Ich liebe Isla Salome, aber irgendwann sehnt man sich einfach wieder nach etwas Zivilisation."

„Ich weiß nicht", antwortete Jeongguk seufzend. „Du bist hier derjenige, auf dessen Kopf man ein hübsches Preisgeld ausgesetzt hat, du bist hier einfach viel sicherer. Und wir gehen ohnehin nur kurz zu Esteban und kaufen das Nötigste."

Sein Freund zuckte mit den Schultern, offensichtlich ehrlich gleichmütig. „Wenn du darauf bestehst, bleibe ich hier. Ich muss ohnehin die Ameisenseuche in der Küche loswerden. Aber nächstes Mal komme ich mit."

Jeongguk holte den Rucksack und einen von Taehyungs schwarzen Pullovern aus dem Schlafzimmer und verabschiedete sich von seinem Freund, der nach wie vor versuchte, eine besonders hartnäckige Ameisenfamilie mit Wasser und Spülmittel wegzuwaschen. Keiner von ihnen hatte sonderlich viel Erfahrung mit Ungeziefer einer anderen Art, als der italienischen.

„Bin in einer Stunde wieder zurück", versprach er ihm und Taehyung ließ von seiner Arbeit ab, um auf die Beine zu kommen und Jeongguk erstaunlich stürmisch an ihn zu ziehen, um ihn intensiv zu küssen.

„Pass auf dich auf", murmelte er. „Ich liebe dich."

„Ich liebe dich auch", antwortete Jeongguk und hatte niemals etwas in seinem Leben so ernst gemeint.

Er war mehr als erleichtert, als er sah, dass die See spiegelglatt vor ihm dalag. Der Motor des Boots sprang ohne Schwierigkeiten an und ehe er es sich versah, war er weit in das azurblaue Meer hineingestochen. Isla Salome schrumpfte in seinem Rücken immer mehr zusammen, bis sie vollkommen in den sanften Wogen des Wassers verschwand.

Indes tauchte schon bald die Küste mit Paso Nuevo vor ihm auf und Jeongguk bremste das Boot rechtzeitig ab, sodass er problemlos in den engen Hafen einfahren konnte, der mit Fischer- und Touristenbooten beinahe vollkommen gefüllt war. Er fand die Anlegestelle, die mit Estebans Namen markiert war und an der jetzt noch das zweite Boot anlag, das zuvor an der Insel angetaut gewesen war.

Sobald er das Motorboot nach Estebans Methode sicher vertäut hatte, stieg er auf den Steg nach oben und schulterte den Rucksack. Er entschied, beim Rückweg zum Boot noch an einem Souvenirshop am Hafen vorbeizuschauen, um ein paar frische T-Shirts zu kaufen.

Paso Nuevo lag in der Mittagshitze ruhig da und inzwischen war so viel der Anspannung von Jeongguk abgefallen, dass er die Schönheit des pittoresken, kleinen Fischerdorfes wertschätzen konnte.

So stellte er sich Tuputs vor, das Dorf an der Atlantikküste, in dem Maria aufgewachsen war. Sie hatte ihren Kindern oft davon erzählt, den Fischerbooten, die jeden Morgen in aller Frühe in die See stachen, und gegen Mittag zurückkehrten.

In Paso Nuevo war das Fischgetriebe nur noch Show, aber Jeongguk genoss sie trotzdem.

Estebans Lebensmittelgeschäft war einfach wiederzufinden und der ältere Kolumbianer strahlte vor Freude, als er Jeongguk in der Tür bemerkte.

„Lässt du dich auch mal wieder blicken!", rief er und kam um die Theke herum, um ihn auf beide Wangen zu küssen. „Ich dachte, du und dein Freund esst schon die Rinde von den Bäumen, so lange, wie ihr nicht mehr hier wart."

„Tut mir leid", sagte Jeongguk scherzhaft. „Wir haben nur vollkommen vergessen, dass außerhalb dieser Insel noch eine andere Welt existiert."

Dies schien Esteban ungemein zu erheitern, denn er brach in schallendes Gelächter aus. „So kann es einem wirklich ergehen. Ich hoffe, dort draußen ist alles zu eurer Zufriedenheit."

„Es ist das Paradies", antwortete Jeongguk schlicht und Esteban wirkte ehrlich zufrieden.

„Was nimmst du? Das gleiche noch mal?"

„Das wäre großartig." Jeongguk sah sich nach Estebans Tochter um, die beim letzten Mal neben ihm im Verkaufsraum gestanden hatte. „Wo ist Ihre Tochter?"

„Anna ist in Barranquilla auf der Polizeistation, um eine Aussage zu machen. Reine Routine."

„Oh, nein", sagte Jeongguk ehrlich betroffen. „Ist was passiert?"

„Nicht wirklich." Esteban strich sich über sein schütteres Haar. „Heute Morgen waren ein paar Cops hier. Amerikaner. Von der Drogenbehörde. Hier, in Paso Nuevo, kannst du dir das vorstellen?"

Jeongguk erstarrte auf der Stelle und sein Herz stolperte über die nächsten paar Schläge.

„Auf jeden Fall haben sie hier ganz schön Ärger gemacht. Haben einigen Touristen einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Offenbar sind sie auf der Suche nach zwei flüchtigen Kartellmitgliedern aus Amerika, die sich hier unten verstecken." Er gluckste. „Hier! In diesem Kaff. Wir kommen uns inzwischen alle vor wie in Medellin während Escobars Zeiten."

Jeongguk konnte beim besten Willen nicht mitlachen. „Hast du die von der DEA selbst zu Gesicht bekommen? Sind sie noch hier?"

„Ich glaube, sie sind etwas ausgeschwärmt. Behalten vor allem die Küsten im Auge. Als ob sich irgendjemand auf diesen Inseln versteckt. Hier gibt es nur Touristen."

Jeongguk war wie erstarrt. Er versuchte, sich selbst zum Handeln zu zwingen, doch das einzige, das er zustande brachte, war, Esteban wortlos anzustarren.

„Ach ja, und jemand hat für dich angerufen. Bestimmt schon sieben mal heute. Ich war kurz davor, auf die Insel zu fahren, und dich zu holen."

Jeongguk erwachte jäh aus seiner Starre. Seokjin!

„D-darf ich zurückrufen?", fragte er mit zitternder Stimme, während sein Herzschlag bis ins Unermessliche zu pochen begann.

„Natürlich. Gleich im Hinterzimmer."

Jeongguk stürzte an ihm vorbei, ohne sich zu bedanken. Das Telefon war ein uraltes verkabeltes Ding, aber er war erleichtert, eine Rückwahltaste zu finden. Er presste seinen Finger darauf und lehnte sich gegen die Theke, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Es dauerte nicht einmal zwei Sekunden, bis auf der anderen Seite jemand den Hörer von der Gabel riss.

„Jeongguk, Gottseidank."

Er zuckte beim Klang der anderen Stimme zurück. „Diego?"

„Oh, mein Gott, ich bin so froh, dass ich dich endlich erreiche. Hör zu, du musst sofort verschwinden. Blankenship und die anderen, sie wissen, wo ihr seid."

Ihm wurde endgültig schwarz vor Augen. „Woher weißt du das? Diego, woher?"

Sein Bruder klang außer sich vor Panik. „Fuck, Jeongguk. Du hattest recht mit Blankenship. Er ist ein korrupter Wichser. Er arbeitet mit diesem Typen zusammen, aus dem Kartell."

„Mit wem?"

„Der Typ, der uns auseinandergezogen hat, als wir uns in deinem Flur geprügelt haben. Er war auch in Bonannos Castello dabei."

Jeongguks nächstes Wort war einziger, hasserfüllter Fluch, der in seinem Verstand weiter klang: „Yoongi."

Er hatte seine gesamte Gedankenkraft auf das Kartell verwendet, und keine Sekunde berücksichtigt, das die DEA dem Kartell nach wie vor auf den Fersen war.

„Okay, erklär' mir alles von vorne", sagte er mühsam kontrolliert. „Woher weißt du das?"

„Vor zwei Tagen kam auf einmal jemand zu uns ins Hauptquartier. Ein Koreaner und Namjoon, der einmal für uns gearbeitet hat, bevor er..."

„Blankenship angeschossen hat, ich erinnere mich."

„Er hat Jared ein Angebot unterbreitet. Das Leben des Erben des Kartells, Taehyung, und seiner rechten Hand" – Jeongguk hörte ihn schlucken – „nun, ja... dir. Er sagt, ihr seid Politführer des gesamten Clans, und im Augenblick auf der Flucht, weil ihr den alten Anführer, Taehyungs und seinen gemeinsamen Vater getötet habt."

Jeongguk sog tief Luft ein. „Okay, so weit stimmt das auch."

Er hörte Diego stöhnen. „Oh, Mann, Jeongguk. In was für eine Scheiße hast du dich jetzt wieder geritten?"

„Erzähl weiter."

„Er hat Jared also den folgenden Deal unterbreitet: Er liefert ihm seinen Bruder und seine rechte Hand aus, wenn Jared euch dafür als Sündenbock für all das verwendet, das in der Vergangenheit in der Stadt geschehen ist. Vollkommene Immunität für ihn und den Rest des Clans natürlich."

Fuck, fuck. Das war Yoongi, wie er leibte und lebte. Jeongguk verfluchte sich selbst dafür, dass er geglaubt hatte, Yoongi sei mit ihrer Flucht aus Amerika zufrieden, dass ihm genügte, sie weit, weit fort von sich zu wissen. Stattdessen hatten sie ihm mit ihrem Verschwinden die wertvollste Waffe in die Hand gespielt.

Als Yoongi nach Bayville gekommen war, hatte das Kartell unter zwei ernstlichen Gefahren gedroht, zusammenzubrechen: der Cosa Nostra und der DEA. Es war Yoongi bereits gelungen, mit dem Mord an Bonanno die italienische Mafia so weit zu bezwingen, dass sie sich in ihre Einzugsgebiete zurückzogen und vorerst ihre Wunden leckten – doch die DEA unter Jared Blankenships Führung war nach wie vor mehr als eisern in ihrer Überzeugung, nicht zu ruhen, bis Bayville dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Es war in jeder Hinsicht, das ausgereifteste und gerissenste, das Yoongi jemals in Gang gebracht hatte. Der DEA Taehyung und ihn auszuliefern, als Stellvertreter für alles, das sich das Bayville-Kartell in den vergangenen Jahren zuschulden hatte kommen lassen, war genau das, was Hyun-sik seinerzeit getan hätte.

Jeongguk hatte geglaubt, er kenne Yoongi. Zumindest ein wenig – und schon wieder hatte seine eigene Arroganz ihn dazu verleitet, sich selbst und vor allem Taehyung in unmenschliche Gefahr zu bringen.

„Aber wir können einfach gegen ihn aussagen", erwiderte Jeongguk. „Gegen Yoongi und Blankenship."

Jeongguk", sagte sein Bruder und er hatte nie dringlicher geklungen. „Blankenship wird mit zwei Leichensäcken aus Kolumbien zurückkehren. Ihr sollt das nicht überleben."

„A-aber das ist nicht rechtens", erwiderte er. „Kein Beamter des Staats kann jemanden einfach umbringen, ohne ihn vorher vor Gericht gestellt zu haben."

„Ich weiß, Jeongguk. Das musst du mir nicht sagen. Aber Blankenship verzehrt sich nach einem Erfolg gegen das Kartell. Er wird nächstes Jahr von dieser machtreichen Position abgezogen, wenn er nicht bald gegen Bayville vorgeht."

„Und wenn er Taehyung und mich tötet, ohne, dass wir uns verteidigen können, dann hat er seine Lorbeeren."

„Genau. Dann ist er der goldene Ritter, den er schon die ganze Zeit spielt. Und Yoongi kriegt Immunität. Das Kartell stirbt offiziell mit euch beiden, aber er wird im Schatten des Medienechos eures Todes den Clan einfach neu begründen."

Jeongguk zwang sich, tiefe Atemzüge zu tun, während seine Sicht ein erneutes Mal vor seinen Augen verschwimmen wollte. „Arbeitet Blankenship allein? Und woher weiß Yoongi, wo wir sind?"

„Er hat offiziell die gesamte Armada der DEA nach Kolumbien beordnet, aber er wird es so planen, dass er mit Taehyung und dir alleine auf der Insel ist. Dann wird er euch töten, und wenn der Rest der Kavallerie eintrifft, wird er es als Notwehr präsentieren. Ich weiß nicht, woher Yoongi euren Aufenthaltsort kennt, aber ich vermute, dass er euch irgendwie beschattet haben muss."

„Woher weißt du das alles, Diego?"

„Weil ich dabei war, als sie den Plan ausgehandelt haben. Weil Jared mir mehr vertraut, als irgendjemand anderen auf der Welt. Er sieht mich in sich, und das ist der Grund, wieso ich... ihn so blind verehrt habe. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich–" Er unterbrach sich. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Wichtig ist, das du und Taehyung hier wegkommt. Wenn Blankenship euch in die Finger bekommt, ist es aus."

„Was ist mit dir?"

Purer Herzbruch schwang in Diegos Stimme mit. „Der Bruder deines Freunds ist... gerissen. Er hat nicht erwartet, dass Blankenship mich einweiht, vor allem, weil er sich nicht sicher sein kann, dass ich dich nicht warnen werde."

„Diego, was ist los?" Seine Stimme klang schrill vor Panik.

„Sagen wir so, ich habe in der Vergangenheit Dinge getan, die jedes Zeugnis von mir in den Dreck ziehen würde, wenn ich jemals versuchen sollte, eine Aussage gegen Blankenship zu machen. Du weißt nicht, wie... verblendet ich war. Ich habe für Jared Dinge getan, die in keinem Land dieser Welt legal wären. Als Jared bewusst wurde, dass ich ihm nicht in dieses gesetzlose Unterfangen folgen würde, hat er mich damit erpresst. Ich musste untertauchen und meine einzige Hoffnung war es, dich noch rechtzeitig zu erreichen."

„Diego, wo bist du?"

Er klang ehrlich gequält. „Ich... kann es dir nicht sagen. Zu deiner Sicherheit und meiner."

„Ich muss zu Taehyung", murmelte Jeongguk, sein Mund taub vor Panik.

„Wie, du musst zu ihm? Sag nicht, dass du ihn allein gelassen hast."

„Doch", flüsterte er. „Ich muss sofort gehen. Bis dann, Diego." Sein Kehle verengte sich. „Leb wohl."

„Fuck!", schrie Diego, und seine Stimme überschlug sich. „Bring' dich in Sicherheit, versprich es mir, du kannst nicht–"

„Ich werde Taehyung nicht sterben lassen."

Mit diesen Worten warf er den Hörer auf die Gabel und rannte, ohne auf Estebans verwunderte Rufe zu achten, an ihm vorbei aus dem Laden auf die Straße. Paso Nuevo lag noch immer beschaulich vor ihm in der Sonne da, aber niemals war Jeongguk ein Ort so falsch und verlogen vorgekommen.

Er hatte geglaubt, hier sein Glück zu finden und ein paar kurze, verräterische Tage war es tatsächlich so gekommen – nur, dass er nicht bemerkt hatte, wie sehr es ihn gelähmt hatte, betäubt, bis er aufgehört hatte, über seine eigene Schulter zu schauen.

Das würde er sich niemals verzeihen, nicht solange er lebte.

Er hatte das Boot in Windeseile losgebunden und ehe er den nächsten Atemzug getan hatte, schaukelte es schon in den Wellen.

Schneller, schneller, hetzte er das Boot.

Seine Gedanken waren voll von Taehyung, von Slowtown, das versuchte, seine Atmung zu beruhigen, indem es ihm Bilder von Taehyung zeigte; in seinen Armen, mit dem unendlich glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht, als er ihn auf dem Deck des Bootes überrascht hatte. Taehyung auf dem Maskenball, Taehyung, wie er auf seinem Sofa stand und den Degen in der Hand hielt. Taehyung, lachend, Taehyung, mit Tränen in den Augen, immer Taehyung, Taehyung, Taehyung.

Irgendwann schob er Slowtown beiseite, als er Isla Salome vor sich auftauchen sah. Er machte sich keine Mühe das Motorboot zu vertäuen, sondern setzte es einfach mitten in den Sand, bevor er über Bord sprang und durch das Dickicht zum Haus rannte.

Es war leer, und der Boden war voller Seifenwasser.

„Taehyung!", schrie er und seine ziellosen Schritte trugen ihn wie von selbst aus dem Haus, auf die Klippen zu, der einzige Ort, der nahe genug an dem Haus war, und der von der Anlegestelle aus nicht sichtbar war.

Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Dort, auf der obersten Erhöhung der Klippen, die zu gefährlich war, um davon ins Wasser zu springen, stand Taehyung. Sein ungewohnt schwarzes Haar glänzte in der Sonne wie flüssiges Pech und als Jeongguk aus dem Dickicht brach, flatterte sein Blick zu ihm hinüber.

Er hatte ihn noch nie so angesehen.

Keine Sekunde später ertönte ein ohrenbetäubender Schuss über die unebene, felsige Oberfläche und zuerst verstand Jeongguk nicht, was geschehen war. Dann fiel Taehyung auf die Knie, ein ergebener, fast andächtiger Ausdruck auf seinem Gesicht. Auf seinem weißen T-Shirt blühte ein roter Abdruck auf, wie in Zeitlupe, sodass Jeongguk jedem einzelnen Blatt bei der Entfaltung zusehen konnte.

Taehyungs Lippen formten einen Namen, und obwohl Jeongguk zu weit weg war, um ihn wirklich zu hören, spürte er, wie seine Beine nachzugeben drohten.

„Nein!", schrie er. „Nein, nein. Nein!!"

Ein zweiter Schuss hallte über die Anhöhe, näher diesmal und Jeongguk realisierte, dass auf ihn geschossen worden war.

Nicht einmal drei Meter von Taehyung entfernt stand Blankenship in Zivilkleidung; einem blütenweißen Hemd und schwarzen Anzugshosen, die hier, auf dieser Insel ungemein albern aussahen. Die Pistole in seiner Hand rauchte, und Jeongguk stellte dumpf fest, dass er daneben geschossen hatte.

Zehn Meter lagen zwischen ihm und dem Monster und er zögerte keine Sekunde. Während Blankenship sein gesamtes Magazin entleerte – er spürte am Rande, wie Kugeln sich in seine Arme und Schulter bohrten – flog Jeongguk über die felsige Anhöhe auf ihn zu, sodass Blankenship nicht einmal Zeit hatte zu realisieren, wie ihm geschah.

Jeongguk prallte gegen ihn und riss ihn zu Boden. Schon an einem gewöhnlichen Tag hätte Blankenship ohne Waffe keine guten Chancen gegen Jeongguk gehabt, aber heute war Jeongguk unbesiegbar.

Er riss Blankenship an den Schultern nach oben und ließ seinen Kopf gegen den harten Stein der Klippe donnern, ein, zwei, dreimal, bis der Polizist vor Schmerz schrie. Jeongguk hörte nicht auf.

In seiner Todesangst gelang es Blankenship, Jeongguk von sich hinunterzustoßen, aber dieser kniete in der nächste Sekunde schon wieder über ihm und presste ihm beide Hände um den Hals.

„L-lass mich los", röchelte Blankenship unter Jeongguks Würgegriff, und ihn betteln zu hören, motivierte ihn nur umso mehr, den Druck in seinen Fingern zu verstärken. Blankenships Augen waren blutrot unter der Anstrengung, die es kostete, unter Jeongguks Fingern Atem zu schöpfen, und er begann, sich im Todeskampf unter Jeongguk zu winden. Dieser presste seine Arme mit seinen Knien ab und erhöhte den Druck graduell immer weiter und weiter.

Jeongguk hätte nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis Blankenship die letzte, verzweifelte Zuckung unter ihm tat, doch er spürte, wie Blankenships Körper unter ihm erschlaffte und er rutschte von ihm hinunter.

Er fühlte nichts.

Nur drei Meter von ihm entfernt lag Taehyung und starrte in den Himmel. Seine Finger krampften sich in den harten Stein unter ihm, aber er gab keinen Laut des Schmerzes von sich, während sein Brustkorb sich frenetisch hob und senkte.

Jeongguk war bei ihm, bevor es sich dessen bewusst war, und hob Taehyungs Kopf in seinen Schoß.

„Du blutest", flüsterte Taehyung, als er Jeongguk über sich erkannte. Er lächelte bei seinem Anblick. Wie konnte er jetzt bloß lächeln?

Jeongguk wischte die Worte mit einem Kopfschütteln beiseite. „Es ist nicht schlimm."

Taehyungs Wunde war es hingegen doch. Jeongguk erkannte es, ohne, dass er richtig hinsehen musste. Die Kugel hatte seinen Brustkorb genau in der Mitte durchschlagen und Taehyungs T-Shirt war vollkommen blutdurchtränkt.

Er spürte, was für Schwierigkeiten es Taehyung bereitete, nicht vor Schmerz zu schreien. Stattdessen fand seine Hand die von Jeongguk und seine Finger drückten Jeongguks mit erstaunlicher Vehemenz.

„I-ich liebe dich. So sehr."

Jeongguk spürte, dass Tränen wie Regentropfen über sein Gesicht liefen und auf Taehyungs Wangen fielen, dessen Augen trocken blieben. „Taehyung, bitte", hörte er sich selbst flehen, als habe irgendeiner von ihnen Gewalt über diese Situation. „Bleib bei mir. Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles andere."

Obwohl sein gesamter Fokus auf Taehyung lag, auf seinem besten Freund, auf der Liebe seines Lebens, die gerade in seinen Armen verblutete, hörte er aus der Ferne das Surren eines Helikopters. Nein, eines halbes Dutzend davon, die sich zu einer Formation zusammengeschlossen hatten und über das Wasser auf sie zukamen.

„Sie haben uns gefunden", flüsterte Taehyung und Jeongguks Herz brach. „Wir hatten das Paradies, aber sie haben uns gefunden."

Jeongguk versuchte, Worte zu formulieren, Yoongis Verrat zu artikulieren, aber seine Lippen blieben vollkommen bewegungslos. Er wollte die letzten Augenblicke ihrer Zweisamkeit nicht durch solche Tatsachen vergiften.

„Wohin du gehst, Taehyung", flüsterte er. „Ich folge dir. Immer."

Taehyungs Zunge schien schwerer zu werden, aber Jeongguk konnte seine Worte dennoch mühelos verstehen. Er sprach auf Koreanisch – oder war es Englisch? – und seine Stimme war nur noch ein Hauch.

Es war sein Name, immer und immer wieder nur sein Name. Jeongguk. Jeongguk. Jeongguk.

Ihre Finger verflochten sich ineinander, Taehyung, Jeongguk, Taehyung, Jeongguk. Jeongguks Mund auf Taehyungs Stirn. Ein Lächeln.

Taehyung holte zitternd Luft. Seine Lippen teilten sich ein letztes Mal.

„Hey, Jeongguk, n-nicht weinen", flüsterte er und seine dunklen Augen schimmerten. „Wir sehen uns in Slowtown."

Dann fiel sein Kopf zurück.

Und die Stadt hob sich aus der Erde empor, sehnsüchtig, euphorisch, endgültig, um die verlorenen Söhne in ihren Mauern willkommen zu heißen.

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