Hinter der Bühne (AT)

By Kuralie

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Nia schweigt und das aus gutem Grund. Gehemmt durch ihr Stottern, behält die 15jährige Träumerin ihre Gedanke... More

Vorwort
Kapitel 1 - Wasserspeiende Trolle
Kapitel 2 - Seifenblasen und Knäckebrot
Kapitel 3 - Rot und Grau
Kapitel 5 - Doppelte Schatten
Kapitel 6 - Unerhört Egal
Kapitel 7 - Fu Fu Fu
Kapitel 8 - Der letzte Tropfen
Kapitel 9 - Eine stille Erkenntnis
Kapitel 10 - Stock und Schirm
Kapitel 11 - Bei Sonnenuntergang
Kapitel 12 - Ein übler Tag
Kapitel 13 - Abrupte Begegnungen

Kapitel 4 - Dem Ruin entgegen

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By Kuralie


Ich sass da wie betäubt.

Frau Lautner teilte die Manuskripte aus und meine Mitschüler begannen sofort eifrig darin zu blättern und sich zu melden, um ihre Fragen zu stellen. Für mich hörte sich das alles an, wie das Rauschen zwischen zwei Radiosendern, während man den richtigen Kanal suchte und nur ab und zu einen klaren Satz vernahm.

Als hätte jemand meine Antenne geknickt.

Nur langsam drangen die einzelnen Stimmen wieder zu mir durch.

„Bei diesem Stück hier, handelt es sich um eine Tragödie", hörte ich Frau Lautner vorne sagen.

In der Tat, dachte ich.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und betrachtete den gehefteten Stapel an bedruckten Blättern auf meinem Pult mit ausdrucksloser Miene.

Ganz vorne stand in dicken Lettern "Hendricks Stimme - Eine totgeschwiegene Liebesgeschichte" und darunter ein Autor, von dem ich noch nie etwas gehört hatte.

„Wir werden uns einem eher unbekannten Stück widmen, dessen Hauptfigur Hendrick, den Tod seiner Jugendliebe Cecilia betrauert und von Gewissenbissen gequält wird, als er der schönen Julianna begegnet. Durch den Verlust–"

Ich hörte gar nicht mehr zu.

Durch das geöffnete Fenster drangen die sommerlichen Geräusche der nahe gelegenen Strasse an mein Ohr und die Stimmen der Schüler, die bereits aus hatten und noch auf dem Schulhof herumlungerten. Ich wünschte mir, ich könnte einer von ihnen sein. In einer anderen Klasse, in einer anderen Stadt... in einem anderen Leben.Noch vor einer Woche hatte ich angenommen, mein Schuljahr würde langweilig werden und nun sah ich diese Annahme so gründlich wiederlegt, dass ich am liebsten davongelaufen wäre.

Es wäre so einfach gewesen, aufzustehen und zu gehen. Einfach zur Tür hinaus zu marschieren und dann den Gang hinunter, vorbei an all den Klassenzimmern, in denen noch Unterricht herrschte und dann die Treppen hinunter, bis man mich nicht mehr zurückrufen konnte.

Aber das ging nicht.

„Die Aufführung findet bereits in ein paar Monaten statt", erklang es von vorne. „Geplant ist, dass wir den ersten Teil unserer Doppelstunde dem regulären Unterrichtsstoff widmen und die zweite Hälfte auf das Bühnenstück verwenden."

Ein Murmeln ging bei dieser Information durch den Raum.

Wahrscheinlich hatten die meisten hier angenommen, der Freitagnachmittag würde für den Rest des Schuljahres aus Herumgehampel in Strumpfhosen und einem Balkon aus Pappe bestehen, von dem jemand „O Romeo, Romeo" brüllte, bevor er mit der gesamten Konstruktion einstürzte.

Mir war von Anfang an klar gewesen, dass wir den Lehrplan nicht vernachlässigen konnten. Schliesslich gab es nach wie vor Lernziele, die erreicht werden wollten und Klausuren, für die wir büffeln mussten. Aber auch ich war überrascht, als Frau Lautner nun bestätigte, dass wir bereits im Dezember auf die Bühne treten würden.

Ich dachte einen Moment darüber nach, wie das gehen sollte und was das für mich bedeuten mochte. Aber dann kam ich zum Schluss, dass ich froh sein musste.

Je seltener wir proben konnten, desto weniger Gelegenheiten würden entstehen, in denen ich mich blamierte.

Meine Mitschüler mochten von Mal zu Mal besser werden, wenn sie übten, aber bei mir sah das anders aus. Zehn Jahre Sprechtherapie hatten aus mir keine Rhetorin gemacht und 4 Monate Schauspiel, konnten daran auch nichts ändern.

Der Beweis dafür, hing bei meiner Mutter im Büro, am Klemmbrett.

Schwarz auf Weiss.

„Mir ist bewusst, dass unsere Zeit sehr knapp bemessen ist", hörte ich Frau Lautner sagen. „Dazu kommt leider noch, dass wir nicht jeden Freitag darauf verwenden könnten, zu üben. Die Theater AG hat sich bereiterklärt uns mit den Kostümen auszuhelfen, aber um das Bühnenbild müssen wir uns selbst kümmern, was etliche Stunden unserer Zeit in Anspruch nehmen wird."

Sie rückte ihre Brille zurecht.

Dann sagte sie: „Daher schlag ich vor, dass wir nach der Pause bereits durch die einzelnen Passagen gehen und besprechen, wer welche Rolle übernehmen möchte."

Der Kopf schwirrte mir, als ich mich wenig später auf meiner Fensterbank niederliess. Zum ersten Mal seit langem, konnte ich mich nicht daran erfreuen, wie das Licht durch die Fenster fiel und mein Gesicht wärmte.

Meine Mitschüler blödelten im Gang herum und lasen sich gegenseitig mit übertrieben verstellter Stimme aus dem Dramentext vor, während sie sich in Pose warfen. Ich wünschte mir auf einmal sehnlichst, die Nische hätte einen Vorhang gehabt. Dann hätte ich so tun können, als ginge mich ihre Freude nichts an.

Als wäre ich kein Statist in diesem Horrorstreifen, den alle anderen zum Lachen fanden, sondern nur ein heimlicher Beobachter hinter der Bühne.

Mit einem tiefen Seufzen legte ich den Kopf auf die Knie. Doch gerade, als ich die Augen schliessen wollte, fiel mein Blick auf Nia.

Er stand ein wenig abseits und in den vorbeiströmenden Schülern wirkte er auf merkwürdige Weise deplatziert. Beinahe, als wäre er eben erst hier angekommen und würde noch keine Seele kennen. Er stand im Schatten, aber sein Gesicht war dennoch deutlich zu erkennen.

Er starrte auf das Manuskript hinunter und seine finstere Miene stand dabei in einem solch starken Kontrast zu seinem attraktiven Gesicht, dass ich verwundert die Augenbrauen hob.

Meine Güte. Was war mit ihm?

Mein Blick wanderte über seine angespannten Schultern und blieb schliesslich an seinen Händen hängen. Seine Finger hatten sich so sehr um das Papier verkrampft, dass es zerknickte und ich schluckte, als mir klar wurde, dass Nia sauer war.

Richtig sauer.

Ich zog die Schultern hoch und schaute mich unauffällig um. Keinem meiner Mitschüler fiel auf, wie er dort stand und ich verspürte auf einmal eine rege Neugierde zu erfahren, welche Seite er eben noch aufgeschlagen gehabt hatte, welche Passage ihn so aus der Fassung brachte, dass er auf das Skript hinunterstarrte, als wolle er es mit blosser Willenskraft in Brand stecken.

Oder passte ihm das ganze Stück nicht?

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Natalie sich aus ihrer Gruppe löste und nach nach Nia umschaute. Sie rief nach ihm, aber er reagierte nicht. Erst als sie ihn am Ellbogen fasste, schaute er auf.

Unwillkürlich hielt ich die Luft an, denn ich wusste, wie scharf ein Blick aus diesen grünen Augen sein konnte.

Doch zu meiner absoluten Überraschung, lag von einer Sekunde auf die nächste ein breites Grinsen auf Nias Mund. Der Wandel ging so schnell vonstatten, dass ich verblüfft die Arme sinken liess, die ich eben noch um meine Knie geschlungen hatte.

Wie... was?

Eben war da noch dieser Todesblick und jetzt wirkte er so fröhlich, dass ich auf einmal Zweifel daran hegte, was ich eben noch gesehen hatte. Täuschte ich mich? Hatte ich mir das gerade nur eingebildet? Natalie sagte etwas und er lehnte sich entspannt gegen die Wand und lachte, nickte und sagte seinerseits etwas, das sie zum Kichern brachte.

Ich lehnte mich zurück und schüttelte langsam den Kopf.

Ein erneutes Lachen erklang und als ich Nia beobachtete, da knotete sich etwas in meinem Magen zusammen.

Ich schnaubte leise.

Was kümmerte es mich eigentlich, was da eben passiert war? Es ging mich überhaupt nichts an. Ausserdem gab es keinen Anlass, sich über Nias Grinsen Gedanken zu machen.

Es war schliesslich dasselbe, wie immer.

Ich packte mein Zeug zusammen und marschierte ins Schulzimmer, um den Rest der Pause dort zu verbringen.

Hätte ich jedoch gewusst, was mich in der nächsten Stunde erwartete, dann wäre ich nicht so eifrig dabei gewesen, mich an meinen Platz zu setzen. Kaum dass die Glocke nämlich erklang und sämtliche Schüler zurückgekehrt waren, klatschte Frau Lautner in die Hände, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen und sagte:

„Lars, schlag doch bitte das Manuskript auf und lies uns den ersten Abschnitt vor."

Ich konnte förmlich spüren, wie die Angst in mir aufstieg, als mir klar wurde, was Frau Lautner vorhatte.

Lars war einer der Jungs in unserer Klasse, die kein Blatt vor den Mund nahmen und beinahe ebenso laut und auffallend waren wie Nia. Nur dass er von den Mädchen wesentlich weniger Beachtung geschenkt bekam, weil er eine hagere Bohnenstange war und zudem ein Besserwisser, der jedem hier schon einmal auf die Nerven gegangen war.

Leider bedeutete das auch, dass er in der ersten Reihe sass und als er zu lesen begann, da wurde mir klar, dass ich schon bald die nächste sein würde.

Schon wenig später begann der Junge neben ihm und setzte an der Stelle fort, an der Lars geendet hatte. Ich spürte, wie meine Hände schwitzig wurden und strich unter dem Tisch nervös über meine Jeans, aber es nützte nichts. Der Stoff unter meinen Handflächen fühlte sich klamm und rau an und ich grub meine Finger in die Oberschenkel.

Angespannt folgte ich der aktuellen Zeile, ohne etwas vom Gesagten zu verstehen.

Alles worauf ich mich konzentrieren konnte, war die Stimme des Schülers, der gerade las und die Tatsache, dass diese mit jeder Minute näher rückte.

„Konzentriert euch auf den Dialog, sprecht ihn mit Gefühl", klang es von vorne.

Mit hochgezogenen Schultern schlug ich die Seite um, auf der ich weiterlesen sollte, als der Schüler am Tisch neben mir verstummte.

Mein Herz pochte und schlug mir bis in den Hals und meine Augen benötigten ein paar Sekunden, bevor sie sich auf den Text fokussieren konnten, weil in meinem Kopf ein solches Durcheinander herrschte.

Als ich auf das erste Wort hinunter schaute, das den Beginn meines Abschnitts markierte und sah, dass es ausgerechnet mit einem B begann, presste ich die Lippen zusammen.

Wortfetzen meiner Logopädin gingen mir durch den Kopf, aber ich konnte mich gerade an keinem ihrer schlauen Vorschläge festhalten.

Ich holte tief Luft.

„B-b-b-be-be-"

Ein Kichern erklang aus irgendeiner Ecke und meine Finger verkrampften sich um den Zettel.

„B-b-b-"

Im nächsten Moment stand Frau Lautner vor mir.

Sie schaute auf mich hinunter, schüttelte den Kopf und sagte: „Lass gut sein, Nia."

Sie gab dem nächsten ein Zeichen, fortzufahren und mein Magen krampfte sich zusammen.

Hinter mir unterdrückte jemand ein Prusten und eine Stimme flüsterte: „Be-be-be-hin-hiiiin-"

Ich presste die Lippen zusammen, als ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, bis meine Ohren sich heiss anfühlten. Ich schaute jedoch nicht nach hinten und ich liess mir auch sonst nichts anmerken. Stattdessen hielt ich den Rücken gerade und versuchte ruhig zu atmen, obwohl ich am liebsten zusammengesackt wäre.

Manchmal wusste ich nicht, ob es schlimmer war zu scheitern oder gar nicht erst eine Chance zu bekommen.

Aber ich hasste dieses Zwischending.

Wenn die Lehrer mich erst schwitzen liessen, bevor sie mich mit Eiswasser übergossen.

Es war eine besondere Art der Demütigung, die sich jedes Mal aufs Neue durch meine Eingeweide frass und nichts zurückliess, als ein pochendes Herz, das an den letzten Fäden meines Nervenkostüms hing.

Aber ich hatte mit der Zeit gelernt damit umzugehen und so fuhr ich fort, das Kichern zu ignorieren, das auch dann noch im Raum zu hören war, als Frau Lautner entschieden um Ruhe bat. Ein Schüler nach dem anderen las einen Abschnitt vor, aber davon bekam ich nichts mit.

Erst als plötzlich Nias Stimme erklang, kehrte Stille ein.

Ich war so überrascht davon, dass ich aufblickte und mich umdrehte. Die meisten Schüler drehten mir den Rücken zu, weil sie mitverfolgt hatten, wer gerade an der Reihe war und so fiel zum Glück niemandem auf, wie ich starrte.

Etwas in mir zog sich zusammen, als ich ihn beobachtete.

Er las den Text der Hauptfigur und als ich ihm lauschte, fiel mir zum ersten Mal auf, dass er einen leichten Akzent hatte. Ob seine Eltern wohl immigriert waren? Ich erinnerte mich daran, was er über Hannover gesagt hatte und dass er nicht lange dort gewohnt habe.

Konnte es sein, dass er vorher in einem anderen Land gelebt hatte?

Seine Lesestimme war jedenfalls angenehm. Er eignete sich bestens, um Hendrick zu spielen und das dachte offenbar auch Frau Lautner.

Man konnte förmlich sehen, wie es in ihren Augen zu glänzen begann, als er den letzten Abschnitt vortrug und kaum hatte er fertig gelesen, sagte sie auch schon: „Das war sehr gut. Könntest du dir vorstellen, diese Rolle zu spielen?"

Ich erwartete sofortige Zustimmung und blinzelte überrascht, als Nia zögerte.

Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über seine Züge und ich glaubte schon, dass er Nein sagen würde, als er schliesslich doch noch nickte.

„Klar."

Frau Lautner klatschte begeistert in die Hände und kam durch die Bankreihen wieder nach vorne.

„Sehr gut", sagte sie in genau dem Moment, in dem die Glocke das Ende der Schulstunde verkündete und damit das Wochenende einläutete.

Über dem Tumult der ausbrach, war ihre Stimme schon bald kaum mehr zu hören.

„Selbstverständlich darf sich jeder von euch für die Rolle melden, die er gerne spielen möchte", sagte sie und wich dabei den Schülern aus, die sich bereits von ihr verabschiedeten.

„Es ist noch nichts in Stein gemeisselt, also meldet euch einfach bei mir, wenn ihr euch entschieden habt oder sagt es mir am nächsten Freitag. Ich habe ein paar Vorschläge gebracht, aber die endgültige Entscheidung werden wir erst nach dem Vorsprechen fällen."

Sie schob ein paar Stühle zurück an ihren Platz und winkte den letzten Schülern nach. Als ich ebenfalls gehen wollte, hielt sie mich jedoch auf. 

„Warte einen Moment, Nia."

Langsam drehte ich mich zu ihr um und fügte mich in mein Schicksal. Ich wusste bereits, was jetzt kommen würde und ihr verhaltenes Lächeln sorgte dafür, dass ich mich augenblicklich unwohl fühlte.

„Hast du dir schon Gedanken dazu gemacht, wen du spielen möchtest?"

Ich schüttelte den Kopf.

„Nun", sagte sie. „Du hast wie alle anderen das Recht, dir selbst eine Rolle auszusuchen. Aber Lisbeth würde sehr gut zu dir passen, denkst du nicht?"

Ich schaute auf meine Hände hinunter und rieb meine Finger gegeneinander.

„Sie hat sehr wenig Text."

Etwas in mir wollte aufbegehren, als sie das sagte. Obwohl ich vorgehabt hatte, das Manuskript heute Abend nach solch einer Rolle zu durchsuchen und mich genau dafür zu bewerben, bereiteten mir ihre Worte Bauchschmerzen.

Es beschämte mich, die Rolle so einfach angeboten zu bekommen. Besonders nachdem Frau Lautner gesagt hatte, dass die Entscheidungen erst am Freitag fallen würden. Ich konnte mir bereits vorstellen, was meine Mitschüler über diese Sonderbehandlung sagen würden.

Allerdings hatte ich keine Wahl.

Jemand anderes hätte sich vielleicht eine Entschuldigung schreiben lassen, aber ich wollte mich nicht drücken und darüber hinaus hätte ein Gespräch darüber meinen Vater beunruhigt. Ausserdem hatte Frau Launter in der ersten Stunde mehrfach betont, dass sich jeder an dem Stück beteiligen musste und sie keine Ausnahme gelten lassen würde.

Es war also entweder diese Rolle oder eine andere und es wäre unklug gewesen, das kleinere Übel von beiden aufgrund von falschem Stolz abzulehnen.

„Was denkst du?", fragte Frau Lautner nun und holte mich damit zurück aus meinen Gedanken. „Lisbeth?"

Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht und nickte.

„Dann wäre das geklärt", sagte und begann ihre Unterlagen zu sortieren, um diese in ihrer Aktentasche zu verstauen, bevor sie zu ihrem Lehrerpult ging und mir den Rücken kehrte. Ich murmelte einen Abschiedsgruss, schulterte meine Tasche und wandte mich zum Gehen.

Doch als ich mich umdrehte, blieb ich untermittelt stehen.

In der Tür stand Nia.

Und von seinem Gesichtsausdruck zu schliessen, hatte er alles gehört.

Ich schluckte, denn obwohl ich in der Pause noch angenommen hatte, seinen tödlichsten Blick zu kennen, so wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Nias grüne Augen starrten mit einem derart mörderischen Ausdruck in meine, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückmachte. Er sah aus, als würde er mich im nächsten Moment packen, zum Fenster zerren und rauswerfen.

Glaubte er, dass ich mich in den letzten Minuten bei Frau Lautner eingeschmeichelt hatte, um die Rolle zu bekommen?

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, bekam aber keinen Ton heraus.

Nia schnaubte, stiess sich vom Türrahmen ab und kam auf mich zu. Ich wollte ihm ausweichen, aber es gab keinen Platz und im nächsten Moment rempelte er mich so heftig an, dass ich zur Seite stolperte. Ich keuchte erschrocken auf und schaffte es gerade noch, mich an einem der Tische abzufangen. Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher.

Was in aller Welt?!

Sag mal, ging's noch?

Entgeistert verfolgte ich wie Nia nach vorne ging und Frau Lautner ansprach. Nur langsam schaute sie von ihren Unterlagen auf und mir wurde bewusst, dass sie nichts mitbekommen hatte. Sie begannen ein leises Gespräch und schenkten mir keine Beachtung mehr.

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen ich nicht wusste, ob ich etwas sagen oder warten und Nia danach zur Rede stellen sollte. Doch die beiden plauderten in aller Ruhe und so packte ich meine Tasche, die auf dem Boden gelandet war und rannte förmlich aus dem Schulzimmer.

Erst am Ende des Ganges blieb ich stehen und schöpfte nach Atem. Mein Herz pochte vor Empörung und ich schaute zurück in Richtung Schulzimmer.

Meine Hände zitterten so stark, dass ich sie zu Fäusten ballte und es dauerte eine Ewigkeit, bis mein Herzschlag zur Ruhe kam. Dann schulterte ich meine Tasche und drängte mich durch die Schüler in Richtung Haupthalle. Ich wollte nur noch raus aus dieser Schule.

Nia war solch ein Arschloch. Ich konnte es kaum glauben.

Was war sein verdammtes Problem?!


***


Auf dem Heimweg war ich zunächst so aufgewühlt, dass ich nichts um mich herum wahrnahm. Doch je näher ich der Altstadt kam, desto stärker flachte meine Wut ab und als ich auf den gepflasterten Weg einbog und über die alte Brücke ging, da blieb ich schliesslich stehen und schaute auf das Wasser hinunter.

Am liebsten wäre ich direkt nach Hause gegangen und hätte mich in meinem Bett verkrochen, um über alles nachzudenken, doch das war heute nicht möglich. Mein Vater würde schon zu Hause sein, weil ein Firmenanlass verschoben worden war und anstelle einer ruhigen Wohnung, würde mich sein aufmerksamer Blick begrüssen. 

Gerade jetzt konnte ich allerdings alles andere gebrauchen, nur nicht das.

Ich schaute in den blauen Himmel hinauf, der sich über die Altstadt spannte. Keine einzige Wolke war zu sehen, aber ich konnte bereits erahnen, wie sich ein Unwetter am Horizont zusammenbraute.

Es würde in der Form einer umwölkten Stirn daherkommen, wenn mein Vater bemerkte, dass ich traurig war. Gewöhnlich konnte ich ihn mit einem Grinsen abspeisen und wenn er fragte, wie es in der Schule lief, dann rollte ich so lange mit den Augen, bis er lachen musste.

Aber ich bezweifelte, dass mir das heute gelingen würde.

Mein Vater würde mich nicht zum Reden zwingen, aber sein hilfloser Blick wog gewöhnlich so schwer auf meinem Herzen, dass ich mich in meinem Zimmer verkroch, weil die Tränen in mir aufstiegen.

In meinen Gedanken sah ich sein besorgtes Gesicht und wie sich seine Hände ineinander verkrampften, wenn er bemerkte, dass ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte. Es brach mein Herz, wenn ich mir vorstellte, wie er im dunklen Flur stand und die Hand hob, um zu klopfen, sie aber wieder sinken liess, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.

Mein Vater mochte nicht stottern. Aber auch er war kein Mann vieler Worte.

Das Reden hatte immer meine Mutter übernommen.

Anstatt also nach Hause zu gehen, bog ich beim schmiedeeisernen Tor ein, das in den Park führte. Der Rasen war gemäht worden und ein paar ältere Kinder spielten Fangen oder warfen sich Bälle zu. Auf den Bänken beim Spielplatz sassen die Eltern beisammen, während die Kleinsten sich auf dem Klettergerüst vergnügten.

Ich lief an ihnen vorbei und die Geräusche traten schon bald in den Hintergrund. Ich schlug mich durch eine Wiese, die an einen kleinen Teich grenzte und einen Trampelpfad freigab, der zwischen ein paar Bäumen stetig aufwärts führte.

Nur wenige Menschen gingen hier entlang und ich schlug mich durch das Gras und die Wildblumen. Schon bald geriet ich ausser Puste, aber oben angekommen, wurde ich mit einer fantastischen Aussicht belohnt. 

Ich atmete tief durch und spürte, wie die Anspannung von mir abfiel. Hier oben kamen mir all meine Sorgen immer halb so schlimm vor.

Der Hang grenzte die Stadt gegen die umliegenden Wälder ab und ganz oben auf dem Hügel thronte eine Burgruine, deren Mauern schon seit Jahrhunderten dem Zerfall trotzten.

Ich liess meinen Blick über die Dächer der Häuser gleiten und den Fluss, der sich wie ein silbernes Band durch die Stadt schlängelte. Der Duft des Spätsommers hing in der Luft und der ganz eigene Geruch, der diesem Ort anhaftete. Es roch nach ehrwürdigem Alter und modrigem Zerfall. Ich stellte mir vor, dass die Zeit selbst so riechen musste und lächelte.

Mir war schon lange bewusst, dass ich eines Tages Architektin werden wollte und es gab so viele bauliche Meisterwerke, die ich irgendwann einmal besuchen wollte.

Das Tanzende Haus in Prag, das Marina One in Singapur und das Kunsthaus in Graz, das wie ein eisernes Herz in der Stadt lag. Ich war fasziniert von der Deckenkunst der Sagrada Família und der unglaublichen Schönheit des Swiss Re Towers in London.

Aber es waren die alten Trutzburgen dieser Welt, denen mein Herz gehörte. Sie standen wie ein Mahnmal auf den Hügeln und erinnerten mich an die Vergänglichkeit aller Dinge.

Sie waren es auch, die mir Trost gespendet hatten, als meine eigene Familie auseinanderfiel. An ihre Mauern hatte ich mich gelehnt, wenn ich nirgendwo sonst Halt fand.

Der Gedanke daran, wie lange es dauerte, um solch ein imposantes Bauwerk zu errichten und wie es trotz seiner Stärke dem Zahn der Zeit zum Opfer fiel, war mir wie ein Sinnbild für mein Leben vorgekommen.

In einer Zeit, in der ich keinen Freund hatte, der mir durch den Schmerz helfen konnte, war mir diese Burg hier stets wie eine Vertraute erschienen und wann immer ich später von weitem die Schönheit sah, in der dieser verfallene Ort im Abendlicht stand, dann liess mich das neue Hoffnung schöpfen, dass selbst aus Ruinen etwas hervorgehen konnte, das Frieden brachte.

Ich lächelte in mich hinein.

Ich streckte die Hand aus und fuhr über das grobe Mauerwerk, den alten Mörtel und die harten, groben Grasbüschel, die dort wuchsen. Ich musste darauf achten, wo ich meine Schritte setzte, während ich die Burg langsam umrundete. Unkraut wucherte zwischen den zerbrochenen Wegplatten, die auf einen staubigen, braunen Platz vor der Ruine führten.

Auf einem ausgetretenen Stück in der Nähe des Tores, liess ich mich schliesslich nieder. Ich lehnte den Rücken gegen das kühle Gemäuer und streckte die Beine aus.

Meine Tasche lag unbeachtet neben mir aber schliesslich raffte ich mich auf und zog das Manuskript heraus. Wenn ich bei diesem Theater schon mitmachen musste, dann wollte ich wenigstens wissen, was ich im Unterricht verpasste hatte.

In der Stille des Nachmittags begann ich das Stück nun also zu lesen.

Die Geschichte war nicht einmal schlecht. Sie zog mich schnell in ihren Bann und ich empfand ehrliches Mitgefühl, für den tragischen Helden – Hendrick –, der den Tod seiner Ehefrau betrauerte und nur ihren Körper, nicht aber seine Gefühle für sie zu Grabe tragen konnte.

Das Stück erzählte davon, wie er nach und nach seine Freunde verlor; erst, weil diese ihn gedrängt hatten, eine neue Gefährtin zu finden und später, weil sie mit seiner Wahl nicht einverstanden waren.

Die Szenen stellten dar, wie verwirrt und alleine er sich fühlte. Wie seine Gewissensbisse ihn plagten, weil das Gesicht seiner toten Liebe verblasste und er sich nicht mehr an den Klang ihrer Stimme erinnern konnte.

Stattdessen wurden andere Stimmen um ihn herum laut. Stimmen, die ihm Tag und Nacht in den Ohren lagen und ihn bald in die eine, bald in die andere Richtung zerrten.

Alle ausser der von Lisbeth.

Ich lehnte den Kopf zurück und schaute an der efeuüberwucherten Mauer entlang hinauf in den Himmel.

Mir fiel wieder ein, wie Nia im Gang gestanden hatte und auf sein Manuskript hinunter schaute, als stünde der Weltuntergang vor der Tür. Ich runzelte die Stirn und ich spürte erneut dem Gefühl nach, dass sich in meiner Magengrube festgesetzt hatte, als er aus seiner Trübsal gerissen wurde und mit einem Lachen aufschaute.  

Nachdenklich biss ich auf meiner Unterlippe herum.

Aber dann dachte ich daran, wie er mich zur Seite gestossen hatte und ich schüttelte den Kopf, um die unliebsamen Gedanken loszuwerden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn dazu verleitet hatte. Es gab keine Entschuldigung dafür, so grob zu werden. 

Selbst wenn er glaubte, dass ich mir Lisbeths Rolle auf unehrliche Weise unter den Nagel gerissen hätte.

Aber was immer sein Problem war, ich würde mir darüber nicht das Gehirn zermartern.

Ich hatte schon zu oft über die Motive meiner Mitmenschen nachgedacht und war dabei auf keinen grünen Zweig gelangt.

Ich blätterte die nächste Seite um und vertiefte mich erneut in die Geschichte.

Beim Lesen musste ich schon bald feststellen, dass mir meine Rolle ungewöhnlich gut gefiel. Lisbeth kam in vielen Szenen vor, weil sie Hendricks beste Freundin war. Im Gegensatz zu den anderen Figuren zog sie es aber vor, schweigend im Hintergrund zu stehen.

Sie war heimlich verliebt in Hendrick, was ich weniger lustig fand, weil ich mir ziemlich sicher war, dass Nia die Rolle bekommen würde, aber sie zeigte ihre Gefühle nicht offen und es gefiel mir, dass sie die einzige in dem Stück war, die dem Helden zuhörte, anstatt auf ihn einzureden.

Als ich die letzte Szene las, fühlte ich mich gar nicht mehr so schlecht.

Es handelte sich um die Abschiedsszene, nachdem Hendrick beschlossen hatte, alles und jeden hinter sich zu lassen, um in der Stille der Einsamkeit jene Stimme wiederzufinden, die am Ende wirklich zählte.

Seine eigene.

Er vertraute sich seiner besten Freundin an und hier lag der Hauptanteil der Sätze, die Lisbeth sagen musste. Ich starrte einen Moment lang auf den Dialog hinunter und nickte dann entschlossen. Ich würde das schon schaffen.

Vielleicht würden die Zuschauer mein Stottern sogar für gewollt halten. Immerhin war die Szene emotional geladen. Doch gerade als ich das Manuskript zuschlagen wollte, fiel mein Blick auf eine kursiv gedruckte Zeile.

Es handelte sich um eine Regieanweisung, die zu Beginn des Dialoges vermerkt war und die ich bisher völlig ignoriert hatte. Ich zog das Heft wieder näher, um sie zu lesen und als ich sah, was dort stand, liess ich das Heft fallen und sank ungläubig zurück.

Oh mein Gott.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Verdammt nochmal!

Ich packte das Heft und schleuderte es auf den staubigen Platz hinaus.

Dann schloss ich die Augen und versuchte zu vergessen, was ich eben gelesen hatte. Aber der Satz hatte sich in meine Netzhaut gebrannt und tanzte auch dann noch in meinem Gesichtsfeld, als ich zur Seite sank und stöhnend den Arm über meine Augen legte.

Lisbeth; liegt während des ganzen Gesprächs in Hendricks Armen




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Setz die Geschichte auf deine Leseliste, wenn sie dir gefällt :) Dann verpasst du die neuen Teile nicht.

xoxo
Kuralie

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