Sie hatte nichts mehr für ihn tun können. Cress versuchte gar nicht erst, ihn wiederzubeleben. Es hatte keinen Sinn. Denn Mattia hatte die volle Wucht der Attacke getroffen, während sie durch seinen Körper geschützt worden war. Viel länger, als klug gewesen wäre, kniete sie neben ihm. Irgendwann begann sie zu singen.
So leise, dass sie deswegen niemand finden würde. Doch sie sang für Mattia, wie sie vor Jahren für Sam und Sagasha gesungen hatte. Wie sie für den Schatzmeister singen musste, wenn sie nicht sterben wollte. Irgendwann stand Cress auf, zog Julians Jacke noch einmal aus. Glas, Holz und Betonsplitter spickten den Rücken. Jeder einzelne davon wäre in ihrem Fleisch gelandet, wenn sie ungeschützt gewesen wäre. Cress schlüpfte aus ihrem Oberteil und riss es kleiner, um den Verband besser zu machen, bevor sie den Reisverschluss der Armeejacke wieder schloss. Sie wünschte sich, dass deren Besitzer jetzt an ihrer Seite wäre.
Der Sturm riss ihr die Haare aus dem Gesicht, als sie ins Freie trat. Bevor die Diebin auf die Straße hinaus ging, humpelnd und zunehmend schwindelig, sah sie sich um.
Cress Cye, der ehemalige Schatten des Kreuzbuben, war nun Freiwild. Wehrlos, bis auf die Metallstange, die sie irgendwann auf ihrem Weg aufgehoben hatte. Sie konnte die Mauer immer noch in der Ferne zwischen den Wolkenkratzern sehen. Graffiti überzogen die Betonwände, gesprüht von besonders mutigen Farblosen in besonders dunklen Nächten.
Es stank schon hier schrecklich.
Moder, Müll, Ratten und schlimmere Dinge.
Dunklere Dinge.
Der Wind roch nach dem farblosen Bezirk, so schneidend, als gäbe es einen eigenen Gestank für Hoffnungslosigkeit und Wut.
Cress sammelte sich einen Moment lange und stapfte dann über die löchrige Straße noch tiefer in die Dunkelheit des gefährlichsten Bezirks der Stadt und damit in ihre Heimat hinein.
Es fühlte sich nicht an, wie ein Heimkommen.
Cress hatte das Gefühl, dass die Wolkenkratzer noch ausgemergelter und größer, deren Schatten noch dunkler geworden waren.
Hier glitzerte und funkelten die Wände nicht, wie im blauen Palast. Harter, angelaufener Beton ersetzte den Perlmutt.
Sie suchte sich ihren Weg am Boden, weil die Drahtseile bei so einem Unwetter viel zu gefährlich wären.
Donner krachte über ihrem Kopf, aber noch regnete es nicht.
Sie hatte sich verboten, an ihn zu denken. Daran, dass er kalt und leblos auf einem Dach lag. Daran, dass er es nicht verdient hatte, zu sterben. Vor allem nicht für jemanden, wie sie.
Cress war schuld, dass die Adligen ihn umgebracht hatten.
Wenn sie ihn einfach in Ruhe gelassen hätte, wäre das alles nie passiert.
Denn anscheinend war es tödlich, ihr nah zu sein. Für ihren Bruder. Für Sagasha. Für Mattia.
Sie war Gift. Am besten sollte se sich von allen Menschen fernhalten.
Aber daran dachte sie nicht, als sie durch den Farblosen Bezirk stolperte. Es kam nur auf den nächsten Schritt an, darauf, den Schatzmeister zu finden, bevor dieser starb.
Darauf, zu überleben, obwohl man lieber sterben wollte.
Das Quartier der Gilde lag weit entfernt von der Grenze zum braunen Bezirk, weswegen Cress nur hoffen konnte, dass sie nicht zu spät kommen würde. Sie würde es erfahren, wenn es so wäre, da sie in diesem Fall sterben würde. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sterben.
Sie war dem Tod so nahe gewesen, dass sie sich, wenn überhaupt in einer Sache sicher sein konnte: sie hatte kein erhöhtes Bedürfnis danach, in nächster Zeit zu sterben.
Die Diebin ließ ihre Finger an schmutzigen Hausfassaden entlang wandern, stieg über Müll und umrundete uralte Räder und Autos, die irgendjemand hier liegen gelassen hatte.
Wo sollte man auch hinfahren?
Immer, wenn sie eine Ecke umrundete, traf sie kalte Luft mit einer solchen Wucht, dass es ihr den Atem raubte.
Schauer spannten sich über ihren Rücken und sie gestand sich ein, dass sie zehn Mal lieber in Julians Zimmer sein und ins Feuer schauen oder dem Wasser, das gegen den Boden prasselte, zuhören würde. Oder seiner Musik.
Doch die bittere Wahrheit war, dass sie nicht in den blauen Bezirk gehörte. Sie gehörte genau hierher, zwischen verrottende Hochhäuser, Diebe und Mörder.
Cress zog eine Mauer aus Eisen in sich hoch, die während der letzten Zeit gerostet und gebröckelt war.
Der kleine Ausflug war vorbei.
Während sie durch die grauen Straßen stapfte, immer auf der Hut, immer darauf gefasst, dass einer der Auftragsmörder um die Ecke springen würde, da verblasste ihre Zeit im Kern nicht etwa, der Kontrast war nur so heftig, dass sie ihr vorkam wie ein Traum.
Mattias Tod war der Moment gewesen, in dem sie wieder aufgewacht war. Aufgewacht in einer Welt, die sie unbedingt umbringen wollte.
Der Sturm ließ so weit nach, dass Cresss es wagte hinaufzusteigen. Nebelfetzen hatten sich gebildet und sie zog es vor eine klare Sicht zu behalten.
Die Diebin hatte an ein paar Stellen im farblosen Bezirk Rollen deponiert und sobald sie eine davon in der Hand hielt, fühlte sie sich besser.
Es war immer noch riskant, bei diesem Wind über die Dächer zu gehen.
Doch wenn sie nicht schneller vorwärts käme, würde sie wahrscheinlich an einer Blutvergiftung sterben. Jeder Schritt jagte glühende Nägel ihren verletzten Oberschenkel hinauf. Es war die einzige Lösung.
Cresss stand oben auf einem der Wolkenkratzer und starrte einen Moment auf die Stadt hinunter, bevor sie sich in das Seil einhakte.
Die Augen schloss.
Einatmete.
Ausatmete.
Und sich abstieß.
Die Nachtelster flog über die leeren Straßen und durch den kalten Himmel.
Als sie landete, schmerzten ihre Wangen und ihre Arme brannten. Alles um sie her und in ihrem Inneren, schrie sie an: Du bist zurück. Hier gehörst du hin. Und hier wirst du auch nie wieder wegkommen. Sie flog über die Dächer und durch leere Stockwerke. Das Surren von Rollen auf Draht war wie so oft ihr einziger Begleiter. Sie wünschte, Julian wäre hier. Sie verzieh sich den Gedanken nur, weil sie kurz davorstand, einfach zusammenzubrechen. Immerhin hatte sie seine Jacke.
Der Nebel in den Gassen wurde dichter und kroch langsam die Fassaden hinauf, träge wie Badeschaum.
Cresss hielt einen Moment Inne, schon bereit das nächste Seil entlang zuschießen.
Das war seltsam.
Die Nebelschwaden waren so schnell gekommen und hatten sich über die Stadt gelegt wie ein Brautschleier. Dichter als jeder Schleier, sogar dichter als die stahlgrauen Wolken über meinem Kopf.
Langsam ließ sie ihre Hand sinken und musterte den Nebel. Dann schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab.
Es war Herbst. Die Wettermacher schickten ihnen immer Nebel um diese Jahreszeit.
Doch irgendetwas war seltsam an der Situation. Es dauerte noch drei Absprünge, noch drei Landungen, bis sie es begriff.
So lange, bis Cress über der zerborstenen, totenstillen Kuppel des RedLipRoulettes stand.
Dort unten, zwischen den Häusern und Milliarden um Milliarden kleiner Wassertropfen, bewegte sich Nichts. Als sie vorhin durch die Gassen gerannt war, hatte sie niemand angegriffen, obwohl nach wie vor ein Kopfgeld von schwindelerregender Höhe auf sie ausgesetzt war.
Doch da war überhaupt kein Mensch unterwegs gewesen.
Keine einzige, zerlumpte Gestalt. Keine Schreie von verwahrlosten Kindern, Nichts.
Der farblose Bezirk war verlassen. Aber warum? Wo waren sie alle? Versteckten sie sich in den Schatten, in den Häusern und U-Bahn-Schächten irgendwo da unten im Dunst?
Langsam nahm sie die Hand vom Drahtseil.
Wieso sollten sie das tun?
Der Herzschlag der Diebin war das einzige Geräusch in der gespenstischen Stille. Ihr Kopf war so schwer geworden, dass es ihre ganze Willenskraft verlangte, stehen zu bleiben.
Sie hatte zu wenig geschlafen, aber normalerweise kam sie damit einigermaßen klar.
Nun verschwamm ihre Sicht, oder vielleicht waren es auch nur die Wasserschwaden, die um sie her hochkrochen.
Viel heller, als der Himmel.
Sie versuchte es abzuschütteln und sich auf ihr Ziel zu fixieren, holte tief Luft und stieß sich ab.
Ganz kurz war die Welt einfach verschwunden.
Cresss taumelte, mitten in der Luft, als die Schwärze über ihr zusammenschlug.
Ein halblauter Angstschrei verließ ihre Lippen und hallte zwischen den Betonwänden davon.
Die Angst kam so plötzlich, dass sie einen Moment einfach aufhörte zu atmen und dann viel zu schnell nach Luft schnappte. Wie Mattia, kurz vor seinem letzten Atemzug.
Ihre Finger krampften um das Metall.
Stöhnend hob sie den Blick und stellte fest, dass sie hängen geblieben war.
Einfach stehen geblieben, mitten in der Luft.
An zwei Händen hing sie jetzt also zwischen zwei Hochhäusern.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich mit zu wenig Schwung abgestoßen und war irgendwo hängen geblieben.
Das natürliche Gefälle, das sie einplante, sollte an sich genug sein, um sie sicher über die Abgründe zu bringen.
Cresss war so übel, dass sie einen Moment dachte, sie müsse sich übergeben. Doch dann wäre ich gefallen, mitten durch die zerborstene Glaskuppel des RedLipRouletts.
Stöhnend kämpfte sie ihre Panik nieder, biss sich auf die Zunge, bis sie Blut schmeckte.
Ihr Blick schweifte nach oben, aber warum auch immer verschwamm das Drahtseil vor ihren Augen mit dem Meer aus Wolken am Himmel.
Sie zog sich ächzend nach oben, legte eine Hand hinter das Seil und stieß sich ab.
Jeder einzelne ihrer Muskeln schien zu protestieren, die Benommenheit machte sich in ihr breit, wie eine Krankheit.
Cresss kämpfte dagegen an, bewegte sich Zentimeter um Zentimeter auf den Betonboden zu.
Ihre Arme schmerzten schrecklich unter der Belastung und das Atmen wurde schwerer, je länger sie dort hing.
Noch länger, und sie würde ersticken. Mit zusammengebissenen Zähnen und blutigen Fingern, zog die Diebin sich über das Seil.
Als der Nebel sie erreichte, ihr Kopf in den Nacken kippte und die Welt innerhalb von Sekunden verblasste, berührten ihre Fingerspitzen für einen Sekundenbruchteil die Hauswand. Dann glitt sie wieder hinaus in die Luft, völlig wehrlos.
Schwärze.