Hinter der Bühne (AT)

By Kuralie

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Nia schweigt und das aus gutem Grund. Gehemmt durch ihr Stottern, behält die 15jährige Träumerin ihre Gedanke... More

Vorwort
Kapitel 1 - Wasserspeiende Trolle
Kapitel 2 - Seifenblasen und Knäckebrot
Kapitel 3 - Rot und Grau
Kapitel 4 - Dem Ruin entgegen
Kapitel 6 - Unerhört Egal
Kapitel 7 - Fu Fu Fu
Kapitel 8 - Der letzte Tropfen
Kapitel 9 - Eine stille Erkenntnis
Kapitel 10 - Stock und Schirm
Kapitel 11 - Bei Sonnenuntergang
Kapitel 12 - Ein übler Tag
Kapitel 13 - Abrupte Begegnungen

Kapitel 5 - Doppelte Schatten

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By Kuralie

In der Nacht auf den Samstag wälzte ich mich unruhig hin und her.

Nachdem ich mich wieder aufgerappelt und das Heft aus dem Staub gefischt hatte, war ich noch lange oben bei der Burg geblieben und hatte über die Dächer der Altstadt in die Ferne gestarrt, ohne wirklich etwas zu sehen.

Erst als der Nachmittag schliesslich in den Abend überging, hatte ich das Heft verdrossen zwischen meine Bücher gestopft und den Weg nach Hause eingeschlagen.

Der makellos blaue Himmel, war mir beim Abstieg überhaupt nicht mehr fröhlich vorgekommen. Eher so, als wollte er mich verhöhnen und mir zeigen, wie gross der Unterschied zwischen den letzten Tagen und den kommenden Monaten war, die nun vom Theater überschattet wurden.

Und einer Person mit einem gewaltigen Schatten, dachte ich.

Wenn sich zwei Schatten übereinander legten, war es dann eigentlich doppelt so dunkel?

Es fühlte sich jedenfalls so an.

Ich seufzte tief.

Normalerweise waren mir meine Gedankenspiele ein willkommener Zeitvertrieb, aber im Moment lösten sie nichts als Unbehagen in mir aus. Ich wollte sie aus meinem Kopf verbannen ... oder irgendwo einsperren. Aber natürlich war das Unsinn. Sie gehörten zu mir, wie der Regen zum Wasser, und waren – genau wie jene auch – , in manchen Fällen willkommen und in anderen nicht.

Ausrichten konnte man dagegen aber nichts.

Trotzdem wehrte ich mich gegen die Gedanken, die nun unweigerlich an die Oberfläche sprudelten.

Ich wollte meine Freitagnachmittage nicht mit Theaterspielen verbringen und ich hatte keine Ahnung, wie ich die Proben überstehen sollte, wenn die ganze Klasse mich anschaute: Die Hälfte davon schwankend, zwischen Sensationslust und einem vorpubertärem Kichern, die andere zerfressen von Eifersucht, weil ich die Rolle bekommen hatte, die mit dem Arschloch auf Tuchfühlung ging.

Die Aussicht darauf, mit Nia eine Szene zu spielen, in der wir uns körperlich nahe kamen, liess mich trocken schlucken.

Wie sollte das überhaupt gehen?

Ich konnte doch nicht einfach an ihn heranrücken und ... Nein!

Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden. Bilder, in denen Nia auf mich zukam und mich in seine Arme zog. Szenen, in denen ich ihm so nahe war, dass ich seinen Herzschlag unter meiner Wange spürte.

Auf keinen Fall.

Oh mein Gott.

Die Vorstellung allein trieb mir den Schweiss auf die Stirn und brachte mich dazu, mit meinen Händen über mein Gesicht zu reiben und sie schliesslich in meinen Haaren zu vergraben, während ich durch das Dachfenster ins Dunkel starrte.

Ich drehte mich um und drückte mein Gesicht ins Kissen, um ein frustriertes Stöhnen zu unterdrücken. Ich wollte nicht an die kommenden Monate denken. Ich wollte nicht einmal an die kommende Woche denken.

Am liebsten hätte ich diese Gedanken einfach ausgestellt. Ich wollte mich im Gedankenschloss meiner fernen Zukunftsträume verlieren oder in verschwommenen Erinnerungen vergraben. Sogar die weniger schönen Ereignisse meiner Vergangenheit wären mir gerade eine willkommene Ablenkung gewesen.

Aber so sehr ich es auch wollte ... so sehr ich mir wünschte, ich könnte noch ein Wochenende in seliger Unwissenheit leben, es ging nicht. Ich hatte das Manuskript schon gelesen.

Ich konnte die Gedanken an das Theaterstück nicht wegschieben und mich erst am Montag wieder damit beschäftigen. Ich konnte Nia nicht aus meinem Kopf verdrängen und ich fragte mich unwillkürlich, was er wohl gerade in diesem Moment tat, während ich hier mit meinem Verdruss kämpfte.

Wahrscheinlich war es ihm völlig egal, dass er auf einer Bühne stehen musste. Menschen wie er fühlten sich im Rampenlicht meistens wohl und was auch immer ihn am Theater stören mochte, würde sich zweifelsohne aus dem Weg räumen lassen.

Ich konnte mir vorstellen, dass Frau Lautner sich ein Bein dafür ausreissen würde, dass er Hendrick spielte und mit diesem Gedanken begrub ich auch meine letzte Hoffnung.

Der einzige Ausweg für mich bestand nämlich darin, dass ein anderer seine Rolle übernahm. Lars zum Beispiel oder aber Björn, der selten eine Gelegenheit ausliess den Kasper zu spielen.

Da es aber mit ziemlicher Sicherheit er gewesen war, der mich im Deutschunterricht nachgeäfft hatte, war die Vorstellung auch nicht besonders prickelnd und wenn ich ehrlich war, dann versuchte ich ohnehin gerade nur, nach einem rettenden Strohhalm zu greifen.

Niemand würde Nia die Rolle streitig machen.

Der Typ hatte viel zu viel ... Präsenz, um eine Nebenrolle zu spielen.

Missmutig rollte ich mich auf den Rücken und drückte mir das Kissen wieder aufs Gesicht, kurz davor, meinen Frust herauszuschreien.

Aber egal wie sehr ich meinem Ärger auch Luft machen wollte, ich hielt mich zurück.

Mein Vater sass nämlich noch immer in seinem Arbeitszimmer und vertiefte sich dort in seine Unterlagen. Die Tür war nur angelehnt und wenn ich angestrengt lauschte, konnte ich das Klacken seiner Tastatur hören und das gelegentliche Rascheln von Papier.

Er hatte nicht einmal richtig aufgeschaut, als ich irgendwann den Kopf zur Tür hineingestreckt hatte und ihn fragte, ob er etwas essen wolle. Aber daran hatte ich mich schon gewöhnt.

Es war jeden Freitagabend dasselbe. Irgendwann setzte er sich an seinen Computer und versank völlig in die Arbeit, die in der Kanzlei liegen geblieben war und so hatte ich ihm schliesslich eine Schale Müsli hingestellt und mich in mein Zimmer verzogen.

Nach so vielen Jahren, in denen ich ihn und meine Mutter bei der Arbeit beobachten konnte und versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn sie gerade an einem wichtigen Fall sassen, wusste ich ganz genau, wie zwecklos es war, sie zu unterbrechen.

Die Kanzlei schlief nicht.

Genauso wenig wie die Anwälte, die Partner werden wollten. Oder deren Assistenten.

Deshalb mass meine Mutter ihre Zeit auch in Minuten.

Und mein Vater in durchgearbeiteten Wochenenden.

Heute hingegen blieb ausnahmsweise auch ich lange wach und auch nachdem ich spät in der Nacht hörte, wie die Klospülung ging und seine Schlafzimmertür klappte, drehte ich mich noch immer von einer Seite auf die andere.

Als ich schliesslich wegdämmerte, war der Himmel schon wieder von blassroten Schlieren durchzogen.

***

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich damit, in meinem Zimmer auf und ab zu gehen.

Ich schritt von meinem Schreibtisch bis zur Tür und wieder zurück, starrte mit gerunzelter Stirn auf die markierten Sätze im Skript und liess das zerfledderte Heft dann wieder sinken, um mich durch den nächsten Abschnitt zu quälen.

„Ich w-w-werde sein wo d-d-du bist, Hen-hendrick. Mein Herz wird immer d-d-dir g-gehören", sagte ich und versuchte dabei nicht so steif zu klingen, aber wenn ich daran dachte, zu wem ich das sagen musste, schnürte sich mir die Kehle richtiggehend zu.

Die kleine Stimme in meinem Kopf machte die Sache auch nicht besser, denn sie tanzte über ihre imaginäre Bühne – ein Podest, das aussah, als hätte sie einem Hund die Hütte geklaut und die Bretter neu zusammengezimmert – und versuchte zweifelsohne mich aufzumuntern.

Im Moment vertrug ich ihren Schabernack jedoch nicht und als sie schliesslich an der Kante eine Pirouette vollführte und mit dem Handrücken an der Stirn schrie: "Oh, weh mir, weh mir...!", da hätte ich sie am liebsten erdrosselt. Aber zum Glück fiel sie über die Kante meiner Gedanken ins Nichts.

Ich schüttelte den Kopf und liess mich an meinem Schreibtisch nieder. Egal was ich tat und wie sauber ich die Worte auch auszusprechen versuchte, mein Stottern liess sich einfach nicht überwinden.

Kaum konnte ich ein Wort einigermassen flüssig aussprechen, kam ich an einer anderen Stelle ins Stocken und je länger ich nun auf den Text starrte, desto mehr Stolperfallen stachen mir ins Auge. Es war zum Verzweifeln.

Ich konnte nicht das kleinste bisschen Freude an dem Stück empfinden. Selbst wenn ich mir vorstellte, wie Natalie und Meret reagieren würden, wenn sie von der Besetzung erfuhren, die Gesichter gelb vor Neid.

Nicht, wenn ich selbst dabei rot sein würde, wie eine Tomate.

Einmal abgesehen von meiner Unfähigkeit einen simplen Text zu rezitieren, gab es da nämlich noch eine Sache, über die ich lieber nicht reden wollte.

Etwas, das mich beschäftigte und an mir nagte, mir aber niemals über die Lippen kommen würde. Zumindest nicht leichtfertig und schon gar nicht meinen Mitschülern gegenüber.

Einmal abgesehen davon, dass ich keine Freundinnen hatte und selbst an den besten Tagen keine Lust, mich mit jemandem zu unterhalten, hing diese Sache nämlich auch mit tiefen Gefühlen zusammen, die niemanden ausser mich etwas angingen.

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie mit einem Jungen befreundet gewesen. Geschweige denn mehr als das.

Während die meisten meiner Altersgenossen ihren ersten Kuss schon hinter sich hatten oder sogar in einer Beziehung waren, beschränkte sich meine Erfahrung auf...

...naja, nichts.

In der 4. Klasse hatte mir einmal ein Junge auf dem Pausenplatz gesagt, dass er mich mochte und mein Freund sein wollte. Noch heute konnte ich mich an jedes Detail dieses Nachmittages erinnern, wie ich dort im Schatten der alten Eiche stand und ihn mit grossen Augen anschaute.

Ich war so überrumpelt gewesen, dass ich nichts als ein unverständliches Stammeln herausgebracht hatte. Aber wie sich herausstellte, hatte er auch gar nichts anderes erwartet, denn schon Sekunden nach seinem Geständnis, brach der Typ in schallendes Gelächter aus und schlug sich auf die Oberschenkel.

Erst da bemerkte ich die anderen Jungs, die sich hinter dem Gebüsch verschanzt hatten.

Die Demütigung hatte sich wie glühend heisses Metall in meinen Magen ergossen und war dort erkaltet, so dass ich sie heute manchmal noch zu spüren glaubte. Meine Mitschüler hatten sich die Bäuche gehalten und ich war schliesslich davongerannt.

An diesem Tag hatte ich geweint.

Ich tat es leise, in der hintersten Ecke der Bibliothek, hinter einem Weltatlas und ich kam erst wieder hervor, als eine Lehrerin nach mir rief und fragte, was los sei.

Es war das letzte Mal, dass ich meinen Tränen in der Schule freien Lauf liess. Und das erste Mal, dass ich einen Lehrer anlog.

Seither hatte zum Glück keiner mehr einen Annährungsversuch unternommen, aber selbst wenn es jemand probiert hätte, wäre ich nicht darauf eingegangen. Ich wollte nicht erneut zum Ziel eines solchen Scherzes werden und deshalb hielt ich mich auch tunlichst vom anderen Geschlecht fern.

Ich war nicht Stolz darauf, in dieser Hinsicht ein solcher Hasenfuss zu sein, aber mein Selbstvertrauen hatte an jenem Tag einen heftigen Schlag abbekommen.

In meinem ganzen Leben hatte ich daher noch nicht einmal mit jemandem Händchen gehalten und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, schon einmal von einem Jungen umarmt worden zu sein. Ich fand es verstörend, dass ich meine erste Erfahrung nun ausgerechnet mit Nia machen musste.

Ich wollte diese Momente nicht einfach an irgendjemanden verschachern.

Und das auch noch als Teil eines Schauspiels, mit der Gewissheit, dass mein Gegenüber mich hasste. Nicht, dass ich mir gewünscht hätte, dass es anders gewesen wäre ... also, ausserhalb der Schule und mit jemandem, der mich mochte.

Zumindest nicht einfach so.

Ich seufzte, schnappte mir einen Stift und schlug das Manuskript ein letztes Mal auf. Mein Blick landete auf der Regieanweisung und ich presste die Lippen zusammen. Dann drückte ich das Heft flach und strich die blöde Anweisung einfach durch.

Ein wenig kindisch kam ich mir schon dabei vor, aber ich musste trotzdem grinsen.

Besonders, als ich kurzerhand meine eigene Version niederschrieb und am Ende sass ich kichernd an meinem Schreibtisch und mein Herz fühlte sich um einiges leichter an.

hält Hendrick jederzeit mit einem spitzen Stock auf Abstand
Lisbeth; l̶i̶e̶g̶t̶ ̶w̶ä̶h̶r̶e̶n̶d̶ ̶d̶e̶s̶ ̶g̶a̶n̶z̶e̶n̶ ̶G̶e̶s̶p̶r̶ä̶c̶h̶s̶ ̶i̶n̶ ̶H̶e̶n̶d̶r̶i̶c̶k̶s̶ ̶A̶r̶m̶e̶n̶

Natürlich war mir klar, dass ich nicht so leicht davonkommen würde, aber das Üben fiel mir danach leichter und als ich mich schliesslich entspannte, da begann ich darüber nachzudenken, wie ich das Beste aus meiner Situation machen konnte.

Grundsätzlich gab es da natürlich schon eine Idee, aber sie gefiel mir nicht. Sie war zwar logisch und auch überaus vernünftig, aber ich ging trotzdem zuerst jede andere Möglichkeit durch, bevor ich mich schliesslich geschlagen gab und den Tatsachen ins Auge blickte.

Wenn ich Nia nicht loswerden konnte und auch das Theaterstück ein unausweichlicher Teil der kommenden Monate sein sollte, dann gab es nur eine Möglichkeit, diese Zeit einigermassen unbeschadet zu überstehen.

Ich musste Nia einen Schritt entgegenkommen. Ihm gewissermassen die Hand zur Freundschaft reichen. Da er diese aber mit Sicherheit nicht annehmen wollte, ja, wenn man es genau nahm, bereits ausgeschlagen hatte, gab es nur noch einen Weg, ihn für mich zu gewinnen.

Ich musste mich bei ihm anbiedern.

Alleine der Gedanke daran, löste Missmut in mir aus und ich liess das Kissen, das ich noch immer in der Hand hielt, langsam zur Seite rutschen, bis es vom Bett fiel.

Nia schien die Aufmerksamkeit der Mädchen zu geniessen. Nicht nur die der Mädchen aus unserer Klasse, sondern auch aus den anderen Stufen und wenn mich nicht alles täuschte, dann würde es ihm gefallen, egal wer sich ihm an den Hals warf.

Ich würde meinen Stolz hinunterschlucken müssen und das ging mir bereits jetzt gewaltig gegen den Strich, aber mir blieb nichts anderes übrig. Hatte es nicht ohnehin schon am ersten Tag so gewirkt, ich würde ihn mögen? Bevor er das mit dem Stottern herausgefunden hatte, wirkte er jedenfalls so, als ob er mich ebenfalls hätte leiden können.

Vielleicht konnte ich sein Ego ja zu meinem Vorteil nutzen.

Und damit die weisse Flagge hissen.

Ich stiess die Luft aus und schloss ergeben die Augen.

Blieb nur zu hoffen, dass ich mich nicht am Ende darin eingewickelt in einem Graben wiederfinden würde.

______________________

xoxo
Eure Kuralie

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