Lavýrinthos

By Roiben

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"Ängstigt euch nicht vor dem Tod, denn seine Bitterkeit liegt in der Furcht vor ihm." - Sokrates Viellei... More

Vorwort
Prólogos
1.1 Moíra - Schicksal
1.2 Moíra - Schicksal
2.1 Tragoúdi - Gesang
2.2 Tragoúdi - Gesang
3.1 Dóry - Speer
3.2 Dóry - Speer
4.1 Neró - Wasser
4.2 Neró - Wasser
5.1 Psalída - Ranke
5.2 Psalída - Ranke
6.1 Óneiro - Traum
6.2 Óneiro - Traum
7.1 Ámmos - Sand
7.2 Ámmos - Sand
8.1 Aínigma - Enigma
8.2 Aínigma - Enigma
9.1 Aetós - Adler
9.2 Aetós - Adler
10.1 Trélla - Wahnsinn
10.2 Trélla - Wahnsinn
11.1 Thermótita - Hitze
11.2 Thermótita - Hitze
12.1 Skotádi - Dunkelheit
12.2 Skotádi - Dunkelheit
13.1 Fóvos - Angst
13.2 Fóvos - Angst
14.1 Apóleia - Verlust
14. 2 Apóleia - Verlust
15.1 Diamáchi - Streit
15.2 Diamáchi - Streit
16.1 Skiá - Schatten
16.2 Skiá - Schatten
17.1 Ékstasi - Trance
17.2 Ékstasi - Trance
18.1 Kynigós - Jäger
18.2 - Kynigós - Jäger
19.1 Ypéfthynos - Schuld
19.2 Ypéftyhos - Schuld
20.1 Archí - Anfang
20.2 Archí - Anfang
20.3 Archí - Anfang
21.1 Stagónes - Tropfen
21.2 Stagónes - Tropfen
22.1 Dexiá - Recht
22.2 Dexiá - Recht
23.1 Mystikó - Geheimnis
23.2 Mystikó - Geheimnis
24.1 Ptósi - Sturz
24.2 Ptósi - Sturz
25.1 Ktíni - Bestien
25.2 Ktíni - Bestien
26.1 Pónos - Schmerz
27.1 Elpída - Hoffnung
27.2 Elpída - Hoffnung
28.1 Asfáleia - Sicherheit
28.2 Asfáleia - Sicherheit
29. Omorfiá - Schönheit
30. Epílogos
Danksagung & Nachwort

26.2 Pónos - Schmerz

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By Roiben

Ohne, dass Dias seine Schritte gehört hatte, stand Sotiris plötzlich hinter ihm, eine Hand sanft in seinen Nacken gelegt, die andere an seiner Hüfte. Dias zuckte unwillkürlich zusammen, als der andere Junge ihn aus seinen Gedanken riss und herumdrehte. Ihre Blicke verhakten sich ineinander und er erschauderte.

„Ich kann es mir nicht erlauben, zu warten", murmelte Sotiris und sein heißer Atem streifte Dias' Wange. „Wir könnten jeden Moment sterben und ich will nicht – ich will nicht noch eine Chance ungenutzt lassen. Ich muss nicht nervös sein, wenn du es nicht bist."

Dias öffnete den Mund, aber kein Laut entkam ihm. Jetzt nahm die Erregung ihn ein; seine Hände zitterten und schwitzten, sein Herz fing an zu rasen.

„Darf ich?", fragte Sotiris vorsichtig. Er biss sich auf die Unterlippe und seine Mundwinkel zuckten. Seine Augen glänzten im sanften Schein des Gangs, ein schwaches Glitzern unterhalb seiner Pupillen. Das lautlose Bitten in seinem Blick war klar verständlich: Sag ja, sag ja, sag ja.

Dias schluckte. Sein Körper fühlte sich schwerelos an, als er Sotiris anschaute. Die Wangen des anderen Jungen waren mit hellen, roten Tupfern gespickt. Seine Finger strichen sanft aber bestimmend über Dias' Nacken, malten kleine Kreise auf seine Haut. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt.

„Sag etwas", forderte Sotiris ihn auf, die Stimme nur ein Flüstern. „Irgendwas."

„Tu es", erwiderte Dias hauchzart.

Sotiris' Lippen waren spröde und trocken, als er sie auf Dias' drückte, aber das interessierte ihn nicht. Er schloss die Augen und wünschte sich, den Moment in ewiges Eis einschließen zu können, damit er nie vergehen würde. Irgendwo in seinem Magen explodierten die Schmetterlinge, sein Kopf sprühte über vor Lichtern und Fackeln und seine Knie gaben fast nach. Es war nur ein kurzer und zarter Kuss.

Dias wollte sofort mehr. Er schlang die Hände um Sotiris' Nacken und zog den Jungen etwas tiefer zu sich. Dieser japste überrascht auf, das Geräusch ging in ein freudiges Lachen unter und dann lagen ihre Lippen wieder aufeinander. Hungriger, verlangender, schmeckender. Süßer.

Sie stolperten zurück, Sotiris' Hände in seinem Nacken und an seiner Hüfte und auf einmal presste kaltes Metall gegen Dias' Rücken. Die Kälte des Golds verwandelte sich schneller in brennende Hitze, als Dias überhaupt realisiert hatte, dass sie bis zum Tor zurückgestolpert waren.

„Skatá!", rief der Junge mit schmerzerfülltem Gesicht aus. Der Gestank von versengtem Stoff drang ihm an die Nase. Tränen traten ihm in die Augen.

„Was ist?", fragte Sotiris besorgt. „Hab ich dich gebissen? Tut mir leid, ich wollte nicht –"

„Nein", zischte Dias und schob den anderen Jungen mit sich vom Tor weg. „Du warst gut, aber das Tor", er stockte und tastete mit seinen Fingern vorsichtig nach seinem Rücken. Es fühlte sich nicht schmerzhaft an, zum Glück. Er war schnell genug von der plötzlichen Hitze weggesprungen, um nicht verbrannt zu werden. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er trotz der Warnungen einer Mutter an den heißen Herd gefasst hatte.

„Ich war gut?" Sotiris' selbstgefälliges Grinsen hatte sich in seine Stimme geschlichen, konnte die Sorge aber nicht ganz übertönen.

Dias verdrehte die Augen und sah auf das goldene Tor. Es sah unverändert aus.

„Was ist passiert?"

„Ich bin nicht sicher", murmelte Dias. „Als du mich gegen das Tor gedrückt hast, ist es auf einmal wahnsinnig heiß geworden." Er stieß einen kurzen Seufzer aus. „Was auch immer das jetzt bedeuten soll."

Sotiris trat dicht neben ihn. Hitze ging von seinem Körper aus, wesentlich angenehmer als das Gefühl von schmelzendem Metall auf seiner Haut. „Es muss ein Hinweis sein", sagte er leise.

„Oder eine Warnung", erwiderte Dias.

„Schon wieder so pessimistisch." Einen Moment lang schmunzelte der andere Junge, dann wurde sein Blick wieder ernst. „Wie passen all diese Sachen zusammen?"

„Ich weiß es nicht. Vaia könnte es bestimmt rausfinden", sagte Dias.

„Sie hat es auch versucht", erinnerte Sotiris ihn. „Deswegen ist sie gegangen." Seine Finger krallten sich in den Stoff von Dias' Ärmel.

„Sie kommt wieder." Dias' Mund war trocken und er versuchte den aufkommenden Kloß herunterzuschlucken. „Das hat sie versprochen."

Sotiris sah aus, als würde er liebend gerne etwas darauf erwidern, welches jedwede Hoffnung auf Vaias Wiederkommen zerstören würde, aber er presste die Lippen aufeinander und blieb ruhig. In der Stille des schmalen Raums war ihr Atem das einzige Geräusch, welches bezeichnete, dass sie noch am Leben waren. Ein schwacher Trost, verglichen mit dem Geruch von versengtem Stoff und dem erdrückenden Gefühl der Leere, die in ihrer Mitte herrschte, wo Elara stehen sollte.

Es war ein unsinniges Unterfangen, fand Dias, weiterhin das Tor zu studieren, wenn er sich die gesamte Abbildung bereits gemerkt hatte. Seufzend ließ der Junge von dem schimmerndem Gold ab und setzte sich in beträchtlicher Entfernung wieder auf den Boden. Er zog die Knie eng an den Körper und bettete das Kinn darauf ab. Sein Blick fiel auf Sotiris' Rücken, der weiterhin zum Tor gewandt stand. In seinem Kopf schimmerten die Bilder der Amphore und des Schwerts hervor, aber er konnte noch immer keine Verbindung zwischen diesen Dingen herstellen.

Wenn er dann auch noch den Apfel, die beiden Figuren und die dutzenden Blüten sowie die Pfützen dazu rechnete, dann war er komplett aufgeschmissen. Beim Schwert musste Dias sofort an Ares, den Gott des Krieges denken, aber keiner der beiden Figuren unterhalb des vereinten Zweigs sahen so aus, wie die Gottheit dargestellt wurde. Sie erinnerten vage an Frauen, aber mehr konnte der Junge nicht erkennen, um sie einem Olympier zuzuteilen.

Stoff raschelte, als Sotiris sich neben ihm niederließ. Er seufzte und seine Stirn lag in tiefen Falten.

„Was ist?", fragte Dias leise.

Statt sofort zu antworten, schloss der Junge seine Augen und stieß die Luft aus. „Seit wir hier sind, habe ich diesen einen Gedanken", sagte er schließlich langsam. „Das Labyrinth wurde vor unserer Geburt gebaut und niemand hätte wissen können, dass wir jemals hier landen würden. Wir müssen kämpfen, um zu überleben und nur vielleicht finden wir einen Ausweg. Aber ist ein Kampf wirklich mehr als nur ein Kampf, wenn das Schicksal schon lange entschieden wurde?"

Ein Schauer rannte über Dias' Rücken, aber er zwang sich ruhig zu bleiben. „Selbst, wenn es Schicksal war, dass wir hierher kamen", erwiderte er klar, „dann war es auch Schicksal, dass wir uns kennen gelernt haben." Ein schwaches Lächeln entflammte auf seinen Lippen. „Schicksal muss nichts Schlimmes sein, oder?"

„Nein", murmelte Sotiris. Er rieb sich die Schläfe. „Aber bezwingen kann man es auch nicht. Wenn es vorhergesehen ist, dass wir hier sterben – dann können wir noch so viele Kämpfe gewinnen, letztlich nützt es uns nichts."

Dias rutschte etwas näher an den anderen Jungen heran und befreite seine linke Hand, mit der Sotiris sich selbst das Handgelenk gehalten hatte, damit er mit seinen Fingern in seine Handinnenfläche drücken konnte. „Das ist deine Lebenslinie", sagte er deutlich. „Siehst du, wie lang sie ist? Guck hin." Mit der anderen Hand drückte er vorsichtig gegen Sotiris' Kinn, als dieser weiterhin die Augen geschlossen hielt.

Zögerlich öffnete er sie und blickte auf Dias' Finger. „Elaras war sicherlich genauso lang." Seine Stimme war brüchig. „Die Moiren haben trotzdem ihren Lebensfaden durchtrennt."

„Die Moiren hatten nichts damit zu tun", erwiderte Dias. „Das war einzig und allein Erebos. Er hat sie getötet. Du hast ihn gesehen und gehört! Guck mich an."

Widerwillig blickte Sotiris auf, die Augenbrauen besorgt zusammen gezogen, das Weiß seiner Augen gerötet. „Erebos ist auch nicht mächtiger als die Moiren", flüsterte er.

Dias sog die Luft ein. „Guck mich an", wiederholte er leise, wenn auch überflüssig, denn Sotiris' Blick war mit seinem verankert. „Kein Schicksal der Welt kann das hier kontrollieren." Dias beugte sich vor und hauchte die Erinnerung an die Bedeutung auf die Lippen seines Gegenübers. Seine Augen schlossen sich von selbst, als er Sotiris' Finger an seinem Nacken spürte. „Ich kämpfe, wenn du kämpfst", versprach er sacht. Sein Atem strich über Sotiris' Lippen. Er spürte, wie der andere erzitterte.

Statt einer Antwort zog Sotiris ihn an sich, als wäre er das letzte Echte auf dieser Welt, woran er sich klammern konnte. Seine Finger, die sich hart in Dias' Rücken krallten, bebten vor Anstrengung oder Angst oder Aufregung, aber es war egal. Sotiris' Haare kitzelten ihn an Schläfe und Ohr, seine Lippen drückten gegen seine Schulter. Das war Antwort genug.

Ihr Atem kombinierte sich zu einem beruhigenden, gleichmäßigen Geräusch, der den schmalen Raum erfüllte und ausreichend war, damit Dias die Augen schloss. Nur für einen Moment. Es war ungewiss, wie viel Zeit vergangen war, als er die Augen das nächste Mal öffnete, aber körniger Schlaf kratzte in seinen Augenwinkeln und sein linkes Bein, welches ungemütlich unter Sotiris' Körper lag, war eingeschlafen. Die kurzzeitige Entspannung wich einer aufflammenden Panik, als er den Kopf pfeilschnell anhob.

Das, was ihn geweckt hatte, erklang wieder. Schritte. Hastige, schnelle Schritte, etwas stolpernd. Dann ein leises Rufen in der Ferne.

Seine Hand schnellte zur Seite und griff nach dem ersten, was er fand: Sotiris' Unterarm. Der andere Junge schreckte ebenfalls auf.

Er murmelte etwas unverständliches, aber Dias legte einen Finger an seine Lippen und er verstummte sofort. Seine Augen wanderten zum Wandspalt neben ihnen.

„Dias!", ertönte es in der Ferne und für einen paradoxen Moment hatte der Junge die Hoffnung, dass es Elara war, die es irgendwie aus Erebos' Fängen geschafft hatte und nun verstört und mit verweinten Augen nach ihnen suchte. „Sotiris!"

„Vaia?" Es war Sotiris' leise gemurmelte Frage, die Dias auf den richtigen Weg brachte. „Vaia! Wir sind noch hier!", rief er aus und fügte dann, nur für Dias hörbar, hinzu: „Den Göttern sei Dank."

Die Jungen sprangen auf und liefen auf den Wandspalt zu, dessen schmale Öffnung mit dem Echo hastiger Schritte und schnellem Atem gefüllt war. Dias zog sicherheitshalber sein Schwert hervor und fragte: „Geht es dir gut, Vaia?"

„Ich denke ja", erwiderte die Stimme des Mädchens in der Nähe. Sie stieß einen tiefen, erschöpften Seufzer aus.

Einen Moment später erschien Vaias Kopf in der schmalen Stelle der Wand, bei welcher der Teil der Decke niedergekracht war. Sie sah müde, schmutzig und verschrammt aus, aber auf den ersten Blick schien ihr nichts zu fehlen. Unter den Augen trug sie dunkle Ringe zur Schau, aber ihr Blick war mit dem altbekannten Leuchten erfüllt. Sie sah noch immer so aus, wie sie sie vor wer weiß wie vielen Stunden verlassen hate.

Ihr Schwert fehlte, sowie der Proviantbeutel. Bevor Dias allerdings den Mund öffnen konnte, um zu fragen, sprudelten die Worte ihr bereits aus dem Mund, wie das Wasser aus dem Brunnen in König Minos' Garten, an dem sie ganz am Anfang vorbeigegangen waren.

„Es war eine dumme Idee", sagte sie und breitete die Arme aus, damit sie die beiden Jungen gleichzeitig umarmen konnte. „Ich weiß, es tut mir leid." Vaia ließ von ihnen ab, Licht in den Augen. „Aber es hat sich gelohnt, glaube ich! Ich bin in diesen dunklen Gang hinein und ich habe wirklich nichts gesehen. Es war pechschwarz, dunkler als jede Nacht. Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin, aber irgendwann habe ich dann eine Stimme gehört, ein Flüstern."

Sotiris machte ein Geräusch wie ein getretener Hund. „Lass mich raten. Du bist ihr gefolgt?"

Vaia wurde rot um die Wangen herum. „Natürlich", erwiderte sie stur. „Alles war dunkel und ich hatte jeglichen Sinn der Orientierung bereits verloren. Ich musste ihr folgen."

„Sie hätte dich auch in eine Falle locken können", murmelte der Junge und seufzte.

„Hat sie aber nicht", beharrte Vaia. „Ich weiß nicht, wer das war, aber irgendwann habe ich es in einen noch kleineren Raum als den hier geschafft. Da gab es gar nichts. Lediglich Stein ringsum."

„Was für ein Erfolg", brummte Sotiris.

Dias pikste ihm in die Seite und zischte ihn an.

„Jedenfalls dachte ich das, aber nachdem ich mich ganz genau umgeguckt habe, habe ich ein Muster in den Steinen erkannt, was kaum zu sehen war. An einigen Stellen war der Stein etwas dunkler und zuerst hielt ich es einfach nur für ein bisschen Schmutz oder komischen Schattenwurf, aber dann –"

„Vaia", unterbrach Sotiris sie grob. „Bitte, erspar uns die Einzelheiten fürs Erste, ja? Hast du etwas entdeckt, wofür es sich gelohnt hat, dein Leben zu riskieren?"

Vaia öffnete den Mund, wahrscheinlich, um zu einem Streitargument anzusetzen, schloss ihn aber eine Sekunde später wieder, schnaufte laut und sagte dann ruhiger als zuvor: „Ja, habe ich. Auf der Wand stand ganz sanft Algea geschrieben."

„Algea?", fragte Dias irritiert. „Was soll das sein?"

Das Mädchen biss sich auf die Lippe. „Algea ist eine Untergottheit", erklärte sie langsam. „Eine Tochter der Eris. Sie ist auch als die Personifikation des Schmerzes bekannt."

Dias wurde schwer und bleich. „Hat sie –", sagte er leise und deutete auf die Schrammen an ihrem Körper.

„Nein", erwiderte sie kopfschüttelnd. „Ich glaube nicht. Ich habe sie nicht gesehen oder ähnliches, aber ich glaube, es war ihre Stimme, die mich durch die Finsternis geführt hat, denn als ich den Raum noch zwei Mal durchsucht hatte, bin ich zurückgegangen und kaum, dass ich im Schatten verschwunden war, hat sie wieder zu mir gesprochen."

„Wo kommen die dann her?", wollte Sotiris wissen und deutete mit einem Kopfnicken auf Vaias Arm.

Sie tat ihr Bestes, die oberflächlichen Wunden mit der Hand zu bedecken, aber dafür waren es zu viele. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich", sie holte tief Luft. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, was danach passiert ist. Ich bin verschrammt und verschmutzt aus der Dunkelheit gestolpert und mein Schwert war verschwunden. Ich – es tut mir leid."

„Warum tut es dir leid?", fragte Dias vorsichtig.

Vaia schüttelte den Kopf. „Weil es eine dumme Idee war, allein zu gehen."

„Schon gut", erwiderte der andere Junge. Er setzte ein schmales Lächeln auf. „Immerhin bist du wieder da."

„Ja", seufzte sie erschöpft. „Bin ich. Was habt ihr gemacht? Habt ihr etwas rausgefunden?"

Dias spürte, wie sein Gesicht heiß wurde.

„Lediglich eins", sprang Sotiris ein, dessen Wangen zwar ebenfalls einen tiefen Rotton angenommen hatten, der aber seine Stimme gerade halten konnte. „Bei festem Kontakt sondert das Tor Hitze ab."

„Hitze?", wiederholte Vaia überrascht. Ihre Augen huschten zum Gold auf der anderen Seite des Raums. „Interessant. Wie seid ihr darauf gekommen?"

„Ah", meinte Dias und räusperte sich. „Ich bin gestolpert."

Das Mädchen zuckte mit den Augenbrauen in die Höhe und wandte ihm den Blick zu.

Die Erinnerung an Sotiris' Lippen auf seinen und Fingern an seinem Nacken klebte an ihm wie süßer Sirup. Hitze wallte in ihm auf, aber es war keine Scham, die er empfand. Es war vielmehr die Empfindung von Erfolg und Vertrauen, welches sich in ihm breit machte. Erneut sah er es als sein Geheimnis an, als einen Moment der Intimität, den er lediglich mit einem teilte.

Statt noch etwas zu sagen, drückte Vaia sich an den beiden vor und ging auf das Tor zu. Nach einem kurzen Blickkontakt der Jungen, folgten sie ihr, allerdings hielt Vaia nicht. Sie stellte sich so dicht vor das Tor, wie möglich, ohne es zu berühren, dann, bevor Dias oder Sotiris hätten eingreifen können, holte sie aus. Ihre linke Faust ging mit einem lauten Echo auf das Gold nieder.

Ihr schmerzerfüllter Schrei mischte sich unter das geängstigte und entsetzte Ausrufen von Dias. „Was soll das!?"

Sotiris stürmte vor und packte Vaia an der Hüfte, um sie zurückzuziehen, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als Lichtflecken durch den Raum zu tanzen begannen.

„Dachte ich mir", sagte Vaia leise mit einem Wimmern in der Stimme, als sie ihre Faust betrachtete. Die Haut rundum ihre Knöchel war stechend rot und aufgeplatzt, allerdings blutete sie nicht.

Der Apfel in der Mitte des Tor war in zwei Hälften gespalten, fast so, als hätte jemand einen präzisen Schwertstreich geführt. Das Gold hatte sich zur Seite geschoben.

„Es öffnet sich", meinte Vaia mit einem belustigten Schnauben, „indem man dafür bezahlt."

„Mit Schmerz", fügte Dias hinzu, der verstand, was sie getan hatte.

„Richtig. Es war sicherlich kein Zufall, dass beide Wege in einer vermeintlichen Sackgasse endeten." Das Mädchen schüttelte ihre Faust, als würde sie damit den Schmerz vertreiben können. „Algea war der Hinweis, den man finden musste, um herauszufinden, wie man weiterkommt. Das muss sie sein." Vaia deutete mit dem rechten Zeigefinge auf die hochgewachsene Figur direkt unter dem Apfel. „Daneben ist Eris."

„Aber was, wenn wir nicht gewusst hätten, wer Algea ist?", fragte er langsam. „Oder wenn wir den anderen Gang nicht gewählt hätten? Wir hätten hier auch verschüttet sein können."

Ein schmales Lächeln breitete sich auf Vaias Lippen aus und sie schüttelte Sotiris' Hand von ihrer Hüfte, der noch immer wie erstarrt da stand. „Dann hätten wir es nicht lösen können. Zumindest nicht absichtlich. Vielleicht wäre der Frust irgendwann so groß geworden, dass einer von uns so oder so gegen das Gold geschlagen hätte, wir werden es nicht erfahren. Ich weiß nur, dass wir jetzt die Möglichkeit haben, das Tor zu öffnen."

Vaia blickte einen Moment lang auf ihren verschrammten Arm.

„Nicht", sagte Sotiris ruhig. Er griff mit langsamen Bewegungen nach ihr und zog Vaia zurück. „Lass mich." Er schluckte. „Du hast genug getan."

Dias wollte bereits widersprechen, doch ihm fiel Sotiris' Blick ein, als er gesagt hatte, dass er nicht wollte, dass noch jemand starb. Er biss sich heftig auf die Lippen, als er sah wie sein – wie sein Freund? Kamerad? – Vaia zurückschob und selbst den linken Arm anhob.

„Das ist für Elara", flüsterte Sotiris beinahe lautlos, ehe er seinen ganzen Unterarm mit einem Schwung gegen das Gold presste. „Skatá!", fügte er lauter hinzu und zog sich zurück. Sotiris' Arm zitterte vor Anstrengung und Schmerz, aber er hatte einen grimmigen Ausdruck in den Augen, als er betrachtete, wie das Tor sich etwas weiter aufschob.

Dias schritt ein, als der Junge seinen anderen Arm ebenfalls heben wollte. „Nein", sagte er schnell und packte Sotiris' Handgelenk. „Du kannst dir nicht beide Arme verletzen."

„Musst du auch nicht mehr", sagte Vaia und drängte sich neben sie. „Guck doch hin. Das reicht." Sie deutete mit dem Finger auf die Mitte des Tors. „Wir können uns hindurchschieben."

Tatsächlich sah es so aus, als könnten sie sich mit etwas Anstrengung durch das halbwegs geöffnete Tor drücken, aber Dias, der nicht noch so eine Situation wie mit dem Wandspalt erleben wollte, ließ seine linke Faust ebenfalls auf das Gold krachen.

„Lass das!", rief Sotiris aus, doch da hatte Dias seine Hand bereits wieder zurückgezogen.

Der Schmerz brannte sich durch seinen Körper. Er biss sich fest auf die Zähne, während er zufrieden feststellte, wie das Tor weiter auf ging. „So ist es nur fair", murmelte er leise. „Du musst mich nicht beschützen. Ich kämpfe auch."

Sotiris schluckte. Die Finger seiner rechten Hand fanden einen Weg, um über Dias' verletzte Haut zu streichen, zart und sacht, kaum eine wirkliche Berührung. „Ich weiß, erwiderte der Junge. „Trotzdem war das dumm."

„Dann bin ich dumm", antwortete Dias und lächelte schmal.

„Wir sind alle dumm", sagte Vaia. Sie schüttelte den Kopf und betrachtete den Spalt im Tor. „Aber wenigstens können wir weitergehen."

Dias löste Sotiris' Finger von seiner Hand und wandte sich um. Anspannung ließ die Härchen an seinem Nacken gen Himmel stehen. Der Spalt im Tor versprach nichts als Dunkelheit, aber er weigerte sich zu glauben, dass alles für nichts gewesen war. Sie hatten Elara verloren. Beinahe hätten sie Vaia verloren. Er würde nicht zulassen, dass noch jemand verschwand. Wie von allein hakten sich seine Finger in Sotiris' Hemdstoff ein. Er holte tief Luft und versuchte die Energie in der Luft zu ignorieren, die wie bei einem Gewitter knisterte.

„Los geht's", murmelte er. Dunkelheit verschlang ihn.

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