Im freien Fall

By blue-mosaic

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*Abgeschlossen* „Im Spiegel schaute ich meinen Hals genau an. Kaum zu glauben, dass sich unter diesem hautfar... More

Inhalt - Im Freien Fall
Vorwort
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
NOMINIERUNG
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechsundfünfzig
Siebenundfünfzig
Achtundfünfzig
Epilog
Danksagung
Nachwort
COVER

Einundvierzig

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By blue-mosaic

Zolas Haus

war zwar keine Villa und demnach kein so großes Baukonstrukt wie das der McCains, aber so modern und stilvoll eingerichtet, dass ich fast schon das Gefühl hatte, nichts berühren zu dürfen, um nichts versehentlich zu beschmutzen oder sogar kaputtzumachen. In den Fluren und im Wohnzimmer hingen reihenweise abstrakte und realistische Gemälde, mal zeigten sie Natur, mal Menschen oder Tiere, ganz selten sogar architektonische Gebilde.

Das Wohnzimmer war über das Esszimmer mit der Küche offen zugänglich. Die eine Wand der Küche wies allerdings nur bodenlange Fenster auf und bot somit einen sonnigen Blick auf den peniblen Garten, die Küche selbst bestand aus einer riesigen Kücheninsel, an deren Ecke sogar eine kleine Sitznische eingebaut war. Im Esszimmer setzte ein langer Esstisch mit einer Baumkante als Tischplatte einen angenehmen Akzent. Über eine kleine Treppe konnte man dann die weiße Couch in U-Form erreichen, die mir ein wenig hart und... unbenutzt erschien. Der Plasmafernseher davor war sicherlich größer als die Windschutzscheibe von Davids SUV.

Fotos oder andere persönliche Gegenstände entdeckte ich kaum welche, außer auf der weißen Kommode im Esszimmer, auf der ein Hochzeitsfoto von Zolas Eltern und ein paar Familienfotos mit den Verwandten und sogar Zolas Abschlussfoto standen. Auf dem Esstisch standen drei Vasen mit grünen Pflanzen und auf dem Couchtisch stand eine leere Vase.

Ansonsten war das einzig Bunte in den Räumen der Obstkorb und die Kräuterpöttchen auf der Kücheninsel.

„Die Filme werden wir auf dem großen Fernseher schauen, ansonsten bleiben wir am besten in meinem Zimmer", schlug Zola vor, während sie Gläser und Knabberzeug aus den Küchenregalen zusammensuchte. Mit drei Gläsern in der Hand machte sie eine weitläufige Geste. „Ansonsten finde ich es hier unten sehr ungemütlich. Aber das ist halt der Stil meiner Eltern. Wahrscheinlich würde es hier unten auch etwas heimeliger aussehen, wenn sie öfters zu Hause wären."

„Ich wollte es aus Höflichkeit nicht ansprechen", stimmte ihr Kenzie zu und rieb sich unwohl den Oberarm, als wäre ihr kalt. Kein Wunder, die kühle Atmosphäre hier unten war nicht gerade einladend.

Nachdem Zola uns Chips, Schokolade und diverse Getränke in die Hand gedrückt hatte, führte sie uns zurück in den Flur, von wo aus wir die dunkle Betontreppe hinauf bis in das Dachgeschoss nahmen – Zolas Reich. Hier befand sich nicht nur ein kleines, aber geräumiges Badezimmer, sondern auch ihr großes Zimmer, welches ein totaler Kontrast zu der eigentlichen Innenarchitektur des Hauses bildete. Die Wände waren voll mit den verschiedensten Zeichnungen, auf dem Schreibtisch herrschte ein künstlerisches Chaos aus Pinseln, Papieren und Stiften und direkt neben der Treppe diente ein bereits überquellendes Bücherregal als Wand.

Uns zuliebe hätte Zola aufgeräumt, erklärte sie uns lachend und entschuldigte sich gleich für das Chaos auf dem Schreibtisch. Auch wenn dieses Zimmer normalerweise das Paradebeispiel für Unordnung war, fühlte ich mich seltsamerweise sofort wohl hier. Vielleicht lag das ganz einfach daran, dass mir die Sterilität in den unteren Geschossen zuwider war. Das Bedürfnis, erstmal Ordnung im Bücherregal und auf dem Schreibtisch zu schaffen war zwar deutlich vorhanden, aber ich wollte Zolas persönliche Note nicht niederwalzen mit meinem Zwang, das kam mir in diesem Moment einfach nur unangebracht vor, wenn nicht sogar falsch. Das Chaos und die Stilvarietät in diesem Zimmer interpretierte ich nicht nur als Zolas Ausdruck ihrer Persönlichkeit, sondern auch als rebellischen Akt gegen die Penibilität ihrer Eltern – vielleicht sogar auch gegen ihre Eltern selbst. Deswegen sagte und tat ich nichts in der Richtung und setzte mich entspannt vor dem Bücherregal in den kleinen, grünen Ohrensessel, in dem Zola wohl immer gerne las.

„Wenigstens einer in diesem Haus kennt sich mit Wohnlichkeit aus", kommentierte Kenzie und ließ sich erleichtert auf Zolas großem Bett, das an der Giebelwand stand, zwischen bunten Kissen und einer riesigen Kuscheldecke nieder. Über dem Bett hing sogar ein wunderschöner Traumfänger in Form einer Eule.

„Hast du den Traumfänger selbst gemacht?", fragte ich und Zola lachte.

„Ich wünschte, ich könnte das bejahen, aber das wäre gelogen", antwortete sie und legte den Kopf schief. „Nein, ich habe ihn vor drei Jahren von meiner Cousine geschenkt bekommen, als sie so ihre Phase hatte, in der sie eine Begeisterung für Traumfänger entwickelte und ausübte. Sie versuchte sich an Traumfängern mit einem Netz oder sogar mit welchen bis zu fünf, in allen Farben und letztendlich probierte sie auch welche in bestimmten Motiven aus. Die Eule war ihr dritter Versuch und weil ich sie so schön fand, schenkte sie mir die zum Geburtstag."

„Kreativität liegt wohl in der Familie", murmelte Kenzie fasziniert und betrachtete die ganzen Aquarell und Blei- und Buntstiftzeichnungen an den Wänden.

„Naja, das betrifft eigentlich nur meine Cousine und mich - die Stärken der anderen liegt definitiv mehr in der linken Gehirnhälfte."

„Du solltest Kunst studieren."

„Danke, aber nein." Zola verzog das Gesicht. „Dafür wäre ich nicht ambitioniert genug. Kunst ist nur ein Hobby, das ich zudem nur selten ausübe und zwar nur dann, wenn ich die Inspiration und Motivation dazu habe, und leider treffe ich nur selten auf beides gleichzeitig. Für ein komplettes Studium hätte ich keine Nerven."

Während sie ein wenig Platz auf dem Schreibtisch für die Knabbersachen und die Gläser machte, ließ ich meinen Blick wie Kenzie neugierig über Zolas kreative Fertigkeiten schweifen, die wahllos an die Wände geklebt worden waren. Es waren Zeichnung aus verschiedenen Materialien und verschiedenen Motiven, ob Landschaftsbilder aus Tusche, Porträts in Blei- oder Buntstift oder Tiere aus Aquarell – jedes Thema wurde mindestens einmal in mehreren Stilen gemalt und gezeichnet und skizziert. Mal realistisch, mal abstrakt und verzerrt und zwischendurch schien sie sich auch an Comics versucht zu haben – vor allem an Mangas.

Mir fiel auf, dass die Porträts meist die gleichen Personen zeigten, zum Beispiel konnte ich oft Clay und ein mir unbekanntes, aber hübsches Mädchen erkennen. Einer Buntstiftzeichnung konnte ich entnehmen, dass dieses lange, dunkelblonde Haare hatten, die ihre mit Sommersprossen verzierten, zarten Wangen und eine kleine Stupsnase umspielten, und ihre schilfgrünen Augen strahlten immerzu wie die Sonne selbst. Gerade sie hatte Zola in verschiedenen Größen, Farben, Stilen und Materialien gezeichnet, als wolle sie jede Facette der Person einzeln darstellen – und doch war ihr das nicht genug.

Mein Blick glitt weiter, bewunderte ein Bild nach dem anderen bis er an neugierig an einem weiteren Porträt hängen blieb, das Zola nicht wie sonst auf weißem, sondern auf grauem Papier gezeichnet hatte. Die Zeichnung selbst hatte sie mit Bleistift erstellt und zeigte ein zierliches Mädchen aus einer leichten Froschperspektive. Das Mädchen saß entspannt auf einem kleinen Hügel, die Arme locker auf die angezogenen Knie gelegt und hatte ihren nachdenklichen Blick gen Himmel gerichtet. In dem Bild musste es Nacht sein oder zumindest später Abend, denn eine kleine Vintage-Laterne, die neben dem Mädchen im Gras stand, spendete spärliches Licht, das die Künstlerin mit orange-rötlicher Farbe hervorgehoben hatte, als wolle sie dieses besonders hervorheben. Das Licht allerdings fiel auf die linke Körperhälfte des Mädchens, die Zola sogar farbig gemalt hatte, wodurch sich zeigte, dass es sich bei dem Mädchen um eine Blondine mittlerer Haarlänge und mit kornblumenblauen, großen Augen und einer schmalen Nase handelte. Sie trug bloß dunkle Jeans, ein weißes, kurz geschnittenes T-Shirt, das gerade noch ihre schlanke Figur bedeckte, und dunkelrote Chucks. Auf den rosa Lippen lag ein besonnenes Lächeln, insgesamt sah sie zwar nachdenklich, aber nicht sorgenvoll, sondern zufrieden aus.

Irgendwoher kannte ich sie, nur wollte mir nicht einfallen, woher–

Und dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Denn das Mädchen war niemand Geringeres als ich selbst.

„Du hast verdammt viel Talent, Zola", sagte Kenzie. Aus dem Augenwinkel nahm ich nur halb wahr, dass sie ein großes Blatt in den Händen hielt. Allerdings konnte ich nicht erkennen, was sich auf dem Papier befand - aber ehrlich gesagt interessierte mich das gerade nicht. „Magst du mir nicht etwas von deinem Talent abgeben? Vielleicht kriege ich dann endlich auch Herzchen und Blümchen hin", witzelte sie.

„Ach was, so schlimm zeichnest du nicht!"

„Oh doch, willst du mal sehen?"

Ich selbst war zu sehr damit beschäftigt, meine Wenigkeit an der Wand mit offenem Mund anzustarren. Daher geriet ihre Unterhaltung mehr und mehr in den Hintergrund, bis sich meine Gedanken nur noch um die Frage drehten, warum Zola ausgerechnet mich gezeichnet hatte und dann auch noch so... anders, zufrieden und sorglos. Sah sie mich vielleicht so, oder wünschte sie bloß ich wäre so?

Nein, das konnte nicht sein, Zola war nicht der Typ für personalistische Wunschvorstellungen – sie akzeptierte jeden so, wie er war. Zumindest war das mein bisheriger Eindruck von ihr.

Mein Outfit auf der Zeichnung fiel mir wieder ins Auge.

Dieses Crop-Shirt (oder wie auch immer man kurz geschnittene Oberteile nannte) stand mir – zumindest auf der Zeichnung – eigentlich recht gut, überlegte ich beeindruckt.

„Das gehört aber zu einem richtigen Mädelsabend dazu! Stimmt's, Emma?"

Verdattert drehte ich meinen Kopf zu den beiden Mädchen. Hatten sie mich gerade angesprochen?

Verflixt, und ich hatte nicht zugehört.

„Ähm, was genau?"

Innerlich verfluchte ich mein gezeichnetes Ich, das mich zu tief in die Tagtraumwelt gezogen hatte, als dass ich der Realität meine Aufmerksamkeit schenkte.

„Ich bin der Meinung, ein bisschen schminken und Nägel lackieren und dabei quatschen wäre jetzt nicht schlecht, bevor wir Filme schauen", wiederholte Zola.

Kenzie verdeutlichte mit einem abfälligen Schnauben ihren Standpunkt zu diesem Vorschlag und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Macht man das denn auf einem normalen Mädelsabend?"

Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe. Wenn dem nämlich so wäre, würde ich das schon gerne machen. Ich wusste zwar nicht, ob das wirklich was für mich wäre, aber wer konnte sowas denn schon hundertprozentig sagen, wenn er es noch nie gemacht hatte?

„Heute kann ja nur eine Ausnahme sein", entschied ich die Runde und während Zola triumphierend aufsprang, um entsprechende Utensilien zu holen, blitzte Kenzie mich beleidigt an.

„Du bist so eine Verräterin, Emma! Ich dachte, wir hätten einen gemeinsamen Feind", schmollte sie und fast hätte ich ihr die Show abgekauft, doch dann zuckte einer ihrer Mundwinkel verräterisch.

„Wen den? Mädchenkram?", fragte ich.

„Nein, dieser Feind ist schon menschlich. Menschlich und abartig nervig, hinterhältig, schwanzgesteuert und so dämlich, dass er Amerika regieren könnte."

Meine Augenbrauen flogen in die Höhe. „Du redest jetzt nicht etwa von Tyson?"

„Oh doch, genau von dieser Flitzpiepe rede ich!"

„Flitzpiepe?" Das Wort hatte ich ja noch nie gehört.

Doch Flitzpiepe war erst der Anfang, denn augenblicklich redete sie sich in Rage und das nicht nur mit vollem Körpereinsatz und mimischer Performance, sondern auch mit einer durchaus treffenden Nachahmung von Tysons witzigen bis unangebrachten Sprüchen und einer weiteren Schimpftirade von allerlei neuen Beinamen wie Nulpe, Fischkopf und Herzog Spacko von Blödlingen. Ich atmete tief ein und nahm zum Vorwand, an meinem Getränk zu nippen, weil ihre ständigen Verwünschungen über Tyson fast schon Standard waren. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, sie mochte ihn insgeheim, auch wenn sie sich lieber den Mund zunähen würde, als es offen zuzugeben.

Erleichtert stand ich bei Zolas Rückkehr auf, um ihr eine ihrer Täschchen abzunehmen, die sie auf den Armen balancierte. Was hatte sie denn alles mitgebracht?

„Ist das alles Nagellack?", fragte ich verdutzt und warf einen Blick in ein Täschchen, das proppenvoll war mit diversen Nagellackfläschchen von Kohlrabenschwarz bis glitzerndes Pink.

Dankbar schaute Zola mich an, als ich ihr half, die Täschchen auf ihrem Schreibtisch abzustellen, bevor sie ihr aus den Armen purzeln konnten.

„Nein, in denen hier", sie deutete auf zwei pinke Taschen mit Blümchenaufdruck, „ist mein Make-Up drin. Ich war mir jetzt nicht sicher, ob wir nicht vielleicht auch das machen wollen."

Ich runzelte die Stirn. „Aber wofür? Wir gehen doch nicht weg."

Kenzie war mittlerweile auch zu uns gestoßen und blickte mir mit einem eher wenig begeisterten Blick über die Schultern. „Also Nagellack mache ich ja noch mit, aber Make-Up finde ich auch übertrieben. Wir wollen schließlich nicht weg, sondern auf der Couch lümmeln." Sie schnappte sich ein Täschchen und inspizierte den Inhalt. An ihrem Gesicht konnte ich deutlich erkennen, dass keine ansprechende Farbe für sie dabei war, also griff sie nach dem nächsten. Das Erste drückte sie mir in die Hand. „Vielleicht ist ja für dich was dabei."

„Also für Emma stelle ich mir eine dezente Farbe wie Nude, Beige, Braun oder Rosé vor", überlegte Zola und ich war froh, dass ich keine grelle Farbe auswählen musste. Ich entschied mich für ein helles Beige für den Anfang. „Passend zu meiner Seele" wählte Kenzie schwarz und Zola wünschte sich als einzige ein knalliges Rot.

„Los geht's!", flötete die Gastgeberin und deutete uns, auf dem Teppich Platz zu nehmen, wo sie uns Küchenpapier reichte, damit wir den flauschigen Teppich nicht aus Versehen versauten, dann riet sie, mit den Fußnägeln anzufangen.

Während sich Zola euphorisch rote Fußnägel verpasste, begann Kenzie mit einem tiefen Seufzer, als unterdrücke sie den Versuch, uns doch noch von dieser mädchenhaften Aktion abzubringen. Ich dagegen drehte das Fläschchen erst in meinen Fingern hin und her, als wisse ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Aber ich hatte mir auch noch nie die Nägel lackiert – sie war immer diejenige gewesen, die es für mich gemacht hatte, weil ich mich einmal richtig blöd angestellt und beinahe das Fläschchen mit der dunkelblauen Flüssigkeit umgeschissen hatte, hätte sie es nicht kurz vorher umgestellt.

Bevor die anderen beiden meine Unsicherheit merkten, zog auch ich mir die Socken von den Füßen und begann konzentriert mit dem großen Zeh, als würde ich eine Matheaufgabe lösen. Dabei zitterte meine Hand ganz leicht und fast hätte ich mehr als nur meinen Fußnagel angepinselt.

Oh Gott, dachte ich. Das war ja schon eine Kunst für sich. Die beiden anderen Mädchen hatten definitiv weniger Probleme damit, ihre Nägel zu beschmieren als ich. Womöglich war das für sie sowas wie eine Alltagsbeschäftigung, während ich mich anstellte, als müsste ich mir die Mona Lisa auf den großen Zeh pinseln.

„So, jetzt habe ich schon lange genug auf heißen Kohlen gesessen!", rief Zola plötzlich aus. Erschrocken zuckte ich zusammen und fluchte leise, weil ich meinen kompletten Zeh angemalt hatte vor Schreck. Rasch reichte mir Zola entschuldigend ein Küchenpapier, während Kenzie im Hintergrund lachte, dieses Biest.

„Los, erzähl! Wie war es nun bei deiner einfachen Verabredung?" Zola strahlte bis über beide Ohren. Offensichtlich hatte sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, mich zu fragen, ohne dass ich mich dem irgendwie entziehen konnte. Auch Kenzie stoppte in ihrem Prozedere und sah mich erwartungsvoll an. Allerdings kroch sie nicht aus Neugierde so nah an mich heran, als hätte sie Angst, irgendwas zu verpassen – im Gegensatz zu Zola, der das allerdings nicht bewusst zu sein schien.

„Es war... nett."

Nett?! Nett ist die kleine Schwester von Scheiße!"

„Oh je, Emma", seufzte Kenzie und ihre zuckenden Mundwinkel verrieten, dass sie am liebsten grinsen würde. „Du kannst uns nicht erzählen, dass das Date mit einem der süßesten Jungs der Schule nett war. Das Einzige, das an deinem Date nett sein sollte, ist seine hässliche Seite."

Ich fühlte mich ein wenig bedrängt, immerhin gab es nichts außergewöhnliches zu erzählen. Jack und ich hatten uns nur gegenseitig Fragen gestellt, weshalb ich nun wusste, dass er nur einen kleinen Bruder hatte, im Schulbasketballteam war – aber bei den Spielen saß er meist auf der Ersatzbank –, aber lieber Kickboxing betrieb und sich am liebsten aus dem Flugzeug in den sicheren Tod stürzen wollte.

Gut, er hatte eine andere Formulierung benutzt, sowas wie „Fallschirmspringen", aber für mich war das gleichbedeutend.

Zudem erfuhr ich von ihm, dass sein Vater als Bauingenieur die halbe Welt bereiste und er dadurch oft mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder alleine zu Hause war. Allerdings kamen auch die drei dabei mit Reisen nicht zu kurz, wenn sie ihren Vater und Ehemann in ihrer Urlaubszeit besuchten und auch seine neuesten Projekte bestaunen konnten. Momentan arbeitete er an einem U-Bahn-Projekt im Süden Spaniens. Auf meine Frage hin, ob Jack denn gerne mal in seine Fußstapfen treten wollte, hatte er nur die Schultern gezuckt und erklärt, dass er noch keine genaue Vorstellung davon habe, was er gerne später machen wollte, momentan allerdings tendiere er mehr zu einem Gastronomiestudium beziehungsweise zu einer Ausbildung als Koch.

„Ein eigenes Restaurant wäre schon was Feines", hatte er erklärt und dabei leicht gelächelt, als würde allein der Gedanke daran ihn glücklich machen. „Der Gedanke, dass Menschen ausgerechnet mein Restaurant auswählen, um sich zu entspannen oder Zeit mit ihren Liebsten zu verbringen oder sich kennenzulernen, reizt mich irgendwie. Und nichts geht über gutes Essen, findest du nicht?" Sein Lächeln war ansteckend gewesen, das hatte ich auf meinen eigenen Lippen gespürt.

Der Abend war recht lange für uns gegangen, denn wir kamen aus den Erzählungen von unseren persönlichen Leidenschaften, Musikgeschmäckern und Lieblingsfilmen nicht mehr heraus. Außerdem war Jack ein Meister darin, mich zum Lachen zu bringen, denn wir hatten genau den gleichen Humor. Auch ich brachte ich ihn des Öfteren zum Lachen, weshalb mir seine Grübchen nicht entgingen.

Seit langem hatte ich mich nicht mehr so wohl in der Nähe eines mir noch unbekannten Menschen gefühlt. Als wäre da eine besondere Verbindung zwischen uns.

Als das Gespräch dann in eine eher ernste Richtung ging, hatte ich ihm verlegen gebeichtet, dass ich unter einigen Ängsten litt sowie einen Aufräum- und Putzzwang pflegte, für den Tyson mir sogar beinahe den Kopf abgerissen hätte. Es war mir auch nicht komplett unangenehm, über meine Panikattacken zu sprechen, nur den Grund dafür hatte ich ihm verschwiegen, doch er hatte auch nicht nachgefragt, sondern nur aufmerksam zugehört, ehe er mir eine Strähne hinters Ohr gestrichen, sich vorgebeugt und dann gewispert hatte: „Egal wovor du Angst hast, tief im Inneren weißt du, dass diese Angst unbegründet ist. Denn das Einzige, vor dem der Mensch wirklich Angst hat, ist das Unbekannte."

Ich schaute ihm einige Sekunden lang in seine haselnussbraunen Augen, in denen ich mein erstauntes Gesicht erblickte. Die Züge um seine Lippen waren ernst, aber weich und in seinen Augen lag ein Blick, den ich nicht ganz deuten konnte.

„Ich dachte immer, der Mensch hätte vor sich selbst Angst", antwortete ich leise, ohne den Blick von seinen faszinierenden Augen zu wenden.

Er lächelte. „Umso mehr beweist das, dass du auf jeden Fall keine Angst haben musst, denn du bist das vernünftigste und zugleich süßeste Mädchen, das mir das beste Date seit langem geschenkt hat. Das mag ich. Dich mag ich."

Gott sei Dank hatte uns dann Davids Anruf unterbrochen, sonst wäre es sehr peinlich geworden, was definitiv auf meine Kosten gegangen wäre, da ich keine Ahnung hatte, wie ich darauf reagieren sollte. Mein Körper allerdings wusste es: Erröten und blöd grinsen.

„Ich muss jetzt gehen, mein Vater hat angerufen, er steht draußen und wartet schon auf mich", hatte ich gemurmelt und war dann von meinem Hocker gerutscht. Noch während ich nach meinem Geldbeutel gekramt hatte, hatte mir Jack eine Hand auf meinen Arm gelegt – an dieser Stelle fing es bei der Erinnerung daran zu kribbeln an – und gesagt, dass meine Getränke heute auf seine Rechnung gingen.

„Aber nur, wenn ich das nächste mal ein Eis von dir spendiert bekomme", hatte er neckisch hinzugefügt.

Er möchte mich wieder treffen, dachte ich glücklich und wäre glatt wieder errötet, wenn ich mich nicht schnell geräuspert und verabschiedet hätte. Ich war schon beinahe auf den Weg nach draußen, als ich mich nochmal umdrehte, um seine Worte auf meine Art zu erwidern: „Ich finde dich auch nett, Jack."

Um ehrlich zu sein hatte ich den Satz für meine Verhältnisse ziemlich süß gefunden, aber jetzt, wo Zola und Kenzie so allergisch auf dieses Adjektiv reagierten, wusste ich nicht mehr, ob ich mit dem Satz nicht mit Anlauf in ein großes Fettnäpfchen gesprungen war.

Oh Gott, ich konnte ihm doch nicht mehr unter die Augen treten! Er hatte mich süß genannt und was sagte ich ihm? Dass er nett war.

Meine beiden Freundinnen hatten recht: Niemand würde gerne einfach nur als nett bezeichnet werden. Und wenn die beiden Recht in dem Punkt hatten, dass Jack vielleicht mehr von mir wollte als nur Freundschaft, dann hatte ich ihn möglicherweise enttäuscht oder sogar verletzt.

„Oh mein Gott", stieß ich beschämt hervor und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Ich bin so ein Idiot."

„Das kann nicht sein, den Job übernimmt Tyson schon", entgegnete Kenzie trocken.

„Wieso das denn?", ignorierte Zola ihren Einwand. „Was ist denn passiert?" Kurzes Schweigen, in dem ich seufzend hochblickte und überlegte, wie ich ihnen mein Dilemma erzählen sollte, ohne dass sie mir nicht allzu vehement bestätigten, wie dumm ich eigentlich war. „Oh je, du hast ihm doch nicht gesagt, dass du es nett mit ihm fandest oder doch?"

Nervös biss ich auf meine Unterlippe. „Noch schlimmer."

Ich erzählte ihnen vom ganzen Abend, in der Hoffnung, mein Fauxpas wirkte dadurch am Ende nicht ganz so schlimm, jedoch hätte ich mir das sparen können, denn am Ende schauten sie mich mit großen Augen an, unsicher, wie sie es mir sagen sollten. Zwischendurch hatten sie mich nur unterbrochen, indem sie mit den Augenbrauen wackelten oder wissend grinsten und verträumt seufzten. Als ich ihnen sogar von Jacks Zukunftsplänen erzählte, schwärmten sie von ihm wie von einem Gott auf Erden, nur weil er wohl gerne und hoffentlich sehr gut kochte  – Zola meinte dazu sogar: "Es wäre verdammt dumm von dir, so ein Sahneschnittchen anbrennen zu lassen. So einen Mann findest du nirgends!"

„Ach, Emma", sagte Zola letztendlich und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich zuckte weder zurück, noch wünschte ich mir, sie würde ihn bald wieder wegnehmen, im Gegenteil. Es fühlte sich erstaunlich gut an, so beschützend und tröstend. „Das wird schon. Ich denke, wenn er dich wirklich so mag, wie du bist, dann hat er schon verstanden. Mach dir keinen Kopf."

„Hinterher fallen einem immer die besseren Antworten ein", versuchte auch Kenzie, mich zu ermutigen, allerdings war sie darin nicht so gut wie Zola, wobei ich nicht sagen konnte, ob das an ihrer Antwort selbst lag oder an der Tatsache, dass sie mit ihrer Schlagfertigkeit keine Probleme haben sollte, sofort eine gute Antwort zu finden. „Aber ich finde das auch nicht so schlimm. Du hast dem Satz ja allein dadurch mehr Bedeutung beigemessen, dass du dich extra dafür noch zu ihm umgedreht hast. Dann wirkt das ja auch schon mal komplett anders."

Skeptisch sah ich zwischen den beiden hin und her. Trotz der aufmunternden Worte der beiden blieben Zweifel und Scham zurück und ich traute mich nicht daran zu denken, wie eine zufällige Begegnung auf dem Schulflur am Montag ablaufen könnte. Wahrscheinlich würde er nur unangenehm berührt die Hand zum Gruß heben, bevor er schnellstmöglich zum nächsten Kurs eilen würde.

Ich seufzte. Vielleicht machte ich mir auch einfach zu viele Gedanken darüber.

Blöde Schmetterlinge.

Rasch beendeten wir die Nagellackprozedur. Zola übernahm meine restlichen Nägel, da sie geschickter darin war, als ich. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich auch nach ihrer Beziehung mit Clay zu erkunden.

„Alles super, ich kann mich momentan nicht beschweren", meinte sie bloß und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Also wir streiten uns kaum, deswegen ist es nicht so spannend wie bei Kenzie und dem Casanova der McCain-Familie."

„Wir sind auch nicht zusammen und werden das auch niemals sein!", knurrte die Rothaarige, weshalb Zola und ich einen vielsagenden Blick austauschten.

Noch nicht, formte sie mit den Lippen und grinste.

„Diese Torfnase ist überhaupt nicht mein Typ", rechtfertigte Kenzie sich weiter, obwohl Zola und ich gar nichts gesagt hatten. „Ständig haut der einen dummen Spruch nach dem anderen raus und seine wahre Liebe gilt ausschließlich ihm selbst. Wenn er nicht denken würde, er wäre Gott, würde ich mich sogar wagen, ihn als hübsch zu bezeichnen, aber sein Charakter ist so hässlich, dass ich davon Alpträume bekomme!" Sie stoppte beim Lackieren ihres Zeigefingers und blickte uns an, das wilde Funkeln in den Augen, das sie immer hatte, wenn sie sich aufregte oder in Rage redete. „Und er ist selbstsüchtig, macht nichts für andere, und wenn dann nur, wenn es ihm selbst nützt. Okay, gut, manchmal kann er auch nett sein, aber das heißt bei ihm nie etwas Gutes. Gott, wie ich diesen Kerl verabscheue!"

Ich kaufte ihr nichts davon ab. Mein Gefühl sagte mir, dass sie selbst nur so denken wollte, aber innerlich ganz genau wusste, dass es nicht stimmte. Der einzig richtige Punk an ihrer Charakterisierung von Tyson war, dass er sich nie für einen dummen Spruch zu schade war und nur manchmal ein bisschen zu selbstbewusst war. Zudem glaubte ich, dass das Einzige, das Kenzie wirklich reizen konnte, der Schlagabtausch der beiden war, mit dem sie sich gegenseitig herausforderten. Vielleicht regte es sie deswegen so auf, dass er ständig eine Antwort parat hatte, weil sie es sonst nicht gewohnt war.

Aber das behielt ich für mich, stattdessen wechselte ich das Thema.

„Welchen Film wollen wir eigentlich gleich schauen?"

Geschlagene zwanzig Minuten standen wir vor dem DVD-Regal in Zolas Wohnzimmer und diskutierten, welche Filme am besten waren. Während Zola eher Liebesfilme und andere Girls-Night-Movies wie Pretty Woman oder Pitch Perfect bevorzugte, versuchte Kenzie, sie von Action und Abenteuer zu überreden.

„Ich bin wirklich nicht wählerisch, was Filme betrifft, aber von Schnulzen kriege ich Ausschlag", argumentierte Kenzie.

„Dann hast du noch nie einen guten Liebesfilm gesehen!"

„Du hast wohl noch nie einen Marvelfilm gesehen!"

„Hab ich auch nicht", gab Zola unverfroren zu. „Aber ich mag Liebeskomödien einfach lieber. Den einzigen Abenteuer beziehungsweise Fantasy-Film, den ich wirklich mag und fast schon so sehr liebe wie das Buch, ist Harry Potter."

„Das wäre auch traurig, wenn nicht", konterte Kenzie.

„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte", unterbrach ich die beiden und hielt eine Hülle hoch. „Es geht doch nichts über die guten alten Disney-Filme."

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