Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen

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By MaraPaulie

Kapitel 57

Die erste aller Schöpfungen


~Sabrina~

Sie kamen. Sie kamen aus dem Nebel, wie aus dem nichts. Geboren aus weissem Dunst. Sie schritten zwischen den Säulen hindurch, hinein in den Tempel. Sie sagten nichts, gaben keinen Laut von sich. Ihre Schritte waren so federleicht wie der Hauch eines Windes. Ihre Bewegungen so mühelos elegant und sanft, wie es eigentlich kein Wesen zu Stande bringen konnte, ohne jeden Gott für einen Moment vor Neid erblassen zu lassen.
Sie kamen.
Sie.
Und sie waren so viele. So viele wie Sterne am Himmel, wie Tropfen im Meer, wie Blätter an den Bäumen und Sandkörner am Strand.
Es waren Geister. Die Seelen jener, die keine Ruhe im Tod fanden.
Mile sprang von dem Alter, hob Mondkind hoch, drückte sie seiner Schwester in die Arme, baute sich vor ihnen auf und zog sein Schwert. »Wer seid ihr?«, brüllte er und liess einen Ring aus Feuer um den Altar entflammen, doch die Geister kamen trotzdem näher.
»Scheisse«, flüsterte Sabrina und presste Mondkind fest an sich. »Was soll ich tun? Es sind so viele! So viele, dass ich ihren Schmerz nicht abschirmen kann! Sie sind zu stark!«
So war es. All die Geister, jeder von Gedanken und Gefühlen erfüllt, die alle von so viel Sehnsucht, Angst, Schmerz und Trauer zerfressen waren, drängten gegen ihre Seele, wollten ihren Schutzwall durchbrechen... Dank Jeremy Toppers Traumfänger gelang ihnen das nicht. Nicht vollständig. Selbst wenn man sich einen Luftschutzbunker tief unter der Erde baut, jeden Zentimeter abdichtet, jede Tür verriegelt und sich die Hände so fest man kann auf die Ohren presst: Die Bomben über sich kann man trotzdem hören. Und Sabrina hörte die Bomben. Sie konnte spüren, wie grauenvoll es den Geistern ging. Was für Schmerzen sie ertragen mussten. Wie Sehnsüchtig sie auf ein endgültiges Nichts warteten, das sie erlösen könnte.
Mondkind streichelte Sabrinas Hände und murmelte: »Die Hexe hat gesagt, die Orakel werden verrückt. Nun siehst du, warum. Auf uns lastet der Fluch, das zu sehen, was alles ist. Wir sehen es, verstehst du? Wir sehen die Vergangenheit. Wir sehen das Jetzt. Wir sehen die Zukunft. Wir wissen was das Schicksal aus dem Zufall macht. Wir wissen, wieso der Zufall eben keiner ist. Wir kennen die Geburt, das Leben und den Tod. Wir werden Wahnsinnig, weil wir in der Unendlichkeit gefangen sind. Wir können allem nicht entfliehen. Unsere Seele wird krank, weil wir nicht nur unseren eigenen Schmerz, sondern auch den all unserer Vorgängerinnen ertragen müssen.«
Da verstand Sabrina. Am liebsten wäre sie sofort wieder aufgewacht aus diesem Erinnerungs-Traumreise-Ding. Am liebsten wäre sie aufgewacht und weggelaufen. So weit, dass sie das hier nicht mehr einholen konnte, doch das war unmöglich. Sie würde niemals vergessen können, was hier gerade geschah.
All die Geister waren die ruhelosen Seelen vergangener Generationen von Orakel. Es waren tote Orakel. Alle tot. Alle Geister. Allesamt tote Orakel...
Sie waren so zahlreich, dass ihre Erscheinungen ineinander standen. So war es schwierig, sie klar zu erkennen oder sie genauer mustern zu können. Zwei Dinge waren jedoch schnell klar: Sie waren alle Frauen und stammten von der Blutlinie der Orakel ab. Nachdem Sabrina die wogenden Massen aus Geistern eine Weile lang beobachtet hatte, erkannte sie auch noch ein paar andere Fakten. In all der Zeit hatten sich die Orakel auf verschiedenste Weise äusserlich verändert. Da gab es kleine und grosse, hellhäutige und schwarze, junge und alte. Anders als bei den Nachkommen der Herrscher waren nicht die Gene der Orakel die stärkeren und führten immer zum gleichen Ergebnis - also klein, blond oder gross und rothaarig.
Nur eine einziges Detail in ihrem Aussehen verband sie alle: Die Augenfarbe. Unendlich viele amethystfarbene Augenpaare starrten die Herrscherkinder und das einzige lebende Orakel in diesem Raum an.
»Hisst das... Ach du... Wie viele sind das?!«, keuchte Mile, der alles mitgehört hatte.
»Das fragst du sie am besten selbst«, schlug Mondkind vor. »Du kannst übrigens dein Feuer löschen und Kayat wieder einpacken. Sie werden uns nichts tun. Wieso auch? Sie sind ich und ich bin sie.«
Mondkinds letzter Satz bewegte etwas in Sabrina. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Darum war Mondkind, wer sie war. Eine Vierjährige, deren amethystfarbene Augen mehr gesehen hatten, als jeder andere. Ein Mädchen, das sprach und sich verhielt wie eine weise Frau und dann doch wieder so albern sein konnte, wie es ihrem Alter entsprach. Dieses Kind, das Zeilen von Prophezeiungen zitierte, als wären es Strophen aus Kinderreimen.
Mondkind, das Orakel, teilte ihren Körper mit unzähligen ihrer Vorfahrinnen.
Mile liess Kayat langsam sinken. Sein Feuer erstarb. Er zuckte mit den Schultern und brummte: »Hätten sie uns was tun wollen, hätten sie es schon längst getan.«
»Und jetzt?«, fragte Sabrina angespannt. Sie kämpfte noch immer mit den Emotionen der wahnsinnigen Orakel.
Mondkind löste sich aus Sabrinas Umarmung, hüpfte vom Altar und trat vor Mile. Sie machte einen geraden Rücken, straffte die Schultern und rief: »Hier sind die jungen Herrscher. Der Lichterlord Mile Beltran und seine Schwester die Eisprinzessin Sabrina Beltran. Sohn und Tochter von Eira und Ignatz Beltran. Ihr habt sie herbestellt. Sie haben alle Prüfungen bestanden. Sie haben eine lange Reise hinter sich. Jetzt tut, was ihr tun müsst!«
Die Geister bewegten sich. Sie bildeten eine Gasse, die bis zum Rande des Tempels reichte. Dort stieg ein weiterer Geist aus dem Nebel. Sabrina spürte sofort, dass diese Tote anders war, als all die anderen. Sie konzentrierte sich auf diesen einzelnen Geist und gleich wurde klar, was diesen von den anderen unterschied. Dieser Geist war nicht wahnsinnig...
Der Geist des Orakels kam langsam auf sie zu. Ihre Bewegungen waren genauso elegant wie die der anderen, nur waren sie nicht sanft sondern animalischer. Geduckt, wie zum Sprung bereit, pirschte sie sich an sie heran. Direkt vor Mondkind blieb die Geisterfrau stehen. Sie beugte sich hinab, küsste Mondkind auf den Scheitel und richtete sich dann wieder auf. Ihre Augen fixierten erst Mile, dann huschten sie zu Sabrina. Auf einmal hatte Sabrina das Gefühl, diesen unnatürlich violetten Augen trotzen zu müssen, also liess sie sich von dem Altar gleiten und marschierte neben ihren Bruder. Dort musterte sie die Geisterfrau genau, so wie sie es auch bei ihnen tat.
Die Frau war klein und dürr. Sabrina schätzte sie auf Mitte zwanzig. Ihre Haut war dunkel wie nasse Erde, was ihre Augen nur noch mehr strahlen liess. Ihre Haare hingen ihr in langen, filzigen, schwarzen Strähnen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war hart und scharf geschnitten. Sie hatte wulstige Lippen, die sie schwarzweiss geschminkt hatte, damit sie von weitem wie Zähne aussahen. Auch ihre hohe, Stirn, die flache Nase, die scharfen Wangenknochen, das kantige Kinn und die tiefliegenden Augen, ja sogar Arme, Beine und Bauch waren mit schwarzweisser Kriegsbemalung bedeckt. Das Auffälligste Muster war ein roter Kreis, der auf ihrer Stirn prangte und vielleicht ein Auge darstellen sollte. Sie trug mehrere Piercings aus Knochen wie zum Beispiel einen dünnen Stab mit Widerhaken durch ihren rechten Nasenflügel. Felle bedeckten ihre Brust und ihren Unterleib. Ein Messer aus einem langen, gebogenen Tierzahn hing an ihrer Hüfte. Schuhe besass sie keine.
Aus welcher Epoche diese Frau auch stammte, ganz sicher waren die Mamuts zu ihrer Zeit noch nicht ausgestorben gewesen. Dieser Geist war der einer Wilden.
»Wer ist sie?«, flüsterte Mile Mondkind zu, nachdem sie sich gegenseitig einige Zeit beäugt hatten.
»Man nennt mich Eva, junge Feuerseele«, knurrte die Frau. Ihre Stimme war tief und rau und klang wie die eines Raubtiers, das zu sprechen gelernt hatte.
»Und wer bist du, Eva? Und warum nennst du meinen Bruder eine Feuerseele?«, fragte Sabrina, die fest beschlossen hatte, sich nicht von dieser Buschtante einschüchtern zu lassen.
Die Frau namens Eva antwortete: »Ist er denn nicht die Feuerseele? Und du bist doch er Schneegeist. Ich weiss, ihr seid nicht mehr die gleichen, aber euer Wesen wird sich niemals ändern. Ich würde euch überall und jederzeit erkennen.«
»Und warum?«, fragte Mile aus echter Neugier.
Eva lachte und schnurrte: »Weil ihr mich doch erschaffen habt. Du, Feuerseele, du Schneegeist und die anderen beiden. Die Schattenhand und der Atembringer.«
»Moment... Wir sollen dich erschaffen haben?«, fragte Mile, der mal wieder auf der Leitung stand.
»Mile, ich glaube, sie meint die Urherrscher. Der Lichterlord, die Eisprinzessin, der Kupferkönig und die Glaskaiserin. Die Urherrscher haben sie erschaffen«, half Sabrina ihrem Bruder auf die Sprünge.
»Ihr habt eure Namen geändert und doch bleiben eure alten Seelen in euren Nachfahren bestehen«, brummte die Wilde zustimmend. »Aber auch wenn ihr eure Geschichte vergessen habt, so kann ich sie euch wieder ins Gedächtnis rufen. Ich vergesse nicht. Ich vergesse niemals.«
Mondkind klatschte in die Hände und jubelte: »Ja! Ja! Oma Eva erzählt wieder eine Geschichte!«
Auf einmal begannen alle Orakel zu lachen und sich zu freuen. Als hätten sie es einstudiert, setzten sie sich alle gleichzeitig auf den Pflasterstein. Eva schlich um die beiden Herrscher herum, sprang in einem Satz auf den Altar, drehte sich erst einmal wie ein Tier um die eigene Achse, um sich dann zu setzen. Mondkind hatte es sich mittlerweile auch schon bequem gemacht, also taten es ihr die Geschwister gleich.
Eva war eine geübte Geschichtenerzählerin, das merkte man gleich. Die Art, wie sie Mimik und Blicken ihre Geschichte einbrachte hielt ihr Publikum in aufmerksamem Staunen gefangen und liess Sabrina erleichtert aufatmen, denn Evas kleine Geschichtenstunde lenkte die Orakel wenigstens einen Moment von ihrem wahnsinnigen Schmerz ab.
»Wie ihr alle wisst, haben die vier – wie ihr sie nennt - Herrscher der Gezeiten unsere Welt erschaffen. Himmel und Erde, Sonne, Monde und Sterne, Wälder, Seen, Flüsse und Meere, Berge, Hügel und Täler und das Gute und das Böse. Dank ihrer Fantasie konnten sie unsere Welt erschaffen. Eine Welt, die von der realen Welt getrennt war und doch genauso existierte, wie die sterbliche. Als sie die Welt also nach ihren Wünschen und Vorstellungen vor ihnen lag, begannen sie damit, sie zu bevölkern. Angefangen mit einem Wesen, das ihnen bei ihren späteren Entscheidungen zur Seite stehen und helfen sollte.«
»Dich«, rief Mondkind und lachte.
»Uns!«, flüsterten alle Orakel, was sich jedoch wie Donnergrollen anhörte, da sie ja so viele waren.
Eva auf ihrem Altar nickte und fuhr fort: »Sie erschufen mich, das erste Orakel. Sie lehrten mich, meine Gaben einzusetzen. Sie zeigten mir Fenster in die Zukunft, in die Vergangenheit und das Jetzt. So half ich ihnen bei der Entwicklung neuer Schöpfungen und leitete sie, das Richtige zu tun, doch mit der Zeit veränderten sich die Herrscher äusserlich als auch mental. Irgendwann kam der Punkt, an dem keiner der Vier den anderen noch vertraute und sie begannen sich zu bekämpfen. Ich versuchte immer, keinen von ihnen zu bevorzugen, jeden gleich zu behandeln. Eines Tages kam die Schattenhand zu mir und wollte wissen, wie seine Zukunft aussähe. Ich sagte ihm, was ich wusste. Die Schattenhand wurde wütend. Sie war schon zuvor an ihrer Macht zerbrochen und hatte sich in ein blutrünstiges Wesen verwandelt, dass nichts mehr liebte, als das Leid, den Tod und den Schmerz, den es verbreitete. Meine Prophezeiung war keine gute gewesen. Dies wollte er an mir auslassen und er tötete mich. Natürlich ist es eigentlich nicht möglich, in der Märchenwelt zu sterben, wenn man selbst zu den Unsterblichen gehört, doch dies war eine der Mächte der Schattenhand. Sie konnte jeden und alles töten, denn sie war der Herr über den Tod.«
Ein Raunen ging durch den Tempel. Sabrina und Mile blickten sich an. Sie kannten diese Geschichte! Sie hatten sie während des Unterrichts bei Jeremy Topper durchgenommen. Sie stand im Buch „Die Herrscher der Gezeiten", das Mile in der Bibliothek in Aramesia entdeckt hatte. Nur war die Geschichte der Urherrscher darin etwas anders gewesen. Mit keinem Wort war ein Orakel erwähnt worden!
»Dies war der Moment, an dem die anderen drei Herrscher feststellen mussten, dass die Schattenhand völlig ausser Kontrolle geraten war. Also beschlossen sie, die Schattenhand fürs erste ausser Gefecht zu setzen. Doch dafür brauchten sie meine Hilfe. Also erschufen die übrigen Herrscher ein neues Orakel. Doch dieses neue Orakel war noch unerfahren und da es zu lange gedauert hätte, ihm alles von vorne beizubringen, mussten sie zu rabiateren Mitteln greifen. Der Atembringer tat etwas, was eigentlich strengstens verboten war. Er nutzte seine Gabe über das Leben und erschuf eine Zwischenwelt. Somit griff er in den natürlichen Kreislauf von Tod und Leben ein. Jedenfalls wurde diese Zwischenwelt eine einbahnige Brücke zwischen Leben und Tod. Jedes normalsterbliche Wesen konnte sie mühelos überqueren, doch unsterbliche Seelen wie wir eine besitzen, sind in ihr gefangen. Je mächtiger wir in unserem Leben waren, desto unmöglicher wird es für uns, die Brücke ins Jenseits zu überqueren. Versteht ihr, was ich meine?« Evas Frage war an alle gerichtet, doch nur Mondkind hob ihre Hand zum Zeichen, etwas sagen zu wollen. Eva nickte ihr zu und gab ihr somit die Erlaubnis, sprechen zu dürfen.
»Zum Beispiel kann ein Zwerg oder ein Elf, der stirbt, die Brücke schon nach wenigen Stunden in der – wie ich die Zwischenwelt nenne - Starre überqueren, während wir Orakel diese Brücke ins Reich der Toten wahrscheinlich niemals überqueren werden können«, erklärte Mondkind voller Stolz.
Mile beugte sich zu Sabrina und flüsterte ihr ins Ohr: »Die Kleine ist sich gar nicht bewusst, was das für sie bedeutet. Sie wird niemals Ruhe finden. Eigentlich kann sie sich glücklich schätzen, dass sie geistig nicht altert. So wird sie es nie verstehen und vielleicht auch bei Verstand bleiben und nicht wahnsinnig werden wie all ihre Vorgängerinnen.«
Sabrina nickte und fragte ihn: »Glaubst du, Eva ist auch wahnsinnig?«
»Sie ist ein Orakel«, murmelte Mile, als würde das alles erklären.
»Ich glaube, sie ist es nicht. Sie ist nicht verrückt. Sie ist das erste Orakel. Das bedeutet, sie musste zu Lebzeiten ihren Körper nicht mit einer anderen teilen, was ja der Grund für den Wahnsinn ihrer Nachfahrinnen ist.«
Bevor Mile etwas erwidern konnte, meldete sich Eva wieder zu Wort. Schliesslich hatte sie ja eine Geschichte zu erzählen. »So wurde auch ich in dieser Zwischenwelt eingeschlossen, wenn auch unter anderen Umständen. Der Lichterfänger hatte mich nämlich in einen Teil der Zwischenwelt untergebracht, in den man von Ausserhalb nicht hineinkam. Diesen Teil der Zwischenwelt band er an den Geist des neuen Orakels, wodurch ich jederzeit in seinen Körper schlüpfen konnte. Mondkind, würdest du das noch einmal für unsere Gäste erklären?«
Das liess sich ihre Cousine nicht zweimal sagen und sie plapperte los: »Der Körper des lebenden Orakels wird zum Sprachrohr der verstorbenen Orakel. Jedes Orakel ist also geistig mit seinen Vor-und Nachfahren verbunden. Stirbt ein Orakel und hat keine direkten Nachfahren, wird der nächstliegende Verwandte zum Orakel. Hat ein Orakel keine Blutsverwandten, so wird durch Zufall ein Wesen ausgesucht. Orakel sind immer weibliche Menschen, da diese Wesen dem ersten Orakel körperlich am ähnlichsten sind. Ich, Mondkind, bin das erste Orakel in der Geschichte, das zum Orakel wurde, während meine Vorgängerin noch am Leben war.«
»Gut, meine Kleine«, lobte Eva ihren Schützling und wendete sich dann wieder an alle: »Wie es dann weitergeht, wisst ihr alle. Ich berichtete den drei Herrschern, was ich gesehen hatte. Die Schattenhand wurde ihrer Macht beraubt und sollte in die sterbliche Welt verbannt und dort solange festgehalten werden, bis sie sich wieder besinnen würde. Der Atembringer sollte sie begleiten. Meinen Worten folgten Taten, doch seither sind die Schattenhand und der Atembringer verschollen. Das erzürnte die Feuerseele und den Schneegeist und sie kamen zu dem Entschluss, mir nicht mehr vertrauen zu können. Also vertrieben sie mich. Auch wenn sie mir nicht mehr vertrauten, so war ich doch ihre erste Schöpfung, der sie eine eigene Seele geschenkt hatten. Darum machten sie mir noch ein letztes Geschenk: Sie erschufen zwei Männer. Starke Krieger und treue Freunde, die dafür bestimmt waren, ihr Orakel zu beschützen. Wenn ein Wächter starb, wurde ein neuer geboren. Irgendwie findet der Wächter immer zu seinem Orakel. Es ist seine Bestimmung...
So zogen wir durchs Land. Starben und lebten. Ständig auf der Flucht vor denen, die meine Gabe für ihre Zwecke missbrauchen wollten. Irgendwann gerieten wir in Vergessenheit. Die alten Schriften über Orakel und Wächter der Prophezeiungen verbrannten oder gingen verloren. Wir zogen uns zurück, versteckten uns vor der Aussenwelt. Doch manchmal sahen wir Dinge in der Zukunft. Dinge, die wir aufhalten mussten. Dinge, die nicht geschehen durften. Also begannen wir, Prophezeiungen in die Welt zu setzen. Wir liessen sie den Betroffenen zukommen. Anonym, sodass uns niemand auf die Schliche kommen konnte. Wir verschlüsselten unsere Prophezeiungen durch Rätsel und Reime, einerseits damit die Geschichte sich nicht wiederholen konnte, wie bei der Schattenhand, die mich nach meiner Vorhersage ermordet hatte und andererseits weil es uns Orakel unmöglich ist, unsere Vorhersagen in klaren Worten auszudrücken, Wir können es einfach nicht... Wir mussten feststellen, dass unser Einmischen meist nichts Gutes hervorbrachte. Wer sein Schicksal kennt ist in der Lage, gezielt von ihm abzuweichen. Niemand sollte sein eigenes Schicksal kennen. Nicht einmal ihr Herrscher solltet eure Prophezeiung kennen. Wie auch immer. Hier, im Tempel der Orakel, in einem Teil der Zwischenwelt, der nur von Orakel, Herrschern oder Wächtern betreten werden kann, werden wir all dies Revolutionieren!«
Die animalische Stimme des ersten Orakels verhallte und hinterliess eine Stille, die vor Spannung beinahe schon flimmerte. Sabrina wartete, dass Eva weitersprach, doch die Wilde sass einfach nur mit einem zufriedenen Grinsen auf ihrem Altar und schwieg.
Mile schüttelte langsam den Kopf und rief dann: »Okay. Okay, ja, ich glaube, ich habe diesen ganzen Quatsch verstanden. Orakel sehen die Zukunft und schreiben Prophezeiungen. Ihr sterbt und müsst dann hier in dieser Zwischenwelt, in der Starre, in diesem Tempel hier herumirren. Aber warum zum Teufel mussten wir vorher diese ganzen Prüfungen bestehen. Und warum sind Sabrina und ich hier?«
Eva nickte Mondkind zu. Mondkind nickte zurück, stand auf, tapste zu ihnen herüber, setzte sich vor sie auf den Pflasterstein und erklärte: »Bevor ihr hierher kamt, musstet ihr eine lange Reise machen und viele Prüfungen bestehen. Ihr musstet Rätsel lösen, zusammenhalten und Probleme bewältigen. All das war nötig, um nachprüfen zu können, ob ihr bereit seid.«
»Bereit für was?«, fragte Sabrina, die sich zunehmend überfordert fühlte.
»Für ein neues Bündnis zwischen Orakel und Herrschern«, erklärte Eva feierlich. »Ihr braucht uns, um die Dunklen zu besiegen. Wir können euch helfen.«
»Das mag wohl stimmen, aber trotzdem ist das keine Erklärung für dieses Tohuwabohu!«, knurrte Mile und machte eine alles einbeziehende Bewegung mit den Armen.
Evas Hand zuckte blitzschnell zu ihrer Hüfte. Sie zog ihr Messer und schleuderte es nach Mile, dann geschahen mehrere Dinge auf einmal: Sabrina schrie. Mondkind hielt sich die Augen zu. Die Orakel wimmerten in der Lautstärke einer Presslufthammer-Selbsthilfegruppe, die gerade mit ihrer Jammertherapie begonnen hatte. Mile... Mile sprang auf, zog Kayat, schwang die Klinge wie einen Baseballschläger, traf das angeflogene Messer und katapultierte es quer durch den Raum, bis es gegen eine der Säulen knallte, wo es zersprang. All das in dem Bruchteil einer Sekunde.
Es dauerte etwa eine Minute, bis Sabrina klarwurde, dass ihre Kinnlade offenstand. Vollkommen perplex stellte sie fest: »Okay. Ja, Mile, du bist echt saumässig schnell...«
»Danke«, brummte Mile, ohne seine Attentäterin aus den Augen zu lassen. »Was sollte das?«, fauchte er.
Eva zuckte die Schultern und meinte: »Darauf bist du nicht vorbereitet gewesen, nicht wahr, Feuerseele?«
»Natürlich nicht!«, flucht er und vor Wut fingen seine Haare Feuer.
Selbstgefällig lächelte Eva. »Na bitte! Ihr braucht mich. Ihr braucht uns! Wir werden euch helfen, eure Prophezeiung zu verstehen.«
»Sicher, dass sie nicht total irre ist?«, fragte Mile seine Schwester.
»Ja. Irre nicht. Nur etwas... wild und... nicht so ganz auf dem neusten Stand, wenn es um Benimmregeln geht. Das es unhöflich ist, ihren Besuch zu ermorden, scheint sie jedenfalls nicht zu wissen...«, antwortete Sabrina gedämpft. Lauter fuhr sie fort: »Wenn du etwas von uns willst, solltest du dich endlich klar ausdrücken. Wieso haben wir all diese Prüfungen absolvieren müssen?«
Eva sprang von dem Altar, leichtfüssig wie eine Katze und geschmeidig wie ein Aal. »Ich werde dich gerne aufklären, kleiner Schneegeist. Ihr seid Herrscher. Ihr seid mächtig und unberechenbar. Einer von euch hat mich vor sehr, sehr langer Zeit umgebracht. Nur wegen einem von euch müssen wir alle hier rastlos umherwandern, wo wir doch schon so lange Zeit endlich ruhen sollten! Wir haben euch die ganze Zeit beobachtet. Wir haben euch getestet und auf euch gewartet. Wir wollten sehen, wo eure Stärken und eure Schwächen liegen. Wir haben euch gezwungen, alleine und schutzlos ins Unbekannte zu wandern. Ihr musstet schlau sein. Ihr musstet Mut beweisen. Ihr musstet zusammenhalten und euch vertrauen. Ihr musstet euch beschützen und eure tiefsten Ängste und Geheimnisse preisgeben. Jetzt kennen wir eure Schwächen und Stärken. Wir kennen euch.«
Sabrina verstand, was die Wilde ihr damit sagen wollte. »Ihr habt all das nur für uns aufgebaut? All die Fallen und Rätsel? Ihr habt uns nachspioniert um sicher zu gehen, dass wir keine Gefahr sind.«
Eva lachte, nickte und fügte hinzu: »Fast richtig. Wir haben diese ganzen Prüfungen nicht aufgebaut. Ihr hättet sie so oder so machen müssen. Die Erinnerungsreise durch das Unterbewusste eines Orakels muss jeder machen, der mit den alten Orakeln Kontakt aufnehmen will. Das ist ein eingebauter Schutzmechanismus, den die Urherrscher entwickelt haben, um zu verhindern, dass jemand mit einem unreinen Herzen hierher gelangt. Jede Prüfung hilft beim Aussortieren: Die Feiglinge trauen sich erst gar nicht, ihre Reise zu beginnen. Die Dummen verstehen die Rätsel nicht. Die Sorglosen verirren sich. Die Bösen kämpfen gegen alles an. Die weisen wissen, wann es besser ist, zu fliehen. Die erfinderischen können sich selbst helfen. Die Aufmerksamen bemerken die Details. Die Starken überleben jede Katastrophe. Die Mutigen wagen das Risiko. Die Ausdauernden geben nicht auf. Die Ehrlichen haben keine Angst vor der Wahrheit. Die Liebenden wissen, was wichtig ist. Die Tapferen ertragen den Schmerz. Die Zielgerichteten kommen an.
Dieses System haben nicht wir ausgearbeitet, das waren die beteiligten Urherrscher.«
»Schön und gut«, brummte Mile. »Ihr wollt uns eure Hilfe anbieten. Aber was springt für euch dabei raus?«
Dieses Mal antwortete Mondkind. Sie wirkte etwas geknickt und irgendwie schuldbewusst, als sie sagte: »Die Herrscher haben die Orakel erschaffen, die Herrscher können sie wieder auslöschen. Mile, Sabrina, ihr könnt die Orakel von ihrem Fluch befreien. Ihr könnt uns... sterben lassen. Wirklich sterben lassen. Seht euch diese Geister hier an. Sie warten seit Jahren auf den Tod, der niemals kommt. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als den Tod. Den endgültigen Tod.«
Plötzlich kam Bewegung in die zuvor reglosen Geister. Allesamt beugten sie sich vor und fielen auf die Knie. Unzählige Stimmen hauchten ein einziges Wort: »Bitte!«
Sabrina keuchte und krallte ihre Nägel in ihre Brust, wo der Schmerz und das Flehen all der Ruhelosen auf sie einstürmte. Einzelne Gedankenfetzen rissen an ihrer mentalen Mauer:
»... schon so lange...«
»... tanzen auf ihren Gräbern...«
»... kann nicht mehr...«
»... hören nicht auf zu reden, sie hören nicht auf!«
»... wann? Wann?«

Mile zog sie hoch und legte einen Arm um ihre Schultern. Er hielt sie fest. Das musste er, denn sonst würde sie umknicken.
»Wie?«, keuchte Sabrina. »Wie können wir euer Leid beenden?«
Mondkind begann zu weinen. Sie lief zu Sabrina und umklammerte ihr Bein.
Eva beobachtete sie. In ihren Augen glaubte Sabrina kurz so etwas wie Mitleid oder Trauer zu erkennen, doch bevor sie sich sicher sein konnte, hatte das uralte Orakel auch schon wieder seine harte, wilde Maske aufgesetzt und antwortete knapp: »Schneegeist, du musst ihn töten.«
»Sabrina? Sie soll... töten?«, rief Mile.
»Den weissen König.«
Sabrina entglitt die Kontrolle über ihre Mimik. Vollkommenes Entsetzen machte sich auf ihrem Gesicht breit und sie krächzte: »Was?!«
»Wen?«, fragte Mile, dieses Mal noch nachdrücklicher.
»Den weissen König. Cernunnos, den weissen Hirsch.«
Sabrinas Herz setzte einen Schlag aus. Doppelt so schnell schlug es weiter.
»Nein«, hauchte sie und schrie es dann noch einmal: »Nein!«
»Nein?«, fragte Eva.
»Nein«, wiederholte Sabrina. »Nein, ich werde Cernunnos nicht töten. Er... er ist wohl das schönste Wesen, das in allen Welten existiert! Er ist so unglaublich, dass es einem den Verstand raubt. Er ist so unschuldig und rein... Die Dunklen haben ihm so viel Leid angetan, dass er unter all der Qual verrückt wird. Ihr Orakel müsst das doch kennen! Ihr müsst das doch verstehen! Wie könnt ihr nur von mir verlangen, ihn zu töten, wenn er doch schon genauso leiden musste wie ihr?«
Eva kam auf sie zu. Langsam, um Mile zu signalisieren, dass sie ihnen nichts tun würde. Sie legte ihre Hände um Sabrinas Gesicht und kam ihr so nahe, dass ihre Nasen sich berührten. Sie flüsterte: »Cernunnos ist mehr als nur ein schönes Tier. Besonders für dich, Sabrina. Cernunnos war dein erstes Geschöpf. Du hast ihn erschaffen. Ganz alleine. Gut, nicht du, aber deine Vorfahrin. Der erste Schneegeist. Ein Schneegeist hat ihn erschaffen, ein Schneegeist wird ihn töten. Cernunnos ist eine Sagengestalt, die in der sterblichen Welt immer wieder auftaucht. Für die Christen war er ein Symbol für Jesus und trug ein Kreuz zwischen seinen Hörnern. Die Kelten sahen in ihm eine Gottheit der Natur. Oh, kleiner Schneegeist, würdest du weiter forschen, würdest du so viele Hinweise über ihn in den alten Religionen der sterblichen Welt finden. Es hat nichts gegeben, das der erste Schneegeist mehr geliebt hat, als dieses Wesen. Aber diese Geschichte wurde schon lange vergessen. Nur ich kenne sie, denn ich war von Anfang an dabei. Wenn du mehr wissen willst, musst du nur zustimmen. Schwöre, Cernunnos zu töten und ich werde dir alles erzählen.«
»Lass sie in Ruhe!«, knurrte Mile und stiess die Wilde weg.
»Töte ihn, Sabrina Beltran. Töte ihn und wir Orakel werden die Prophezeiung für euch übersetzen. Ihr könnt das ohne uns nicht schaffen!«
Mile gab ein abfälliges Geräusch von sich und rief dann: »Höre ich richtig?! Euch ist schon klar, dass unser Scheitern die Märchenwelt endgültig in die Klauen der Dunklen treibt? Dann wird es keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft geben. Dunkelheit wird über die Welt brechen und nicht einmal ihr Orakel werdet wissen, wann der nächste Funke springen wird, der vielleicht ein neues Licht entflammen könnte.«
Eva schüttelte nur traurig den Kopf. »Verstehst du nicht, Feuerseele? Wir wollen keine Zukunft mehr. Wir sehen uns ein Ende herbei. Was kann schon schlimmer sein, als der Zustand, in dem wir jetzt leben? Herrscher, dies ist unsere letzte Chance. Deine Schwester muss Cernunnos töten, tut sie es nicht, sind wir womöglich auf ewig verdammt.«
»Ich kann ihn nicht töten«, zischte Sabrina. »Ich werde es nicht tun. Er ist unschuldig.«
Eva vorzog die Lippen zu einem abfälligen Strich. Sie fragte: »Ist das dein letztes Wort?«
Sabrina nickte.
Das erste Orakel fauchte wie ein Raubtier und knurrte dann: »Falls du deine Meinung ändern willst, sprich mit Mondkind. Sie kann jederzeit Kontakt zu uns Ruhelosen aufnehmen.« Die Wilde wandte sich an Mondkind, die sich noch immer leise weinend an Sabrinas rechtes Bein klammerte. Sie spürte die warmen Tränen auf ihre kalte Haut tropfen wie salziger Sommerregen. Das Orakel fauchte: »Bring sie zurück. Es gibt nichts mehr zu sagen.«
Die Orakel gingen. Jeder einzelne Geist kehrte ihnen den Rücken zu. Sie verschwanden im Nebel, wo sie hergekommen waren. Mondkind, Mile und Sabrina blieben zurück wie Aussätzige.
Sabrina sank auf die Knie. Eine plötzliche Panik überschwemmte ihre Sinne und sie keuchte: »Wir müssen sie zurückholen! Wir werden es nicht schaffen! Mile! Was geschieht, wenn wir die Dunklen nicht besiegen können? Wir müssen diese Prophezeiung verstehen, sonst werden wir alles verlieren!«
Sie fühlte, wie sich Miles starke, warme Arme um sie legten und sie fest an sich drückte. »Nein«, flüsterte er und streichelte ihr Haar. »Nein, das müssen wir nicht. Wir haben es bis hierher ohne sie geschafft und wir werden es auch weiterhin ohne Hilfe schaffen.«
Nun mischte sich auch Mondkind ein. Mit weinerlicher Stimme schniefte sie: »Es tut mir leid. Ich habe doch gesagt, dass sie manchmal böse sind. Aber sie wollen doch nur endlich tot sein, damit sie vergessen können, was ihre Seele krank gemacht hat. Ich will nicht, dass sie euch zu etwas zwingen. Das dürfen sie nicht, nein, nein, nein! Bitte, nicht böse sein!«
»Schon gut, Mondkind, du kannst ja nichts dafür. Sie sitzen in deinem Kopf. Sie sind ein Teil von dir«, murmelte Sabrina und schloss Mondkind in ihre Umarmung ein. Die Kleine seufzte erleichtert und meinte dann: »Ihr müsst jetzt die Augen schliessen.«
Die Geschwister nickten und schlossen ihre Augen...

Sabrina hatte einen Alptraum. Sie war eine Marionette und konnte sich nicht selbstständig bewegen. Sie hing an dünnen Seilen, die für sie ihre Gliedmassen bewegten und immer wieder die gleiche Bewegung ausführten. Pausenlos wurde ihr Arm hochgerissen und dann wieder fallen gelassen, wodurch der Dolch in ihrer Hand wieder und wieder auf den Hals des weissen Hirsches niedersauste, der vor ihr lag. Der Hirsch starb nicht. Seine Augen fixierten sie und er schrie mit der Stimme von Eril: »Mörderin! Mörderin!«
Über sich hörte sie auf einmal Eva lachen. Das erste Orakel schrie: »Du musst es tun! Du hast keine Wahl!«
Panische Angst ergriff sie und sie wollte weglaufen, doch sie konnte nicht. Sie war in ihrem Körper gefangen. Und Erils Stimme wurde lauter. Evas Lachen glich immer mehr einem irren kreischen. Und auf einmal verwandelte sich der Hirsch in einen Menschen und vor ihr lag Arillis. Arillis mit aufgeschlitzter Brust. Jetzt riss die Tote den Mund auf und schrie mit ihrer eigenen Stimme: »Sabrina! Eisprinzessin! Mörderin! Sabrina! Eisprinzessin! Mörderin!«

Sie sass aufrecht im Bett. Die Augen weit aufgerissen. Schreiend. Schweissgebadet.
Erst langsam wurde ihr bewusst, dass sie geträumt hatte. Noch während sie ihre Erleichterung genoss, traf sie etwas und warf sie zurück auf die Matratze. Eine bekannte Stimme an ihrem Ort flüsterte Worte, die sie im ersten Moment nicht verstand. Also konzentrierte sie sich und horchte genau hin: »... zurück! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Du hast im Schlaf oft geschrien, weisst du das? Ich konnte dir nicht helfen, das hat mich fas t verrückt gemacht. Drei Tage, Sabrina! Drei Tage! Drei verfluchte Tage bist du weg gewesen. Ich bin hier fast wahnsinnig geworden, bei Klyuss!«
Sofort war ihr klar, wer sie da umgeworfen hatte.
»Falk«, hauchte sie und lachte, als sie feststellte, wie gut es tat, seinen Namen auszusprechen. Also tat sie es gleich noch mal: »Falk!«
»Ich bin da«, brummte seine kratzige Piratenstimme.
Viel zu früh löste er sich von ihr, brachte es jedoch nicht über sich, sie ganz loszulassen. Er sass neben ihr auf der Bettkante und lächelte sie an. Oh, wie sie diese bodenlosen Ozeanaugen vermisst hatte.
»Mile? Mile? Wieso wacht er nicht auf?«, fragte jemand neben ihr. Das war Reds Stimme und Sabrina drehte sich zu der Roten um. Sie Kniete neben dem Bett und rüttelte den jungen Lichterlord an der Schulter.
»Er... wacht nicht auf?«, fragte Sabrina verwirrt. Ihre Stimme war rau, als hätte sie sie Tage lang nicht benutzt. »Er wacht... wacht nicht auf?!« Die Wörter hatten erst jetzt Sinn. Mile wachte nicht auf! Ihr Blick zuckte zu ihrem Bruder, dessen lebloser Körper noch immer neben ihr lag. Er schlief noch immer. Sein Gesicht zeigte keine Emotionen. Er sah völlig entspannt aus...
»Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung! Das war Miles erste Traumreise. Das setzt einen meistens ein paar Stunden oder Tage ausser Gefecht«, beschwichtigte eine weitere Person, die Sabrina als Jeremy Topper identifizierte. Ihr Gehirn schien langsam wieder sein normales Denktempo zu erreichen.
»Was?! Tage?!«, fragte Red.
»Oder Stunden. Das kommt darauf an. Er wird sich wieder erholen. Keine Panik!«, beschwichtigte der Hutmacher Rotkäppchen, die diese Auskunft seufzend hinnahm und Sabrina ebenfalls begrüsste: »Hey Sabrina. Geht es dir gut?«
Sabrina nickte. Etwas abwesend huschte ihr Blick durch den Raum und blieb an Nebelfinger hängen, der gerade seine geliebte kleine Schwester begrüsste... oder besser tröstete, denn Mondkind war noch immer völlig aufgelöst. »Sie waren wieder so böse. Sie wollen Sabrina zwingen, den Weissen zu töten, damit auch sie tot sein dürfen!«, jammerte die Vierjährige wirr und benutzte den Zipfel ihres Kleides als Taschentuch.
»Du bist zurück! Und du bist keine Gurke!«, jubelte es über ihr und ein schwarzes Etwas plumpste ihr in den Schoss. Faritales, der Nachtmahr liess es sich natürlich auch nicht nehmen, sie überschwänglich zu begrüssen. »Und? Wie war's so in der Birne der kleinen Irren? Ich hoffe doch, ihr habt bei der Süssen keine bleibenden Schäden angerichtet. Wobei... das würde wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr machen. Mondkind ist ja schon ziemlich plemplem...«, plapperte er und sprang wild auf und ab.
Sabrina dachte an ihre lange Reise zurück, was ihr einige Dinge in Erinnerung rief, die sie lieber vergessen hätte. Allem voran das Geschäft, dass das erste Orakel Eva ihr vorgeschlagen hatte, gefolgt von dem schrecklichen Traum, der sie gerade noch geplagt hatte.
Ihr wurde schlecht. Ein Klos bildete sich in ihrem Hals und sie überkam das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen.
»Ich... ich muss kurz weg...«, keuchte sie und stand auf.
»Was? Wohin?«, fragte Hook verwirrt.
»Frische... frische Luft«, stammelte sie und taumelte zur Tür. Sie riss sie auf und rannte los. Aus dem Rathaus und... irgendwohin. Einige Male wäre ihr beinahe schwarz vor Augen geworden, doch sie preschte einfach weiter, ignorierte ihre schmerzenden Lungen, die nach der langen Ruhezeit nicht mithalten konnten und atmete einfach so viel Luft, wie sie konnte. Irgendwann gab sie es auf, weiter zu rennen und sie setzte sich hin. Mitten auf die Strasse. Keine Ahnung, wo. Einfach irgendwo in Aramesia. Erst jetzt bemerkte sie, wie ausgestorben es hier war. Es war sehr frisch. Es musste jetzt früher Morgen sein...
Hinter ihr kamen Schritte näher. Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer ihr gefolgt war, denn es war ein unausgesprochenes Gesetz, dass er ihr immer und überallhin folgen würde, solange sie oder eine unanfechtbare Macht ihn nicht daran hindern konnte. Ausserdem würde sie ihn auch nur an dem Hauch seiner Aura wiedererkennen. Wild und sanft, voll Liebe und Schatten seiner Vergangenheit. Captain Falk James Jones Hook kam neben ihr zum Stehen und liess sich keuchend nieder.
Da sassen sie dann. Atmeten um die Wette und warteten darauf, dass einer von ihnen wieder genug Luft hatte, um sprechen zu können.
Irgendwann begann Sabrina zu weinen und Falk hielt sie fest, bis der ganze Schulterteil seines Ledermantels von einer dünnen Eisschicht aus ihren Tränen verkrustet war. Er musste nichts sagen. Er wartete einfach, bis sie bereit dazu war. Schliesslich war sie das auch und sie begann, sich all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, von der Seele zu reden.


~Mile~

Sabrina hatte ihm von diesem Ort erzählt. Oft genug. Sie hasste es, wenn sie hier sein musste und er konnte es gut verstehen. Hier war... einfach nichts. Kein Licht, kein Schatten, nur endlose Schwärze. Eva hatte es „Zwischenwelt" und Mondkind „Starre" genannt. Aber wieso war er hier? Er war weder Orakel noch ein Träumer! Das war Sabrinas Gabe, nicht seine.
»Lichterlord?«
Er wirbelte herum.
Da stand eine Frau in der Dunkelheit. Eine Geisterfrau. Ihr Haar war braun und leicht gelockt, ihr Gesicht war schön wie das einer Elfe. Sie musste etwa dreissig sein, das erkannte Mile trotz ihrer traurigen Augen, die sie älter machten. Sie war an mehreren Stellen tätowiert, doch am auffälligsten war ein schwarzes Wagenrad an ihrem Hals. Ihr dürrer Körper steckte in einem rotorangenen Kleid, das überall mit Flicken übersäht war. Sie trug viel Schmuck wie Armreife, Ketten und Ohrringe. Sie hätte ein ganz normaler Mensch sein können, eine hübsche junge Frau, die sich in der nächsten Schlacht als tapfere Rebellenkriegerin beweisen wollte. Sie hätte ihm irgendwo in einer der Gassen Aramesias begegnen könnte, doch nicht an diesem Ort. Mile sah sie und wusste sofort, was sie war. Ein ruheloses, wahnsinniges, totes Orakel. Die Farbe ihrer Augen verriet sie.
»Halt!«, rief Mile und riss beinahe schon reflexartig Kayat aus der Scheide. Sofort hatte er eine Verteidigungshaltung eingenommen.
»Nicht!«, jammerte das Orakel und brach zusammen. Auf Knien winselnd bettelte sie um ihr Leben.
»Schon... schon gut! Ich will dir nichts tun«, murmelte Mile verwirrt und steckte sein Schwert zurück. Sofort hatte er schlechtes Gewissen. Diese Frau war psychisch am Ende und er hatte nichts Besseres zu tun, als sie mit einem Schwert zu bedrohen? Reife Leistung! Auch wenn das Orakel schon tot war, aber Nebensache...
»Danke«, schluchzte die Frau und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Mile liess sich neben ihr ihr auf die Knie und fragte vorsichtig: »Wer bist du und was tue ich hier? Das ist doch die Starre, oder nicht? Hast du etwas damit zu tun, dass ich hier bin?«
Das Orakel lächelte und nickte. »Ja, das habe ich gemacht. Ich... ich heisse übrigens Marie. Und du bist Mile. Ist das nicht toll, dass unsere Namen beide mit M anfangen?« Die Frau und kicherte, als hätte er ihr gerade einen Witz erzählt.
»Ja... ja, ist es«, brummte Mile verwirrt und musterte die Frau. Da war irgendetwas, an das er sich erinnern musste. Etwas, das mit dieser Frau zu tun hatte. Es lag ihm praktisch auf der Zunge, nur...
»Moment! Sagtest du gerade, du würdest Marie heissen?«
Die Verrückte nickte.
Mile lachte auf. »Dann... dann bist du die Tochter dieser Frau! Du bist die Tochter der Kräuterhexe, die Mondkind damals zum Orakel gemacht hat, oder?«
»Ja, ja, ja! Das bin ich, das ist wahr!«, lachte Marie und strahlte.
Mile schüttelte den Kopf. Was für ein verworrenes Chaos aus Geschehnissen, die am Ende irgendwie eine Lösung dieses Rätsels namens Leben ergeben sollte. Langsam fragte er: »Okay... und wieso hast du mich hierher gebracht? Und wie hast du das überhaupt hinbekommen? Ich dachte, der Tempel der Orakel ist ein Teil der Zwischenwelt, der nicht mit dem Rest verbunden ist?«
»Als Mondkind zum Orakel wurde, hat das das Gleichgewicht gestört und meine Verbindung zu meiner Tochter, die die das ursprüngliche Orakel vor Mondkind war, abgerissen. So jedenfalls erkläre ich es mir. Irgendwann habe ich dann ein Schlupfloch gefunden und konnte in die Starre entwischen. Die anderen toten Orakel können das nicht, ist das nicht lustig?«, jubelte Marie.
»Ähm... ja, total. Und ich bin hier, weil...«
»Weil wir hier sicher vor den anderen sind. Hier können sie uns nicht belauschen und ich kann ungestört mit dir reden.«
Mile lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Arme und musterte Marie skeptisch. Ihre Amethystaugen erwiderten seinen Blick mit einem irren Funkeln.
»Niemand weiss, dass ich mit dir spreche. Niemand. Nicht einmal Mondkind«, verkündete das Orakel stolz.
Mile beschloss, sich auf das hier einzulassen und er fragte: »In Ordnung. Was ist denn so wichtig? Was musst du mit erzählen können, ohne dass die anderen Orakel davon wissen?«
Marie duckte sich und sprang ihn an. Dank des Überraschungsmoments schaffte sie es, Mile auf den Rücken zu werfen. Sie packte ihn am Kragen und riss sein Hemd so ruckartig hoch, dass er die Nähte reissen hörte und ihm der gespannte Stoff auf die Kehle drückte.
»Ihr dürft nicht auf sie hören, ist das klar? Ihr dürft es nicht!«, schrie Marie wie von Sinnen und beugte sich zu ihm herab, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Wenn sie ihn tötet, wird die Zukunft sich verändern. Sie wird nicht die, die wir vorhergesehen haben...« Sie liess ihn los und krabbelte von ihm runter.
Mile hustete und fragte mit gepresster Stimme: »Meinst du... meinst du Cernunnos?«
»Ja. Ja doch, ja!«, zischte Marie. Sie hatte sich gesetzt, die Knie angezogen und die Arme um sich geschlungen. Nervös wippte sie vor und zurück. Ihr Blick zuckte umher wie der eines Tiers, das sich gefangen fühlte.
»Und... warum nicht? Wieso erzählst du mir das? All die anderen Orakel sind doch für Cernunnos' Tötung.«
»Weil«, flüsterte Marie und Mile musste sich anstrengen, um sie verstehen zu können, »das die Zukunft verändern würde.«
»Erklär mir das«, verlangte Mile.
Marie verdrehte die Augen und meinte: »Ich weiss nicht alles, Lichterlord. Ich kann nur sagen, dass die Erste glaubt, der weisse König sei der Schlüssel! Der weisse König ist ein Schlüssel! Schlüssel! Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel...«
»Ist ja gut«, unterbrach sie Mile. »Ein Schlüssel für was?«
»Für den Tod«, hechelte das Orakel, das ganz aus der Puste war.
»Okay. Ich interpretiere das jetzt mal so: Cernunnos ist der Schlüssel zum Tod. Wenn Sabrina ihn tötet, dann könnt ihr Orakel auf irgendeine abgespacte Art sterben, oder?«
»Ja«, antwortete Marie gedehnt. »Aber das darf nicht passieren.«
»Und warum? Irgendwie habe ich das Gefühl, wir drehen uns hier im Kreis. Ich frage dich dauernd das gleiche!«, maulte Mile, der eigentlich nichts mehr wollte, als endlich aus diesem Wahnsinn aufzuwachen.
»Weil es die Zukunft verändern würde!«
»Ist das schlecht?«
»Wenn du nicht auf die Apokalypse stehst, dann schon.«
»Apokalypse?!« Okay, jetzt war der Spass endgültig vorbei. »Meinst du das ernst oder bist du einfach nur nicht ganz dicht?«
Marie sah ihn empört an und rief: »Natürlich! Was glaubst du, wieso wir so aufwändige Prophezeiungen zusammendichten? Nur so zum Spass?«
»Soll das heissen, dass in der Prophezeiung steht, wir dürfen Cernunnos nicht töten?«
Marie nickte.
»Wieso könnt ihr das denn nicht auch genauso deutlich in euren Prophezeiungen deutlich machen! Aber ehrlichgesagt: Ich glaube kaum, dass Sabrina Cernunnos töten würde. Das ist sie nicht. Das würde sie nicht tun«, seufzte Mile.
Das Orakel sah ihn durchdringend an. Verrückt hin oder her, das hier schien ihr wirklich unglaublich wichtig zu sein. Voller unanzweifelbarer Überzeugung sagte sie klar und deutlich: »Lichterlord, du musst das ernst nehmen. Du darfst auf keinen Fall zulassen, dass deine Schwester Cernunnos tötet! Er ist die erste Schöpfung der Eisprinzessin. Nur sie kann ihn töten. Du darfst das nicht zulassen! Das darf nicht passieren! Nie, niemals!«
Mile nickte. Er hatte verstanden, aber eine Frage brannte ihm noch immer auf der Zunge, also stellte er sie: »Wieso sagst du das? Wieso hilfst du uns? Willst du nicht sterben wie all die anderen Orakel?«
Marie lächelte und Mile wurde klar, wie schön das Orakel eigentlich zu Lebzeiten gewesen sein musste. Dachte man sich den wahnsinnigen Blick, die tiefen Schatten unter den Augen und die eingefallenen Wangen weg, konnte man es sehen, diese natürliche Schönheit und Ausstrahlung...
Der Geist streckte seine Hand aus und berührte leicht seine Wange. Wie kalt sie doch war...
»Junger Lichterlord, du kannst es nicht wissen, hast es vergessen. Glücksmarie, Pechmarie. Ich hatte Pech, denn ich starb. Mein Glück ist mein Kind. Meine Tochter, die kein Orakel wurde, dank Mondkind, die diesen Fluch auf sich nahm. Die anderen Orakel haben keine Familie mehr, die ihren sind schon lange tot. Ihnen ist egal, was mit der Welt geschieht, sie wollen nur noch gehen.«
Mile riss die Augen auf. »Deine Tochter!«
Tränen liefen über ihr schmales Gesicht und sie wimmerte: »Sie schafft es nicht ohne mich, mein gutes, gutes Mädchen. Meine Mutter kann für sich sorgen, aber meine Kleine...«
Mile zögerte. Er breitete seine Arme aus und der Geist nahm seine Einladung dankend an. Ihren toten Körper an seinen gepresst flüsterte sie ihm ins Ohr: »Du musst sie finden und ihr helfen. Sag ihr, dass ich sie liebe. Und... und du musst sie warnen! Warne sie vor ihrem Vater! Du musst sie vor ihm warnen. Er... er ist böse. Böse geworden. Diese Seite kannte ich nicht an ihm, habe sie nie an ihm gesehen. Aber als ich starb und Mutter mein Kind mit sich nahm, da wurde er... schlecht! Er hat sich den Schatten zugewandt, hat die Seite gewechselt. Du musst sie vor ihm beschützen. Er darf sie niemals finden. Er soll denken, sie sei tot. Selbst das wird ihn nicht abhalten. Er darf sie nicht finden!«
Mile nickte. Das Mitleid überschwemmte seinen Verstand und er fragte: »Wo ist sie?«
Da schluchzte die Wahnsinnige erneut auf und rief: »Ich weiss es nicht!«
»Okay. Marie, ich werde nach ihr Ausschau halten. Wo ich auch hingehe. Irgendwann werde ich sie finden, ganz bestimmt«, tröstete er das Orakel. Verdammt, er konnte es einfach nicht ertragen, wenn Unschuldige weinten. Selbst wenn es der Geist eines verrückten Orakels war.
»Danke, junger Lord«, flüsterte das Orakel und lächelte. »Lebe wohl, Herrscher Mile, denk an das, was ich dir gesagt habe und vergiss mich nicht...«
Dann legten sich die Schatten der Starre über sie und wenige Sekunden später hatte die Dunkelheit auch ihn erreicht und begann, seine Seele damit zu überschwemmen, bis er im Nichts verschwand...


---------------

Hallo zum dritten Mal^^

Das war es also, das grosse Finale des heutigen Kapitel-Marathons von „The World of Story". Ich hoffe, es hat euch gefallen und ihr beehrt mich bald wieder xD

Mondkind ist eine wichtige Schlüsselfigur in meinem Buch. Wenn ihr bei dieser ganzen Mondkind ist ein Orakel-Geschichte jetzt also nicht so ganz alles kapiert habt, dann fragt. Ich verbessere und helfe gerne^^

Danke, dass ihr mir trotz der langen Wartezeit treu geblieben seid! Da tut meine verschnupfte Nase gleich ein Bisschen weniger weh. Hehe *hatschi*

Vielleicht fragt ihr euch: Alta, wieso ackert die eigentlich diese ganzen drei Kapitel heute ab?!
Das liegt daran, dass ich endlich wieder zum roten Faden der Geschichte zurückkehren wollte. Natürlich waren die letzten Kapitel über Mondkinds Vergangenheit und der ganze Orakelkram nicht völlig „unnütz" oder so. Im Gegenteil, er ist sogar sehr, sehr wichtig. Auch für den zweiten Teil. Aber sein wir ehrlich: Wir alle vermissen doch Red, Hook, Jeremy Topper und wie sie alle heissen.
Sabrina & Mile Returns! Wenn wir uns also das nächste Mal... schreiben... geht es endlich wieder in der Märchenwelt ab wie... wie es Zäpflie! Grüezie liebi Schwizer! ;P

Also dann, bis zum zurückkommentieren eurer Kommentare *VorVorfreudePlatz*!

Liebe Grüsse,
Eure Dreamtravel! :D

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