🌊Der Stern des Meeres🌊*Watt...

By Thyrala

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1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie be... More

Personenverzeichnis
Vorwort
Schiffbruch
Gestrandet
Ein neues Leben
Gefährliche Wattwelt
Das Gold der Uthlande
Der Blanke Hans
Schicksal
Der Gast
Eilien
Unterricht
Matt
Der Luftgeist
Absturz
Zehn Tage
Die Strafe
Aussprache / Amrum
Strandjer
Pläne
Ein Geheimnis
Abschied
Sehnsucht
Bleiben oder gehen
Hindernisse
Abfahrt
Leinen los!
Von Bilge und Back
Der Quartiermeister
Von Gesangbuch und Knoten
Hoch hinaus
Gegenwind
Der Teufel an Bord
Die schwarze Liste
Durchhalten
Der Geist
Kräftemessen
Waffenstillstand
Atempause
Rivalen
In geheimer Mission
Der Schwur
Von Kanonen und Schwarzpulver I
Von Kanonen und Schwarzpulver II
Mann gegen Mann
Gerrit
Drill und Seepest
Türkisblau
Hitze
Vorzeichen
Im Auge des Sturms I
Im Auge des Sturms II
Der neue Navigator
Konfrontation

Freunde

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By Thyrala

Lorena war gerade dabei, die angebrannten Essensreste aus dem Kochkessel zu schaben, als es  an der Tür klopfte. Froh über die Unterbrechung dieser langweiligen Arbeit, warf sie die Bürste in die Ecke und machte auf.

Draußen stand Sieverd Brodersen, der Sohn des Salzvogts. Er wirkte ziemlich nervös. „Ist Hauke da?", fragte er.

Sie wollte ihm erst vorflunkern, er sei im Watt unterwegs, aber das leichte Zittern in Sieverds Stimme stimmte sie mitleidig, und so antwortete sie offen und ehrlich. „Ja, er ist da, aber er schläft. Ist es dringend?"

„Ja! Es geht um meinen Vater - aber mehr noch um die Edomsharde. Weck' Hauke - bitte!!" In Sieverds Blick flackerte Angst, und so drang sie nicht länger in ihn. Hoffentlich machte Hauke keinen Ärger! Er schlief nämlich gerade seinen Rausch aus. Zwar hatte er längere Zeit dem Schnaps widerstanden, doch gestern Abend hatte er Glas um Glas geleert, zwar nur einen wasserverdünnten Kornschnaps, doch es hatte gereicht. Immerhin war er friedlich geblieben, hatte auf dem breiten Lehnstuhl in der Ecke gesessen, ins Leere gestarrt und mit seinen inneren Dämonen gerungen. Als er eingenickt war, hatte er sich - halb gezogen, halb geschoben - von ihr widerstandslos in sein Bett bringen lassen, er, der große, schwere Mann, aber es war ihr gelungen. Nun schlief er schon seit Stunden. Ob er überhaupt in der Lage war, Sieverd anzuhören?

Es nutzte aber nichts, stehenzubleiben und auf eine Lösung zu warten, da musste sie schon selbst nachsehen. Sie bat Sieverd, im Flur zu warten, ging zum Alkoven, pochte leise an und rief Haukes Namen. Sie musste ihn viermal wiederholen, ehe sich drinnen etwas rührte. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit ...

„Hä?", knurrte es heraus.

„Sieverd ist da! Ist dringend!", rief sie.

Da raschelte es etwas lauter, erst schwangen die Füße heraus, suchten Halt auf den Boden und danach ließ sich Hauke ganz sehen. Ein kurzer Blick auf ihn genügte, und sie war beruhigt. Seine Augen blickten klar und wach. Schnell strich er sich mit beiden Händen die zerzausten Haare glatt, ließ sich von ihr einen Hausmantel geben und zog ihn an.

Gemächlich schritt er zur Tür, und ohne hochzusehen, fragte er frostig: „Hrm?" in Sieverds Richtung.

Dieser ließ sich durch Haukes abweisendes Verhalten nicht aus der Ruhe bringen und bat im höflichen Ton: „Mein Vater lässt dich bitten, ob du die Reparaturen an seinem Deichstück beaufsichtigen könntest, so für zwei oder drei Wochen. Vater kann's nicht, er liegt mit einer Lungenentzündung im Bett und darf nicht aufstehen, und ich selber muss geschäftlich noch heute nach Husum. Gerade jetzt sind wichtige Arbeiten im Gange, die den Deich gegen die winterlichen Sturmfluten rüsten sollen. Du kannst gerne solange in unserem Haus wohnen, bis mein Vater wieder bei Kräften ist. Willst du's tun?"

Gespannt beobachtete Lorena, wie Hauke reagieren würde. Jetzt verstand sie Sieverds Furcht! Nach dem Deichrecht ereilte denjenigen, der seine Deichstrecke vernachlässigte, eine schreckliche Strafe, wenn andere dadurch zu Schaden kamen. Das Haus des Verursachers wurde niedergerissen und er selbst lebendig darin begraben. Für Sieverds Vater ging es also um Leben und Tod!

Auch Hauke schien nun zu begreifen ... aus seiner Miene verschwand plötzlich jede Schroffheit und sagte sofort: „Richte Tjark aus, ich habe die alte Freundschaft nicht vergessen. Ich komme!"

Hoffnungsvoll fragte Sieverd: „Ist es vielleicht sofort möglich? Ich kann dich in meinem Wagen mitnehmen."

Hauke nickte. „Joh, das geht! - Lyka, pack' meine Sachen!" Seine Stimme klang fest und sicher; es schien, als sei die alte Tatkraft wieder zurückgekehrt.

Er wird gebraucht, das ist es, dachte Lorena, während sie alles Benötigte zusammensuchte. Auf diese Weise kann er seine Ehre Stück für Stück wieder zurückgewinnen. Dass er ausgerechnet den Salzvogt vertreten soll, wird den Leuten zeigen, welch' wichtigen Stellenwert er noch einnimmt. Sie freute sich für ihn - und für sich selbst. Dieser Augenblick war günstig - Hauke fort! Und das für längere Zeit! Knapp zwei Wochen war es her, seit sie mit Janko auf Amrum gewesen war. Es blieben noch vier Stunden bis zum Treffen; diesmal würde sie sich früher als sonst zum Deich begeben und auf ihn warten. Sie wollte keine Minute verpassen. Ihre Zeit war gekommen.

Es war, als ob Janko es im Gespür gehabt hätte. Früher als gewohnt tauchte er auf. Nach der kurzen Begrüßung berichtete sie sofort, was geschehen war. Auch Janko hatte sich schon über Tjarks Abwesenheit gewundert und freute sich ebenso über die günstige Wende. Es passte alles zusammen, sowohl für Hauke als auch für ihr Vorhaben. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen beim Eintreffen der Flut. Sogar die Gezeiten spielten mit!

Pünktlich mit der auflaufenden Flut fand sich Janko mit dem Boot ein und verkündete strahlend: „Ich hab' mir was ausgedacht, aber das verrate ich dir noch nicht!"

Natürlich platzte Lorena fast vor Neugier; aber sie unterließ es, Fragen zu stellen. Eher würden die Fische reden, als dass Janko den Mund aufmachte. Lieber erzählte sie während der Überfahrt, welche Fortschritte sie beim Schwimmen gemacht hatte und schwärmte, wie wohl es täte und wie erfrischend es sei. Zwischendurch nickte ihr Janko einige Male mit einem komplizenhaften Grinsen zu, was wohl besagen sollte: „Na, siehste!" und ruderte so emsig, als würden sie von sämtlichen Strandvögten der Uthlande gejagt. Er wollte wohl keine Minute ihrer geschenkten Zeit verpassen.

Am Strand hieß er sie, auf ihn zu warten, er würde bald zurückkehren. Rasch verschwand er hinter den Dünen. Sie war gekränkt. Warum durfte sie nicht mitgehen? Hatte er Geheimnisse vor ihr? Voller Ungeduld spazierte sie am Ufer auf und ab, bis sie die genaue Position sämtlicher Muscheln auswendig wusste. Gerade wollte sie sich fürchterlich langweilen, da tauchte im Wasser der Kopf einer Robbe auf. Verspielt peitschte sie die Wellen mit ihrem Schwanz, als wollte sie ein Tänzchen aufführen. Sie musste lauthals lachen.

„Was ist da so lustig?", erscholl Jankos Stimme hinter ihr.

Lorena drehte sich um und sah ihn mit drei Begleitern auf sich zukommen. Na endlich!

Sie schätzte die Fremden auf Anfang Zwanzig; sie trugen abgetragene, aber saubere Kleidung, die mehrfach geflickt war. Der eine war ein Bär von einem Kerl mit wuscheligem Braunhaar und krausem Vollbart, die anderen zwei waren der vollkommene Gegensatz zu ihm: hochgewachsen, schlaksig, fast dürr, hatten braungebrannte, scharfgeschnittene Gesichter und dazu sonnengebleichte Haare. Sie sahen einander ähnlich.

Lachend schlug Janko den beiden auf die Schulter. „Der da mit dem finsteren Blick ist Sjard Quedens, und neben ihm steht sein Bruder Roluf, beide sind Amrumer und Seefahrer. Gestern Abend sind die beiden zurückgekommen; zwei Jahre waren sie mit 'nem Handelsschiff unterwegs!"

„Zwei Jahre! So lange?", staunte Lorena.

Verächtlich verzog Sjard den schmalen Mund. „Das ist sogar kurz, viele Fahrten dauern länger! Wir haben oft guten Wind gehabt, bloß drei Stürme waren dabei, die uns richtige Plackerei gebracht haben. Schon beim ersten dachte ich, unsere letzte Stunde hätte geschlagen!"

„Und der hier ..." Janko wies auf den Bären. „... der heißt Ove Brinkma. Wohnt nebenan auf Westerland-Föhr und ist mein bester Freund, seit er mich in einem Sturm aufgefischt hatte!"

Oves Lachen rollte wie Donner. „Wozu bin ich sonst Fischer? Ich habe nur meine Arbeit getan."

„Hättest du die wirklich getan, wäre ich wohl nicht mehr lebendig. Deinen Fang nimmst du normalerweise aus und hängst ihn zum Räuchern auf!"

„Ja, da hab' ich was versäumt", versetzte Ove launig, „dich hätte ich lieber in Wasser einlegen, salzen und trocknen sollen ... taugst besser zu einem Stockfisch!"

„Danke für die Ehre! Stockfisch ist lange haltbar, sein Fleisch zart ..."

„Klasse Idee! Das nächste Mal kommst du ganz gewiss mit; so brauchen wir uns um das Essen nicht mehr zu sorgen", ulkte Roluf.

Janko zeigte ihm lächelnd die Zähne. „Ja, ich bin ein gefundenes Fressen für euch, sag' schon! Aber nun seht mal her ..." Er legte Lorena die Hände auf die Schultern und schob sie vor.

„Das ist Lyka Eissen von Strand. Sie braucht ein bisschen Unterstützung. Sie kriegt Schläge zu Hause, der Alte ist manchmal betrunken. Ich möchte nicht, dass es eines Tages schief geht, dazu ist sie zu hübsch, nich'?"

Zustimmendes Murmeln von allen. Weitere Fragen kamen nicht; Jankos Freunde machten genauso wenig Worte.

„Ich möchte, dass ihr Lyka beibringt, wie man kämpft. Der Älteste und Erfahrenste von uns ist Ove. Komm' mal her!"

Ove trat zögernd vor. „Wenn du meinst, Janko. Aber ich bin viel zu stark für sie, teile ihr lieber einen leichteren Gegner zu!"

Zweifelnd betrachtete Lorena Oves baumstammdicke Arme. Hoffentlich suchte Janko einen anderen aus! Den hier traute sie sich nicht zu! Sie öffnete den Mund, um zu protestieren ... und schloss ihn wieder, denn sie ahnte, was er damit bezweckte. Das Schwimmen lernen war nur eine erste Lektion. Und die nötige Geduld aufzubringen, eine Gefahr solange abzuwarten, bis man sie einschätzen und reagieren konnte, das hatte der blanke Hans sie gelehrt, dies konnte sie schon. So wartete sie nur gespannt auf Jankos Antwort.

Er schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Hauke Eissen ist kein leichter Gegner, und ihn hat Lyka bezwungen – ja, das habt ihr richtig gehört! Das will schon was heißen! Nee, Ove, es bleibt dabei, du machst den Anfang, dann sehen wir gleich, woran wir bei ihr sind."

„Na, gut, von mir aus." Er trat zu Lorena und grinste sie an. „Fangen wir an! Zuerst ringen wir miteinander."

Sogleich packte er zu. Der Druck seiner Finger war dermaßen kräftig, dass sie vor Schmerz aufschrie.

Ove ließ sofort los. „Ich hab's ja gesagt! Dabei war ich noch vorsichtig!"

Janko blieb stur. „Mir egal! Entweder hält Lyka das aus oder sie ist nicht die, wofür ich sie halte. – Vorwärts, ihr zwei! Verdammt, macht schon!"

Durch Ove ging ein Ruck, er fasste erneut zu. Diesmal war Lorena besser vorbereitet, riss sofort die Fäuste hoch und stieß sich mit einer gleichzeitigen Kehrtwendung von ihm ab.

„Hei, du bist ja schlüpfrig wie ein Fisch!", staunte Ove.

Janko lachte. „Du als Fischer musst es ja wissen! Vermutlich ist sie sogar einer. So schnell wie die schwimmen gelernt hat, habe ich noch nie gesehen!"

Oves braune Knopfaugen wurden noch runder. „Lyka soll wirklich eine Dirn sein? Oder ist sie doch ein Bursch?"

Janko tat entsetzt. „Au weia, das hab' ich noch gar nicht 'rausgefunden!"

„Was?! Hast du alles verlernt? Bist du Jungfrau geworden? Aber die Wahrheit werden wir gleich sehen! – Komm her, Lyka, oder hast du Angst?", lockte Ove.

„Pah!" Kampflustig stürzte sie sich auf ihn. Sie rangen miteinander, dann gelang es Ove, sie zu umklammern. Eine Zeitlang konnte sie ihm widerstehen, doch sein immer härterer Griff presste ihr die Luft ab, und sie war nahe dran, ihn um Gnade zu bitten. Schließlich wollte sie ihn nicht ernsthaft verletzen – sie hätte ihm mit dem Finger in die Augen stechen können, eine Hand hatte sie noch frei ... aber das tat man nicht mit Freunden.

Doch da machte Ove einen Fehler, er presste ihre Hand zu stark. Sie schrie auf vor Schmerz -

... reflexartig stieß sie das Knie hoch, Ove grunzte auf und ließ sie los. Er taumelte, brach in die Knie, die Hände um seine Männlichkeit geschmiegt, kippte zur Seite und blieb benommen liegen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wälzte er sich auf den Rücken und schnappte nach Luft.

„Oh, entschuldige!! Ich wollte das nicht, aber du hast mir wehgetan ...", rief Lorena bestürzt. Da hatte sie ihn schonen wollen, und jetzt das!

Ove hob im Liegen die Hand, japste:. „Gib' mir noch etwas Zeit ..." Es dauerte etwas, aber dann rollte er sich herum, raffte sich auf. Die Arme in die Seiten gestützt, blieb er stehen und schnaufte. „Gar nicht schlecht, da hast du richtig reagiert – aber mach' das nicht nochmal!!"

„Bestimmt nicht", versicherte sie.

Er ging einige Schritte – dann lief er plötzlich los und rammte sie mit voller Wucht. Ihr war es, als hätte sie ein Pferd getreten und flog zu Boden. Sofort kniete Ove zwischen ihren Beinen und hielt sie bei den Armen fest. Sie fühlte sich wie in Eisen geschmiedet.

„Lass dich niemals überraschen! Jetzt weißt du nicht mehr weiter, wie?", fragte er süffisant.

Sie konnte nur hilflos den Kopf herumwerfen.

Ove grinste. „Du fühlst dich jedenfalls an wie eine Dirn. An einigen Stellen bist du weicher ..."

Lorena erstarrte.

„Komm' schon, Ove, quatsch' nicht soviel, zeig' ihr, wie's geht", mischte sich Sjard ungeduldig ein.

Ove knurrte. „Na schön. Es gibt da einen Trick ..."

Er beugte sich zu ihr hinunter. Sand rieselte aus seinen Haaren, genau in ihre Augen, tausend Körnchen, die brannten wie die Hölle. Sie bäumte sich auf. Also doch! Janko hatte gelogen, heimtückisch ihr Vertrauen missbraucht! Jetzt war sie dran. Wie blöd war sie gewesen!

„So. Jetzt die Knie, die Beine hoch, mit aller Kraft stoßen – und gleichzeitig wegrollen. Ich mache mich leichter, versuch's mal."

„Äh – wie?"

„Wie – wie?", äffte er sie nach. „Ich will dir einen Trick beibringen, da musst du schon genau tun, was ich sage, sonst klappt's nich."

„Ach so ..." seufzte sie erleichtert. „Ich dachte, du wolltest ..."

„Du sollst nicht denken, sondern machen!"

Aber gerne! Lorenas Eifer erwachte. Aber Ove war schwer, so schwer! Sie versuchte es einige Male, bald war sie schweißnass.

„Du musst dich drehen! So ... ein wenig mehr zur Seite, so kannst du dich besser abstoßen!!"

Sie versuchte es wieder. Und wieder. Und plötzlich war sie in die richtige Position gerutscht, wirbelte mit den Beinen ... stieß ihn von sich weg, setzte nach ... er wich immer weiter zurück, um keine Tritte gegen den Kopf abzubekommen. Damit war der Kampf zu Ende.

„Na, geht doch!", lobte er, stand auf und reichte ihr die Hand, zog sie hoch. „Kraft ist nicht alles, auf Geschick und Schnelligkeit kommt es an!"

Lorena war abgekämpft, aber glücklich. Sie hatte es geschafft! Besonders froh war sie darüber, sich in ihnen getäuscht zu haben. In dem Moment, als Ove über ihr war, hatte sie geglaubt, alles sei ein abgekartetes Spiel gewesen und sie wollten sie nacheinander vergewaltigen. Aber Ove hatte ihr nur wie versprochen einen Kunstgriff beigebracht.

„Das war jetzt nur eine Möglichkeit", setzte Janko nach. „Du hättest die Beine auch hinter seinem Rücken kreuzen, ihn umklammern und die Rippen zusammenpressen können. Bei deinen langen, kräftigen Beinen ist das für dich ein Klacks!"

Sie hob die Schultern. „Auf solche Ideen bin ich noch gar nicht gekommen!"

Da ließ sich Roluf zum ersten Mal vernehmen. „Musstest du bisher auch nicht, lebst ja auf dem glücklichen Strand, wo Anstand, Sitte und Ehre besonders hochgehalten und selbst kleine Vergehen hart bestraft werden. Die Töchter des Strandes werden besonders geschützt, so wie die Insel selber! Aber die Welt draußen ist anders, kann sehr hart und böse sein."

Lorena musste lachen. „Da bin ich ja froh, dass ihr mir beibringen wollt, wie ich mich wehren kann!"

Die Freunde stimmten in ihr Gelächter ein, kamen herzu und umringten sie. Anerkennend klopften sie ihr auf die Schulter, lobten: „Hast starke Muskeln, Lyka. Alle Achtung!"

Sie strahlte und ließ es zu, dass ihre Armmuskeln befühlt und betastet wurden. „Das ist vom tuulgraben!", erklärte sie stolz.

Die Jungs waren baff. „Ehrlich, dabei hast du mitgemacht? Bei einer solch schweren Arbeit?" Sie betrachteten sie voller Respekt. Lorena lächelte bescheiden. Besser hätte es nicht laufen können.

Auch Janko schien sehr zufrieden. „Sehr gut, Lyka, ich habe mich in dir nicht getäuscht. Wer Hauke Eissen zu widerstehen wagt, ist zu mehr fähig. – Schau mal, was ich um den Hals trage." Er knöpfte sein Hemd auf und ließ ein Lederhalsband sehen, an dem ein tropfenförmiger, durchsichtiger goldbrauner Stein baumelte.

Sie trat näher und nahm ihn in die Hand. Er fühlte sich weich und warm an.

„Das ist Bernstein", erklärte er. „Wir vier tragen ihn alle. Und du bist ab heute die Fünfte im Bunde und sollst ebenfalls einen bekommen, zum Zeichen unserer Freundschaft. Hier!" Aus der Hosentasche holte er einen kleinen Stoffbeutel heraus und entnahm ihm einen ebensolchen Anhänger.

Vor Freude schoss ihr das Blut in die Wangen. Bewundernd hielt sie den Bernstein hoch gegen die Sonne. In ihm war sogar ein winziges Blatt eingeschlossen. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.

„Komm' her, ich lege ihn dir um und mache einen vernünftigen Knoten ins Band, damit du ihn nicht verlierst." Als er fertig war, musterte er sie. „Hübsch! Passt besonders gut zu deinen Augen!"

„Wo hast du das her?"

„Von der Sandbank vor der Pellwormer Harde. Bernstein findet man am besten nach einem Sturm, in kleinen Sandkuhlen sammelt er sich an. Anfangs sieht er nicht so schön aus, ich lasse ihn von meinem Onkel schleifen, der sich damit auskennt. Bernstein muss man vorsichtig behandeln." Er zögerte. „Wusstest du, dass man unsere Inseln früher die ‚Bernsteininseln' nannte? Bernstein soll vor bösem Zauber und vor Fieber schützen."

„Fieber? Dann passt es ja gut, ich hatte vor zwei Monaten mit Marschfieber im Bett gelegen, war lange nicht imstande, aufzustehen."

Er zog die Augenbrauen hoch. „Vielleicht bekommst du das jetzt nicht mehr."

„Wollen es hoffen. Es war scheußlich!"

„Im Übrigen habe ich ab heute mehr Zeit für dich. Heute war mein letzter Tag in Ilgrov. Der Aufseher hat mich geschlagen ohne Grund, da gehe ich nicht mehr hin. Sollen die Strandinger hinter ihrem löchrigen Deich doch ersaufen –"

Auf ihren entsetzten Blick hin ergänzte er schnell: „Nicht ohne dich aber vorher noch zu retten!"

„Oh, danke, lieb von dir. Aber du brauchst doch den Lohn! Wovon wirst du leben?"

„Ich habe gespart. Das reicht natürlich nicht, aber ich habe ja noch andere Möglichkeiten!"

„So? Und welche?"

Er wich ihrem Blick aus, stieß ein kurzes Lachen aus. „Das wirst du bald erfahren!"

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