„Hey, was ist denn mit dir los? Dein Gesicht sieht selbst für einen Montag zu bedrückt aus."
Fragend und besorgt blickte Cora ihn an. Sie hatten sich bereits an der Bushaltestelle vor der Hochschule getroffen und wie es aussah, versagte er auch bei der Neuntklässlerin, was das Sich-ganz-normal-verhalten anging.
„Ach, ich bin einfach nicht gut drauf", wich er der Frage aus.
„Oh, dann weiß ich, was du brauchst." Ohne Vorwarnung nahm sie ihn in den Arm und drückte ihn an sich. Das Ganze kam für Miles so unerwartet, dass er die Geste nicht erwiderte. Was, wenn Katy ihn dabei sah?
Cora blieb seine Reaktion natürlich nicht verborgen und löste sich wieder von ihm. „Okay, was ist passiert?", fragte sie mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. „Normalerweise heben Free Hugs nämlich die Stimmung."
Miles brummte nur. „Können wir das Thema wechseln?"
Einen Moment sah es so aus, als wollte das Mädchen sich an der Sache festbeißen wie ein Terrier am Hosenzipfel seines Herrchens, doch dann änderte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht.
„Okay", sagte sie unbeschwert. „Ich habe mich am Wochenende mit Flip getroffen."
Miles horchte auf, dankbar dass sie ihn von seinen unruhigen Gedanken ablenkte.
„Ihr seht euch in letzter Zeit ziemlich häufig", stellte er fest, während sie den großen Hof vor dem alten Gebäude überquerten. Eine Brise kam auf und wirbelte die vom Herbst bemalten Ahornblätter durch die Luft, ganz als fühlten sie sich von Coras Gesichtsfarbe in den Schatten gestellt.
„Nicht so eine Art Treffen!", sagte sie sofort. „Ich habe dich angeschrieben, aber du hast nicht geantwortet."
Miles nickte. Stimmt, er hatte mit Katy geschrieben, bevor He aufgekreuzt war.
„Jedenfalls", fuhr Cora fort, „waren wir zusammen in der Hochschulbibliothek und haben Bücher gewälzt."
„Klingt spaßig."
„Witzig." Cora streckte ihm die Zunge raus. „Wir waren auch nicht zum Spaßhaben dort."
„Stimmt, dann hättet ihr euch ein Hotelzimmer genommen."
Abermals lief Cora puterrot an und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Miles", sagte sie beschämt. „Hör auf damit. Ich habe nichts mit Flip."
„Noch nicht", erwiderte Miles und diesmal war er es, der ihr die Zunge rausstreckte. „Denn normalerweise ist das doch genau deine Art von Humor. Du wirst immer nur rot, wenn ich Flip ..."
„Jedenfalls haben wir ein bisschen herumgeforscht", unterbrach sie ihn barsch, als er die Tür zur Hochschule öffnete.
„Uh, so ganz schamlos und öffentlich in der Bibliothek? Und die haben euch nicht rausgeworfen?"
„Miles!" Ein paar Köpfe der im Foyer quasselnden Schüler drehten sich herum und hastig senkte sie ihre Stimme. „Noch ein zweideutiger Kommentar und es setzt was. Ich versuche dir gerade, unsere Fortschritte mitzuteilen."
Miles hob die Augenbrauen. „Du, eigentlich wollte ich das nicht im Detail erfahren."
Cora blieb stehen und warf ihm einen genervten Blick zu.
„Was?", fragte Miles unschuldig. „Dieser Kommentar war eindeutig zweideutig."
Er grinste. Und Cora lächelte zurück.
„Auch wenn es gerade auf meine Kosten geschieht", sagte sie zögernd, „dieses dämliche Grinsen steht dir schon viel besser. Dennoch ..." Sanft packte sie ihn am Arm und zog ihn etwas abseits in eine Nische, bevor sie noch einmal misstrauisch umherblickte und sich dann verschwörerisch zu ihm hinüber beugte.
„Was ich dir gerade versuche mitzuteilen und wo du dich – wie immer, wenn es um den Erwerb von Wissen geht – trotzig gegen sträubst, ist Folgendes: Flip und ich waren in der Bibliothek, um mehr über den Lichtbringer herauszufinden."
Miles' Lächeln verschwand und er spürte, wie ein Gefühl der Kälte seine eben erworbene Erheiterung unbarmherzig vertrieb.
„Da niemand etwas über seinen Erben weiß", fuhr seine Freundin fort, „schien es Flip und mir ratsam, erstmal alles über den Lichtbringer selbst zu erfahren. Wir haben herausgefunden, dass er Kinder hatte. Das heißt, wir müssen jetzt herausfinden, wer die Nachfahren des Lichtbringers waren und bis heute zurückverfolgen, damit ..."
„Cora", unterbrach Miles ihren Redefluss. Unsanft packte er sie an den Schultern, und drehte sie zu sich herum, um ihr in die Augen zu sehen. „Hör sofort auf, weiter Nachforschungen über den Lichtbringer anzustellen! Und vor allem: Zieh Flip nicht in die Angelegenheit hinein. Die ganze Sache ist ein wenig zu groß für uns."
Cora sah aus, als hätte er gerade behauptet, dass Zitronen blau seien. „Wie bitte?", fragte sie irritiert.
„Ich sagte, das Kapitel Lichtbringer ist abgehakt", verdeutlichte Miles aufgebracht. „Kein Nachforschen mehr, keine unbedachten Aktionen und auch keine verrückte Suche nach einem tausend Jahre totgeglaubten Hexenmeister! Das ist viel zu gefährlich für unausgebildete Jungmagier wie uns. Überlassen wir das also den Hütern. Frau Wasabi hat alles im Griff. Ich hab ihr alles erzählt."
Er wollte sich abwenden und sich auf den Weg zum Veranstaltungsraum machen, aber diesmal war es Cora, die ihn einfach hinten am Hosenbund packte und zurückhielt.
Ärgerlich riss er sich von ihr los. „Ey, nimmst du vielleicht mal die Hand aus meiner Hose?"
Cora tat ihm den Gefallen. „Okay, dass du ein Mädel darum bittest, die Hand aus deiner Hose zu nehmen, ist mehr als ungewöhnlich."
„Vielleicht weil du sie zur falschen Seite hineingesteckt hast", fauchte er nun weniger zurückhaltend.
Cora zitterte, ganz als koste es sie körperliche Anstrengung einen spöttischen Konter zurückzuhalten. „Lass uns nicht schon wieder streiten", schlug sie einen ruhigeren Ton an. „Lass uns diesmal gleich drüber reden, so wie du's letztes Mal versprochen hast. Also spuck aus, was dir über die Leber gelaufen ist! Ich werde gerade echt nicht schlau aus dir."
„Als ob ausgerechnet aus mir jemand schlau wird", brummte Miles. Konnte sie das Thema nicht einfach fallen lassen? Was war so schwer daran? Er wusste ja, dass Mädchen in solchen Beziehungen gerne etwas begriffstutziger waren, aber Cora hatte er eigentlich als klüger eingeschätzt.
Sie holte Luft um zu einer Antwort anzusetzen, als sich eine Gestalt zu ihnen durchs Foyer der Hochschule kämpfte.
„Hey, Leute!", rief Flip, als er die letzten Meter hinter sich brachte und sich zu ihnen gesellte. „Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, euch noch vor dem Kurs zu treffen." Er schnaufte und stützte die Hände auf die Knie, um wieder Luft zum Sprechen zu schöpfen. Vermutlich war er den ganzen Weg von der Bushaltestelle gerannt, in der Hoffnung, sie noch abfangen zu können. Der Schweiß auf seiner Stirn und das ungewohnte Grinsen in seinem Gesicht bestätigten Miles' Annahme.
„Ich habe etwas rausgefunden!", sagte er mit einer Euphorie, die stärker als seine Gabe sein musste, denn ansonsten hätte er die angespannte Stimmung sofort aufgefangen und reflektiert.
„Flip ...", begann Miles, doch der Empath hörte ihm gar nicht zu. Stattdessen ließ er seinen Rucksack zu Boden gleiten, und holte ein schmuddeliges und vor allem zerfleddertes Buch hervor, welches er ihnen triumphierend vor die Nase hielt.
„Flüche und dunkle Magie für jede Gelegenheit ", verkündete er. „Es war nicht einfach, an ein Exemplar heranzukommen und wüssten die Dozenten, dass ich eines davon aufgetrieben habe, würde ich ganz schnell Probleme bekommen, denn dieses Werk ist von Schwarzmagiern und Hexenmeistern geschrieben worden."
Miles hob die Brauen, der Moment, in dem Flip anscheinend selbst begriff, was er soeben gesagt hatte.
„Also sollte ich besser nicht so laut reden", fügte er mit angezogenen Schultern hinzu, während er einen panischen Blick über seine Schulter warf. „Sagt niemanden, dass ich das hier hab, okay?"
Miles und Cora nickten langsam, da Flips Mimik sich weiter in der einer Katze übte, die gerade Omas Lieblingsvase vom Tisch geschmissen hatte. Sowieso verhielt sich ihr Empathenfreund äußerst ungewöhnlich.
„Also Folgendes", fuhr er leiser aber dennoch aufgeregt fort, als würde er die Pointe eines Witzes vorbereiten. „Unser Fokus lag bis jetzt ja nur beim Lichtbringer, allerings kam mir gestern Abend die Idee, dass wir uns auch langsam über den Hexenmeister Gedanken machen sollten. In den Geschichtsbüchern steht, er galt als unbesiegbar. Hexenmeister bedienen sich Bannsprüchen und Verwünschungen, Magie, über die ich vermutlich erst etwas im nächsten Jahr lerne. Aber eines weiß ich: Hexenmeister sind genauso wie begabte Magier den Regeln der Magie unterworfen. Sie müssen Magie verbrennen, das heißt, ohne Magie sind sie machtlos!"
„Flip", begann Miles erneut, obwohl es ihm nicht gefiel, den Empathen in seiner Euphorie zu bremsen, aber er musste ihm den Eifer an er Sache austreiben, den Cora ihm versehentlich wie Zucker in den Kuchenteig seiner Gefühlswelt gemischt hatte.
„Warte, das Beste kommt noch!", strahlte der Empath und schlug eine mit einem Lesezeichen markierte Seite im Buch auf. „Die Identität des Täters des Massakers der Knuffel-Gasse hat uns alle so geblendet, dass wir uns gar nicht mehr nach seinem Motiv gefragt haben."
Cora legte den Kopf schief. „Ich dachte, er macht so was, weil er böse ist."
„Genau!", rief Flip aus, nur um erschrocken von der Lautstärke seiner Stimme zusammenzuzucken. „Richtig, das denken alle", dämpfte er seine Stimme ab, „klischeehaftes Denken – aber ein böser Hexenmeister ist nicht dumm und riskiert ohne triftigen Grund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich an seiner Stelle würde sowas jedenfalls nur tun, wenn es sich auch lohnt! Also habe ich nach verschiedenen Bannflüchen gesucht – denn Hexenmeister sind ja bekanntlich darauf spezialisiert – und nachdem ich dieses Buch ergattert habe und es beim Lesen manches Mal beinahe mit meinem Mageninhalt verunstaltet hätte – wobei ich nicht glaube, dass man ein so fürchterliches Werk verunstalten kann –, naja, jedenfalls – Tadaah! – bin ich dann auf das hier gestoßen!"
Mit sichtlich vor Aufregung geröteten Wangen präsentierte er ihnen eine vergilbte Seite, auf der Miles in schnörkeligen Buchstaben festgehaltene Wörter erkannte.
„Der Bann der hundert verlorenen Seelen", las Miles nicht ohne erhebliche Aufbringung seiner Kryptologiekenntnisse. „Flip ... leg das Buch weg und widme dich lieber wieder deinem Geigenunterricht oder meinetwegen auch deinen normalen magischen Studien. Es ist nicht gut, wenn du dich schon in einen Hexenmeister hineinzudenken versuchst; das dann zusammen mit deiner Gabe ..." Er ließ den Satz unvollendet.
„Glaubst du, ich packe das nicht?" Der Vorwurf des Empathen überraschte ihn. „Miles, ich habe es satt, schwach und nutzlos zu sein. Dieses Buch wird mir bestimmt noch Albträume bescheren ... aber das ist egal, denn wir sind in Schwierigkeiten! Dieser Bann wird dazu verwendet, um Magie zu bündeln. Verstehst du? Der Hexenmeister will irgenwo einen Ort der Kraft erschaffen und die Magie dort stärker konzentrieren als in einem der Zauberstäbe der sieben Erzmagier! Miles, wenn die Infos hier noch zeitgemäß sind, dann wird er diesen Bann bald – vielleicht schon heute – abschließen, oder abgeschlossen haben. Das muss um jeden Preis verhindert werden, sonst erlebt die Welt bald ein zweites finsteres Mittelalter!"
„Wir müssen uns also beeilen und endlich diesen Erben finden", sagte Cora.
„Besser wäre es, den Schlupfwinkel des Hexenmeisters auszuspähen und seinen Plan zu vereiteln ... also natürlich dann, wenn er gerade abgelenkt ist und nicht hinsieht", sagte Flip und erstmals gewann wieder seine Nervosität die Kontrolle über seinen Körper.
Cora nickte entschlossen. „Gut, dann sollten wir ..."
„Gar nichts sollten wir!"
Verwirrt richteten sich beide Augenpaare auf Miles, der nur mit zu Fäusten geballten Händen zu Boden starrte. Es war zu viel.
„Miles", sagte Flip eindringlich. „Wir müssen etwas unternehmen!"
„Ja", stimmte er zu und sah auf. „Du gehst zu irgendeinem Erzmagier oder Hüter und teilst ihm deine Erkenntnisse mit."
„Spinnst du!?", fluchte Flip aufgebracht und steckte das Buch schnell zurück in seinen Rucksack. „Wenn ich denen sage, was ich weiß, wollen sie wissen, woher ich es weiß und dann bekomme ich Ärger."
„Wenn's nur das ist, mach ich es eben."
„Ey, du kapierst es nicht, was?" Wut verzerrte nun Flips sonst so sorgenvolle Züge. „Das wird erst einmal zum Magierrat gehen und der funktioniert ähnlich wie unser Bundestag. Die werden viel zu spät handeln, weil die fünf alten Streithähne nur mit Zanken beschäftigt sind! Was ist nur los mit dir? Du bist doch sonst nicht so ... so eine Pussy!"
Erschrocken über den Ausdruck schlug der Empath sich beide Hände auf den Mund.
Cora tätschelte beruhigend seine Schulter. „Gut gesprochen", pflichtete sie ihm bei und warf Miles einen anklagenden Blick zu. „Miles, da ist doch was am Wochenende passiert, jetzt spuck's aus!"
„Ich hab gesagt, ich will nicht!", knurrte Miles. „Wir sollten jetzt los, unsere Kurse fangen gleich an und ..."
„Dann kommen wir eben zu spät!"
„Nein, das gibt Ärger und ..."
„Und deswegen bleibst du hier!", insistierte die Gezeitenruferin und packte ihn an seinem Pulli.
„Lass los, ich hab genug, ich will ..."
„... jetzt mitkommen! Flip, hilf mal kurz!"
„Hey, ich ...!"
Doch bevor er weiter protestieren konnte, hatten die beiden ihn an den Armen gepackt und ihn in den nächstbesten Raum gezerrt – das Jungenklo. Unsanft stieß Cora ihn gegen eine der Kabinen, während Flip die Tür hinter ihnen schloss.
„Sag mal, spinnt ihr nun vollends!?", ereiferte sich Miles und rieb sich die geprellte Schulter. „Was ist nur los mit euch!?"
„Die Frage muss lauten: was ist los mit dir!", entgegnete Cora hitzig und stellte sich ihm in den Weg, um ihn an einer Flucht zu hindern. „Ich mache mir Sorgen um dich, Miles! Was soll diese plötzliche Korrektheit von dir? Du hast dich auch früher nicht drum geschert, ob du irgendwo zu spät zum Unterricht kommst, oder gewisse Regeln brichst. Wir gehen ja gleich zu Runenkunde, aber du hast jetzt erst mal Vorrang und ich und Flip lassen dich nicht eher raus, bis wir die Sache geklärt haben!"
„Vergesst es, ich ...!"
Miles unterbrach sich, als ihm ein Schwall kalten Wassers ins Gesicht schlug und er sich krampfhaft verschluckte. Prustend lehnte er sich zurück, während die Gezeitenruferin stolz zu ihm hinübersah.
„Vielleicht geht's ja jetzt nach der Abkühlung besser", erwiderte sie provozierend.
Miles hustete und funkelte seine Schulfreundin wütend an. Langsam ging sie zu weit! Verstand sie denn nicht, dass er sie und Flip nur zu schützen versuchte? Frau Wasabi hatte recht, er durfte sie da nicht weiter mit hineinziehen, dafür hatte sich die Situation einfach zu stark verändert.
„Er ist wütend", sagte Flip aus dem Hintergrund, wirkte dabei aber gefasst, als läse er ein wissenschaftliches Essay über die Gefühlslage von Funkenschmieden vor. „Verdammt wütend, sogar."
„Oh, gut", freute sich Cora und verschränkte die Arme vor der Brust. „Erzählst du nun, was los ist, oder willst du, dass ich dir noch 'ne Abkühlung verpasse?"