Die Verlierer - Könige der Pl...

By traumjaegerin

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[TEIL 1] Man soll sich seine Freunde nah halten und seine Feinde noch näher. Das ist Jays Devise, denn immerh... More

1 | Gewinnen
2 | Mutig oder verdammt dumm
3 | Alkoholische Freiheiten
4 | Keine Regeln
5 | Alles nur ein Spiel
6 | Saufen und scheitern
7 | Respektlos
8 | Kleinkriminell
9 | Kippen, Vokabeln, Planlosigkeit
11 | Mathe und MDMA
12 | Saufen im Kinderzimmer
13 | Kontrollverlust
14 | Von Katzen und Katern
15 | Nur bis Physik
16 | Zwischen Gewalt und Ganja
17 | Chancen und Niederlagen
18 | Federico geht saufen
19 | Jenseits von Moral
20 | Warum Schwänze verdammt praktisch sind
21 | Titten oder Teleskope
22 | Auf anderen Planeten
23 | Kein Platz für Freundschaft
24 | Das Gesocks und seine Paläste
25 | Unbesiegbar
26 | Gemeinsamkeiten
27 | Ballerspiele und Gangsterfilme
28 | Ekstase
29 | Blaues und rotes Licht
30 | Gefrorene Kirschtorte
31 | Ehrgeiz
32 | Fast Freunde
33 | Ritalin und Rumcola
34 | Genauso grob, genauso rücksichtslos
35 | Zukunftsvisionen
36 | Koste es, was es wolle
37 | Distanz
38 | Woran denkst du beim Wichsen?
39 | Keine Könige mehr
40 | Sternenscheiß
41 | Kotze im Papierkorb
42 | Niemals entschuldigen
43 | Viel zu schön
44 | Ekelhafte Sommernächte
45 | Dreiste russische Schönheiten
46 | Voll schwul, Alter
47 | Am besten keine Gefühle
48 | Gewaltfrei
49 | Keine Kompromisse
50 | Das machen Freunde nicht
51 | Wodka Melone
52 | Niemals
Tausend-Follower-Special
Ankündigung

10 | Respekt durch Freundschaft

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By traumjaegerin

Einem Streber wie Federico hätte ich viel mehr Manieren zugetraut. Aber schon gar nicht, dass er mich einfach zur Seite stoßen und an mir vorbei in die Wohnung gehen würde.

»Was soll'n die Scheiße?« Grob packte ich ihn am Arm und zwang ihn so dazu, stehen zu bleiben. Nicht einfach in mein Zimmer zu stürmen, auf das er zugesteuert hatte.

Noch ehe er etwas erwidern konnte, mischte sich Lexie mit einem frechen Grinsen auf den Lippen ein. »Ach, jetzt weiß ich, wer du bist. Federico. Der Typ, von dem Jay ständig redet.«

Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Lexie brauchte gar nicht zu glauben, dass sie sich so einen Bullshit erlauben konnte, nur weil sie zufällig mit mir verwandt war. Betont unschuldig sah sie mich an und wirkte dabei wie ein verschissenes Schulmädchen aus 'nem Hentai.

Auch wenn Federico seine Augenbrauen hob, ging er glücklicherweise nicht weiter auf das dumme Gelaber meiner Schwester ein und wandte sich mir zu. »Leonardo ist hier, oder?«

Erst jetzt bemerkte ich, wie aufgewühlt seine Stimme klang, ganz danach, als wäre etwas passiert. Interessant. Wer weiß, vielleicht könnte ich diese Situation ja noch für mich nutzen. Mich dafür rächen, dass er mich bei dem Abendessen vor ein paar Tagen lächerlich gemacht hatte.

»Komm mal wieder klar. Ich bin nicht an allem schuld, was in deinem Leben schiefläuft«, grinste ich überheblich. Ohne weiter auf mich einzugehen, hatte er sich schon mit einer schnellen Bewegung von mir losgerissen und steuerte auf die Tür am Ende des Flures zu, hinter der sich mein Zimmer befand.

Ich versetzte meiner Schwester einen groben Stoß nach hinten, sodass sie gegen die ungleich gelb gestrichene Wand stieß. »Wir reden später noch«, zischte ich und folgte Federico, der eben in mein Zimmer trat. Hektisch sah er sich um, doch als er nicht finden konnte, was er suchte, wandte er sich mir zu.

»Jetzt rück raus damit, wo ist mein Bruder?«, forderte er. Die Wut ließ seine Augen dunkler als sonst wirken.

»Ernsthaft, bis eben wusste ich nicht mal, dass was mit ihm ist. Ich hab' keine Ahnung.«

»Wenn er hier wäre, würde ich's dir sagen«, mischte sich Lexie ein, die klammheimlich hinter mir aufgetaucht war. »Allein schon, um Jay eins reinzudrücken.« Für wen hielt sich die Schlampe eigentlich? Den Hang zur Selbstüberschätzung teilten wir uns mit Sicherheit nicht.

Federico musterte erst mich, dann Lexie prüfend, dann entschied er sich offenbar dazu, mir die Sache abzukaufen.

»Verdammt!«, entfuhr es ihm. Mit hängenden Schultern ließ er sich auf mein Bett sinken, starrte erschöpft vor sich hin. »Ich hätte schwören können, dass er hier ist.«

»Hau' ab, Lexie, dich braucht hier keiner«, machte ich ihr klar, schob sie aus dem Zimmer und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Kaum, dass ich die Klinke in der Hand hielt, blieb Federicos Blick lauernd an mir hängen, ganz so, als hätte er Angst, dass ich ihn wieder einschließen würde. Kurz überkam mich das Gefühl von Überlegenheit. Ganz spurlos war die Sache also doch nicht an ihm vorbeigegangen.

»Was is'n überhaupt passiert?« Ich lehnte mich gegen meinen Schrank und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.

»Leonardo ist nicht heimgekommen. Schon gestern Abend nich'«, antwortete Federico mit abwesend klingender Stimme. Eine nachdenkliche Falte war zwischen seinen Augenbrauen aufgetaucht.

»Vielleicht bei 'nem Kumpel?«, schlug ich vor.

»Wow, Jay, so viel Intelligenz hätte ich dir ja gar nicht zugetraut.« An jedem anderen Tag hätte er wahrscheinlich spöttisch aufgelacht, doch heute beschränkte er sich darauf, die Augen zu verdrehen.

»Und ich dir keine so krassen Beleidigungen. Ehrlich, total verletzend«, gab ich zurück.

Er erhob sich von meinem Bett, dessen unbezogene Decke halb auf dem Boden lag, und steuerte auf die Tür zu. »Ich hau' dann mal ab«, verkündete er dann.

»Wart' mal kurz.« Ich hob meinen Blick von meinen Boxhandschuhen, die ich zuvor mit dem Fuß hin und geschoben hatte. Mit der Hand an der Klinke blieb Federico stehen und drehte sich zu mir um.

»Wenn du magst ...« Ich räusperte mich. Das war meine Chance, denn wenn er sich schon nicht durch mich einschüchtern lassen würde, dann würde er vielleicht tun, was ich sagte, wenn er mich für seinen Kumpel hielt. »... kann ich mitkommen oder so.«

Skeptisch kniff er die Augenbrauen zusammen.

»War nur nett gemeint«, erwiderte ich. Federico befand sich in einer verdammt verletzlichen Situation, das musste ich unbedingt ausnutzen.

»Als ob du je irgendwas nett meinst.«

»Siehste. Du lässt mir nicht mal die Chance, mich besser zu verhalten, sondern hast mich für immer und ewig auf die Arschloch-Rolle festgeschrieben.«

Er seufzte, nahm seine Hand aber vom Türgriff weg.

»Könnt' damit meine Scheißaktion wieder gut machen. Als Beweis sozusagen, dass ich meine Entschuldigung doch ernst gemeint habe«, erklärte ich.

»Okay, komm halt mit. Ich will dich ja nicht an deinem Glück hindern.« Kurz sah ich sein mir nur allzu bekanntes spöttisches Grinsen auf seinen Lippen liegen, dann verschwand er hinter dem grauen Stoff meines Sweaters, den ich mir über den Kopf zog.

»Aber denk bloß nicht, dass ich dir dein Gelaber abkauf'«, merkte er an, während ich meine Zigaretten in die Tasche meiner Jogginghose steckte und überprüfte, ob ich auch mein Feuerzeug dabei hatte. Federicos misstrauischer Blick, den ich auch noch auf meinem Rücken liegen spürte, als ich vor ihm das Zimmer verließ, zeigte, dass er mir nicht vertraute.

Doch das war nur allzu verständlich, schließlich war er nicht dumm.

Es gab keinen Grund mir zu vertrauen.

Im Hausflur trafen wir auf meine Mutter, die sich scheinbar gerade von der Arbeit heimschleppte. Fettig hingen ihr die Haare, deren Ansatz längst rausgewachsen und mit grauen Strähnen durchzogen war, ins Gesicht. Harmonierte perfekt mit der Erschöpfung, die sie ausstrahlte.

»Abend, Jonathan.« Sie blieb stehen, um in der Tasche ihres hässlichen Mantels aus dem abgenutzten, billigen Kunstleder nach dem Wohnungsschlüssel zu suchen. Ich erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Nicken und wandte mich in Richtung des Treppenhauses um.

»Gehst du nochmal weg?«, erklang ihre Stimme in meinem Rücken. In den langen Fluren hallte es immer ein wenig.

Ich drehte mich zu mir um. »Siehst du doch«, pampte ich sie an. Wie sehr sie mir doch mit ihrer unnötigen Fragerei schon wieder auf den Sack ging. Federico hielt sich im Hintergrund, die Hände in seinen Jackentaschen vergraben.

»Sei so gut und bring noch etwas Katzenfutter mit. Die in der Karl-Marx-Straße ham'n bis 24 Uhr offen«, trug meine Mutter mir auf. Sie liebte das kleine Mistvieh wahrscheinlich mehr als uns, doch das kam mir gerade recht. Alles andere wäre ja auch verdammt nervig gewesen. Dann bekäme ich noch wie Leonardo einen Suchtrupp auf den Hals gehetzt.

»Jaja«, murmelte ich und stopfte den Zehner, den sie aus ihrem Geldbeutel ausgegraben hatte, in meine Hosentasche. Natürlich würde ich das Geld für etwas anderes ausgeben. Ihr später weismachen, es schlichtweg vergessen zu haben. Groß was dagegen tun konnte sie ja ohnehin nicht.

»Deine Mutter?«, fragte Federico, während wir auf den Fahrstuhl warteten. War ja klar, dass dieser Streber seine Nase entweder in seine Bücher steckte oder damit in den Angelegenheiten anderer herumschnüffelte.

»Was hat's dich zu jucken?«, schnauzte ich ihn an. Mit einem leisen Quietschen öffneten sich die Türen des Aufzuges und wir machten uns auf den Weg, um nach Leonardo zu suchen.

Die Stimmung war angespannt, als wir durch die nächtlichen Straßen zogen, mit der U-Bahn bis in die Innenstadt fuhren. Wir redeten nicht viel, sprachen nur darüber, wo Leonardo stecken könnte und wo Fede schon nach ihm gesucht hatte.

Es war eine dieser Situationen, wenn nur noch eine Kleinigkeit fehlte, eine einzige Sache schieflaufen musste, um alles zum explodieren zu bringen.

Doch die Explosion blieb aus. Nicht dann, als wir uns am Alex umsahen, dann am Ku'Damm oder an irgendwelchen anonymen Häuserecken.

Natürlich war Leonardo nirgends.

Federico wurde immer unruhiger, ließ seinen Blick unablässig durch die Straßen wandern.

»Verdammt«, fluchte er wütend und kickte eine auf dem Boden liegende Bierdose auf die Straße, wo sie zugleich von einem Auto überrollt wurde. »Er kann überall sein. Das bringt doch alles nichts.«

»Wirst schon sehen, Leonardo is' bestimmt wieder da, wenn du heimkommst«, sagte ich und hoffte darauf, dass er mir die aufbauende Nummer abkaufen würde.

»Hast du'n Handy?«, fragte Federico dann. Es fuckte ihn sichtlich ab, mich um etwas bitten zu müssen. »Dann kann ich wenigstens mal zuhause anrufen, vielleicht is' er ja längst da.«

Ich zog es aus meiner Hosentasche hervor und entsperrte das Gerät. »Hab' aber nich' mehr viel Geld drauf«, erklärte ich, als ich es ihm reichte.

Federico wählte und drückte sich dann das Handy ans Ohr. Auch wenn ich kein Wort verstand, weil er Italienisch redete, klang das Gespräch alles andere als positiv. Er nicht weniger enttäuscht wie zu Beginn.

»Er ist immer noch nicht daheim«, murmelte Fede, nachdem er aufgelegt hatte, und reichte mir das Gerät wieder. Ernüchtert ließ er sich auf einen dieser Blumenkasten aus Beton, die am Straßenrand angebracht waren, sinken und starrte auf den Boden. »Dannazione ... Wenn ihm etwas passiert, ist es meine Schuld«, kam es leise über seine Lippen, doch die Wut war unüberhörbar.

Ich ließ mich neben ihm nieder und legte ihm meine Hand auf die Schulter, doch noch bevor ich dazu ansetzen konnte, etwas Tröstendes zu sagen, hatte er sie schon wieder weggeschlagen.

»So verzweifelt, dass ich mit dir einen auf Freundschaft mache, bin ich dann doch wieder nicht«, fuhr er mich an.

»Chill halt mal. Würd' dir guttun«, gab ich zurück und kramte meine Kippen hervor. In aller Ruhe zündete ich mir eine an. Mittlerweile war es schon so spät, dass wieder mehr auf den Straßen los war, Discos öffneten, die die feiernden Leute anzogen. Laute Musik klang aus vorbeifahrenden Autos, gelegentlich überlagert vom Röhren eines Sportauspuffes.

»Leonardo ist weg und wahrscheinlich ist ihm was passiert. Tut mir leid, dass ich da nicht chillen kann.« Seine Stimme bebte, als er sich wieder von mir abwandte. Der Rauch meiner Zigarette vermischte sich mit dem Gestank nach Abgasen, der in der Luft lag.

»Jetzt sag mal, warum denkst'n, es ist deine Schuld?«, knüpfte ich wieder an das an, was er eben gesagt hatte.

»Hast du nichts Besseres zu tun, Drogen nehmen oder so?«

Noch ehe ich etwas erwidern konnte, steuerten zwei aufgestylte Mädels auf uns zu.

»Hey, Süßer, du hast uns doch bestimmt eine Zigarette.« Die eine von ihnen lächelte und beugte sich ein wenig vor, sodass ich besten Ausblick auf ihren Ausschnitt und ihren daraus hervorblitzenden Spitzen-BH hatte.

»Ja, klar«, erwiderte ich und reichte ihr die Schachtel, in der sich nicht mehr viele Zigaretten befanden. Vielleicht blieb mein Blick ein wenig zu lang auf ihren Titten und dann auf ihrem Arsch, als sie sich winkend von uns verabschiedeten, hängen, denn mir wurde erst viel zu spät bewusst, dass die beiden gerade mitsamt meiner Zigaretten in der feiernden Menge verschwanden.

»Ey, du Scheißfotze!«, rief ich ihr angepisst hinterher. Auch wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie mit ein paar gezielten Schlägen flehend auf dem Boden knien zu lassen, wie sie es sonst nur tat, wenn sie den Schwanz von irgendwelchen Kerlen lutschte, verzichtete ich darauf.

Was hätte ich schon davon? Sie war niemand, auf dessen Respekt ich angewiesen war. Wiedersehen würden wir uns ohnehin nicht, also gab es auch keinen Grund, ihr klarzumachen, dass sie letztendlich machtlos war.

»Mir reicht's. Ich hau ab, bis morgen.« Ohne meine Reaktion abzuwarten, steuerte Federico auf die nächste U-Bahn-Station zu.

»Jetzt wart mal, wir müssen eh in die gleiche Richtung«, rief ich ihm hinterher und erhob mich, schmiss im Laufen meine Zigarette weg.

Ein paar Meter weiter hatte ich Federico eingeholt. »Wow. Ich werd' dich wahrscheinlich nie wieder los, oder?«, seufzte er, während wir an den Rolltreppen vorbei die Betonstufen zur U-Bahn hinunter gingen. Wir ignorierten die beiden abgewrackten Junkies, die auf dem letzten Absatz herumhingen und uns um Geld anschnorrten.

»Ne«, grinste ich.

»Was für eine wundervolle Vorstellung«, spottete Fede und warf einen Blick auf die Tafel, die die nächsten Bahnen ankündigte. Noch drei Minuten, bis die U8 einfahren würde.

Der Waggon war beinahe leer, nur ein besoffener Kerl, der immer wieder zur Seite sackte, saß auf der gegenüberliegenden Sitzreihe. Es stank nach Alkohol, aber nicht dank seiner Fahne, sondern weil der Wodka, den er neben sich abgestellt hatte, umgefallen war. Die Lache breitete sich auf dem dreckigen Boden aus.

Von der Seite her sah ich Federico an, der mit etwas Abstand auf meiner Seite saß. Seinen rechten Fuß hatte er auf den abgenutzten Sitz gezogen und mit den Armen umschlungen, malte unruhig mit dem Finger kleine Kreise auf die Kappe seines Schuhs. Er machte sich echt verdammte Sorgen.

Natürlich entging ihm mein Blick nicht und er hob seinen Kopf. Ein fragender Ausdruck lag in seinen Augen, doch er verzichtete darauf, etwas zu sagen.

Ich wandte mich wieder ab und starrte schweigend auf die Dunkelheit des Tunnels, die Licht wich, als wir in die nächste Station einfuhren. Es dauerte ein Moment, dann stach mir ein dunkelhaariger Junge ins Auge. Er saß allein auf einer der Wartebänke und war klein genug, um seine Beine baumeln lassen zu können, ohne dass sie den Boden berührten.

Leonardo? Oder bildete ich mir jetzt schon irgendeinen Bullshit ein?

Kurzentschlossen haute ich Federico meinen Ellenbogen in die Seite. Er wollte schon verärgert etwas erwidern, da deutete ich auf den gegenüberliegenden Bahnsteig. »Ey, guck mal!«

Federico kniff die Augenbrauen zusammen. Dann sprang er auf und eilte zur Tür, doch in diesem Moment setzte sich die Bahn schon wieder in Bewegung. »Porca puttana«, fluchte er und sah fassungslos dabei zu, wie die Station mit Leonardo hinter uns in der Dunkelheit verschwand. Er ließ sich wieder neben mir auf der Sitzbank nieder, hibbelte nervös herum.

»Komm' mal wieder runter, der is' bestimmt auf'm Heimweg«, warf ich ein. »Jetzt wissen wir ja, wo er ist, als ob da noch viel passieren kann.«

Federico schüttelte heftig mit dem Kopf, so dass ihm eine dunkle Locke in die Stirn fiel. »Du weißt gar nicht, zu wie vielen dummen Sachen in was für 'ner kurzen Zeit Leonardo in der Lage ist.«

Kaum hatten sich die Türen an der nächsten Haltestelle geöffnet, sprang Federico aus dem Waggon und rannte über den Wartesteig. Auf dem anderen Gleis fuhr gerade eine U-Bahn ein. Rücksichtlos boxte er sich an den wartenden Menschen vorbei.

»Asoziales Pack«, schimpfte eine Frau kopfschüttelnd und ich konnte mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Hatte ja keine Ahnung, was dieser Typ für'n pflichtbewusster Streber war.

Der Junge saß nicht mehr auf der Wartebank, als wir aus dem Waggon traten. Federico sah sich panisch um und rannte im nächsten Moment schon auf die Treppen zu, rief Leonardos Namen, der dort eben das oberste Stufe erreicht hatte. Überrascht drehte er sich um, als erst Federico, dann ich ihn erreichte. 

 »Was macht ihr hier?«, fragte er verwundert.

 »Dich suchen, du Idiot«, lachte ich, während Federico erleichtert durchatmete. 

»Mach sowas nie wieder, hörst du?« Er schlang seine Arme um seinen kleinen Bruder und drückte ihn fest an seine Brust. Verfickte Scheiße, das war mehr Kitsch, als ich ertragen konnte. »Ero così preoccupato, cazzo«, murmelte er. Erleichterung mischte sich in seiner Stimme mit Fassungslosigkeit.

»Jetzt erzähl mal, wo warst du eigentlich?«, mischte ich mich ein. Nicht, weil es mich interessierte, sondern weil Leonardos Plapperei immer noch besser war als der Scheiß hier.

Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und begann dann aufgeregt zu erzählen. »Ich bin in den Zug eingestiegen ... wollt eigentlich gar nicht so weit fahren, aber dann bin ich auf einmal ... keine Ahnung wo, aber jedenfalls total außerhalb von Berlin. Das war so'n richtiges Dreckskaff da und der Dings ... wie heißt das? Il controllore?« Fragend sah er seinen Bruder an.

»Schaffner«, übersetzte Federico ihm.

»Ja, der war auch scheiße, okay? Hat von Bullen gelabert und dass sich meine Eltern bestimmt nicht freuen und so'n Scheiß. Richtiger Wichser, nich? Da bin ich dann abgehauen«, fuhr Leonardo fort, während wir in die nächste Bahn einstiegen, zurück in unsere Siedlung fuhren. Seine Geschichte ging noch ewig weiter, wurde aber mit jedem Satz dramatischer, sodass ich schnell nicht mehr zuhörte.

»Fede, erzähl das bitte nich' Mamma, ja? Sie tötet mich sons'«, bat Leonardo leise, als wir aus der Station ins Freie traten. Er kuschelte sich tiefer in seine abgenutzte Jacke. Wahrscheinlich trug er die alten Klamotten seines Bruders auf.

»Wir denken uns irgendwas aus ...«, versprach Federico ihm und überlegte kurz. »Vielleicht, dass du bei 'nem Kumpel warst und vergessen hast, Bescheid zu sagen.«

»Super Ausrede«, grinste ich und verdrehte die Augen. Es war mir völlig unverständlich, wie man so viel Schiss vor seinen Eltern haben konnte.

Als wir an einem Zigarettenautomaten, der an einer Hauswand angebracht war, vorbeikamen, erklärte ich: »Ich brauch noch Kippen.« Ich blieb vor dem zerbeulten Teil, das voller Tags war, stehen und kramte mein Geld hervor.

»Stimmt, die hast du dir ja klauen lassen«, meinte Federico. Bei der Erinnerung daran begannen seine Mundwinkel belustigt zu zucken.

»Lachst du mich gerade aus?«, fragte ich und kniff die Augenbrauen zusammen.

»Ne, würde ich niemals«, erwiderte er übertrieben ernsthaft, doch es war unübersehbar, dass er sich darum bemühte, nicht einfach loszuprusten. Statt einer Antwort boxte ich ihm in die Seite, dann schob ich den Ausweis meiner Mutter in den dafür vorgesehenen Spalt.

Vor ein paar Wochen hatte ich ihr den geklaut, um problemlos an Kippen kommen zu können. Natürlich war ihr das nicht entgangen, aber sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich was mit der Sache zu tun haben könnte; hatte nur geschimpft, weil sie wieder zu den Behörden rennen musste.

»Ja, krass ...«, kam es von Leonardo. Er sah mir mit staunenden Augen zu, wie ich das Geld im Automaten verschwinden ließ, die Marke auswählte und dann die Schachtel herausnahm. Ganz so, als hätte ich gerade einen verschissenen Zaubertrick vollbracht.

Wir gingen die Treppen zur Unterführung hinunter, die wir durchqueren mussten, um zu unserer Siedlung zu gelangen. Ich befreite meine Zigaretten von der Plastikverpackung und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Schob mir eine Kippe zwischen die Lippen und hielt Leonardo die geöffnete Schachtel hin, natürlich nicht ohne, Federicos Reaktion aus dem Augenwinkel zu beobachten.

»Lascia stare, cazzo!«, schnauzte er seinen kleinen Bruder an, noch ehe dieser die Hand ausstrecken konnte. Wollte es wahrscheinlich auch gar nicht.

Schulterzuckend ließ ich das Päckchen in der Hosentasche meiner Jogginghose verschwinden und holte stattdessen mein Feuerzeug hervor, um meine eigene Kippe anzuzünden.

»Hab doch gar nichts getan«, seufzte Leonardo. »Du bist schon wieder scheiße zu mir, bist du immer!«

»Sei kein Arschloch jetzt, dein Bruder hat sich echt Sorgen um dich gemacht«, verteidigte ich Federico, von dem ich direkt darauf einen skeptischen Blick kassierte.

Es war weit nach Mitternacht und die beiden Typen, die sich mit ihren gegelten Haaren und Goldketten am Ende der Unterführung aufgebaut hatten, waren mit Sicherheit Dealer. Wieder musste ich an Aykan und seinen verschissenen Joint denken, daran, dass ich unbedingt nachziehen musste. Es konnte nicht sein, dass diese Wichser von selbsternannten Kumpels solche Erfahrungen nicht durch mich machten, verdammt nochmal.

Als wir vor dem Block der beiden angelangt waren, verabschiedete sich Federico schnell von mir und ging über den Plattenweg auf die Haustür zu. Eine funzelige Lampe erhellte die Fläche. »Tschüß, Jay!«, meinte Leonardo eifrig winkend und rannte seinem Bruder hinterher.

»Ey, Kumpel, wie wär's mal mit'n bisschen Dankbarkeit?«, rief ich Federico nach und aschte auf den Boden.

Er drehte sich noch einmal um.

»Ich werde heut' Nacht zum großen Jay beten und mich für seine Gnade bedanken, denk' das sollte genügen, oder?«, gab er mit unüberhörbarem Lachen in der Stimme zurück.

»Idiot«, murmelte ich mit der Kippe zwischen den Lippen, konnte mir aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Zuhause angekommen stopfte ich meine Sneaker in den Schuhschrank, ließ dann mein eigenes Zimmer links liegen und steuerte das meiner Schwester an. Durch den Spalt unter der Tür drang ein schmaler Streifen Licht in den dunklen Flur. Lexie war also noch auf. Als ob es irgendetwas geändert hätte, wenn sie eingepennt wäre; dann hätte ich genauso wie jetzt ihre Tür aufgerissen.

Lexie lag auf ihrer mit Tierhaaren verdreckten Couch, die sie letztes Jahr vom Sperrmüll angeschleppt hat, den Kopf auf den Händen aufgestützt.

»Hey, Jay«, murmelte sie abwesend und sah im Halbschlaf auf die Hitlerdoku, die über den Fernseher flackerte.

Ich packte sie an ihrem Arm und riss sie brutal hoch. Sie stolperte, doch um ihr Gleichgewicht brauchte sie sich keine Gedanken zu machen, denn im nächsten Moment hatte ich sie schon gegen den Schrank gestoßen. Das billige Sperrholz gab unter der Wucht des Aufpralls nach und knarrte ein wenig.

»Spinnst du?« Überrascht weiteten sich ihre Augen. Kein Wunder, denn sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihr wirklich wehtun würde. Das hatte ich auch, das war unübersehbar daran, wie sie sich die Schulter rieb.

Ich blieb so stehen, dass sie mich hätte zurückstoßen müssen, hätte sie von mir weggewollt.

»Du wirst mich nicht mehr vor anderen lächerlich machen, verstanden?«, zischte ich und drehte ihr den Arm, den ich noch immer nicht losgelassen hatte, auf den Rücken.

»Du bist so'n scheiß Spast, ganz ehrlich«, presste sie hervor und kämpfte dagegen an, sich den Schmerz anmerken zu lassen.

Im Flur waren Schritte zu hören, dann tauchte meine Mutter im Türrahmen auf.

»Könnt' ihr verdammt nochmal ruhig sein? Ich muss morgen früh raus!«, fuhr sie uns an.

»Jay hat mir wehgetan!«, heulte Lexie rum.

»Macht das unter euch aus, Kinder«, seufzte meine Mutter und verschwand wieder. Ich warf Lexie ein triumphierendes Grinsen zu. Hatte sie ernsthaft geglaubt, ich müsste mit irgendwelchen Konsequenzen rechnen? 












____________________________
Dannazione – Verdammt
Porca puttana! – Heilige Scheiße!
Ero così preoccupata, cazzo – Ich hab mir so Sorgen gemacht, verdammt
Lascia stare, cazzo – Vergiss es, verdammt

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