Wir werden immer zusammen geh...

De Limayeel

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„Wir werden immer zusammen gehen" versprechen sich zwei Schwestern. Doch dann entscheidet sich Ingrid für ein... Mais

Prolog: 22.7.1959, Eutin
1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin
2. Kapitel: 29.10.1968, Eutin
3. Kapitel: 13.5.1970, Hamburg/Eutin
4. Kapitel: 3.6.1970, Eutin/Ost-Berlin
5. Kapitel: 19.5.1972, Hamburg
7. Kapitel: 19.6.1972, Eutin
8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck
9.Kapitel: 5.9.1993, Lübeck/Hamburg
Nachwort

6. Kapitel: 13.6.1972, Hamburg

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De Limayeel

Das ist ein Problem und wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine. Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.

- Ulrike Meinhof, Juni 1970 -

13.6.1972, Hamburg

„Wir sollten von hier verschwinden!" Betont gelangweilt beugte Ingrid sich vor und blickte ihr Gegenüber an.

„Hast du was gesehen?" Hannes trank einen Schluck Kaffee, während er die Augen durch das kleine, schmuddelige Cafe schweifen ließ.

„Der Kerl am Fenster passt nicht hierher. Ich glaub, das ist n Schwein in Maske."

„Ein Schwein in Maske! Wie beim Karneval!" Sein Auflachen bewegte Ingrid nur dazu, die Augen zu verdrehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Kamerad die Revolution nur als ein aufregendes Spiel sah, bei dem die Befreiung des Proletariats einfach ein nettes Extra war, nicht das Ziel. Hannes war ein Student aus gutbürgerlicher Familie, der niemals gelitten hatte und erst relativ spät zu ihrer Gruppe gestoßen war. Er hatte nicht das gesehen, was Ingrid erlebt hatte. Nicht die Knüppel gespürt, die ihr Land als Polizeistaat entlarvt hatten, nicht erlebt, wie sich die Wut, als Ohnesorgs Mörder freigesprochen worden war, in Westberlin entladen hatte, während Ensslins und Baaders Brandstiftung als Rache für Vietnam mit drei Jahren Gefängnis geahndet worden war. Stattdessen hatte er im gemütlichen Heidelberg studiert und war mit anderen Mitgliedern des Sozialistischen Patientenkollektivs zu ihnen übergetreten.

Angeblich war es Hannes gewesen, der vorgeschlagen hatte, den nächsten Banküberfall mit Mickey-Maus Masken durchzuführen. Andreas sollte darüber nur gelacht haben.

Erneut warf sie einen Blick auf den Mann am Fenster, dessen Uhr die Sonnenstrahlen reflektierte und Lichtflecken über die unverputzten Wände tanzen ließ. Er war jung genug, um in die überwiegend junge Kundschaft zu passen, doch sowohl Kleidung als auch Körperhaltung ließen sie mehr an einen jungen, übereifrigen Mann des Verfassungsschutzes denken. Dieses Cafe war als Treffpunkt der linken Szene bekannt, doch bisher hatte es als sicher gegolten.

„Wir haben, was wir brauchen, komm!"

Ingrid stand auf und hörte den Brief, der ihnen eben übergeben worden war, an ihrem Oberschenkel leise knistern. Sie alle hatten auf diese Antwort gehofft, denn nachdem die Genossin Gudrun erst vor wenigen Tagen am Jungfernstieg von den Schweinen gefasst worden war, wurde der Fahndungsdruck auf ihre Gruppe in Hamburg immer stärker. Ulrike musste von hier fort, sonst verlor die Organisation auch ihren dritten Anführer im Kampf gegen das System.

„Komm!" Hannes ließ einige D-Mark auf den Tisch fallen, während Ingrid den Reisverschluss ihrer Jacke schloss.

Ihr Genosse stieß die Tür auf und gemeinsam traten sie auf die schmale Nebenstraße. Aus den Augenwinkeln nahm Ingrid noch wahr, wie der Mann am Fenster aufstand.

„Scheiße", fluchte Hannes, der den Mann anscheinend auch bemerkt hatte.

„Wahrscheinlich ein V-Mann", sprach Ingrid ihre Vermutung laut aus, während sie ihre Schritte beschleunigte. Diese Überlegungen hielten sie von den Gedanken ab, was gleich passieren mochte und schenkten ihr Ruhe.

„Mir doch egal!", erwiderte Hannes, „Schwein ist Schwein."

„Vielleicht ist es ja auch nur...", setzte sie an, doch dann sah sie die Polizeisperre vor ihnen, die gerade die Personalien einer jungen Frau kontrollierten, bevor sie die Bürgerin durchsuchten.

Fieberhaft überlegte Ingrid, was die Polizisten bei ihnen finden konnten. Der Brief, der sicherlich Fingerabdrücke von Genossen aufweisen würde, ihre Waffen und die Personalien. Sie beide trugen gefälschte Pässe bei sich, denn auch wenn Ingrid bisher nicht auf den Fahndungsplakaten abgebildet war, so wussten sie nicht, was die Schweine über sie alles gesammelt hatten. Es waren Pässe, die noch Genosse Manfred Grashof vor seiner Verhaftung gefertigt hatte. Manfred, den das Schwein Buddenberg schwer verletzt ins Gefängnis hatte sperren lassen. Noch immer verwünschte Ingrid die Tatsache, dass es Buddenbergs Frau und nicht das Justizschwein selbst gewesen war, die bei einer Autobombe schwer verletzt worden war. Doch die Rache für die Verhaftung von Genosse Manfred war jetzt nicht ihre größte Sorge, sondern die Polizisten, die soeben einen Mann kontrollierten.

Sie blickte zu ihrem Begleiter. Hannes Schmidt mochte ein Allerweltsname war, doch sein Gesicht war auf den Fahndungsplakaten neben Genosse Klaus zu sehen und ein Mann konnte sich nicht so wie eine Frau schminken oder die Haare in einer anderen Frisur tragen.

Das alles schoss ihr in den wenigen Sekunden durch den Kopf, die sie auf der Straße standen und ihr Herz wie wild pochte. Eine Frau mit Kinderwagen reichte ihren Ausweis einem Polizisten, während sie versuchte, den schreienden Säugling auf ihrem Arm zu beruhigen.

„Los!", flüsterte Hannes, denn jetzt waren die Bullen abgelenkt. Sie reichte ihm ihre Hand und gemächlich, als führten sie weiterhin ein sklavisches Bürgerleben, kehrten sie um und schlenderten die Straße entlang.

Doch als eine Stimme in ihren Rücken erklang, die fragte: „Verzeihung! Haben wir Sie schon kontrolliert?" verloren sich ihre Hände sofort, denn sie benötigten all ihre Konzentration, um sich auf die Straße vor ihnen zu konzentrieren, deren Beton unter ihren Füßen hinweg flog. Doch an den trommelnden Schritten erkannte sie, dass die Schweine die Verfolgung aufgenommen hatten. Sie rannten an dem Cafe vorbei, in dem sie den Kontaktmann getroffen hatten und bogen dann in eine kleine Gasse ein. Keinen Blick verschwendete sie an die hübschen Fachwerkhäuser, die sie nur an jene Sklavenmentalität erinnern würden, die sie dank ihrer Genossen als Teil ihrer Vergangenheit bezeichnen konnte.

Obwohl hinter ihnen laute Rufe ertönten, nahm Hannes sich die Zeit, um die Ecke zu spähen.

„Verdammt", fluchte er und zog sich in den Schatten des Hauses zurück.

„Dein Schwein in Maske mit Verstärkung", keuchte er.

Inzwischen war Ingrid darüber hinweg, sich mit Erklärungen beruhigen zu wollen.

„Hier lang." Sie deutete auf eine Mauer, die ein Grundstück von der Straße abgrenzte. Mit einem großen Satz sprang Ingrid hoch, bekam die Mauerkrone zu fassen und krallte sich mit beiden Händen am rauen Stein fest. Für einen Moment schwebte sie in der Luft, dann zog sie sich hoch und schwang ein Bein hinüber, so dass sie aufrecht auf der Mauer saß.

„Komm schon", zischte sie und reichte Hannes ihre Hand.

Doch er ergriff sie nicht, sondern versuchte es alleine. Innerlich verfluchte sie seinen falschen Stolz, doch schalt sie sich kurz darauf selbst. Es war nicht ihr Recht, den Kameraden in diesem Moment zu verurteilen.

Steinbrocken lösten sich von der Mauer, während Hannes versuchte, sich mit den Füßen von der Mauer abzustoßen, um hochzukommen. In diesem Moment kamen die Bullen um die Ecke gerannt und eine Kugel schlug in ein Haus ein, so dass der Putz auf die Straße bröckelte. Diese Schweine schossen tatsächlich ohne Vorwarnung auf sie, so wie sie es schon bei dem Ohnesorg getan hatten!

Seltsam, dass sie dieser Laut an ihre Schwester erinnerte und die Hüpfspiele, die sie mit ihr gespielt hatte. Merkwürdig, dass sie in diesem Moment an das Klettern in den Wäldern ihrer Heimat dachte. Doch es war Hannes, nicht Maria, der sich um Halt bemühte. Und Ingrid umfasste seine Hand und zog ihn hoch, bevor er die Ungerechtigkeit des faschistischen Staates am eigenen Leib erleben konnte. Sie verstand auch, dass er in diesem Moment seine Waffe ziehen wollte, um den aufgestauten Gefühlen und der Angst eine Stimme zu verleihen. Dennoch mussten sie weiter.

„Ihr Schweine! Faschisten! Mörder!" Hannes Stimme war rau von jenem Zorn, der auch in ihrem Inneren loderte.

Ingrid zwang sich dazu, ihren Puls zu beruhigen und sich von der Mauer zu schwingen. Ihre Füße federten auf dem kleinen Flecken Gras nach, doch ihr Genosse keuchte auf, als er auf dem Boden auftraf.

Er nickte ihr zu, auch wenn sein Schritt langsamer war, als sie durch den Hintergarten rannten und dabei die Wäscheleine einer entsetzten Frau umwarfen.

Sie deutete auf einen Holzstapel und kletterte ihn noch in diesem Moment empor. Hannes folgte ihr auf das Dach eines Schuppens, dessen Dach unter ihrem Gewicht bedrohlich knackte, der jedoch direkt an die Mauer zum Nachtbargarten angebaut war.

Während die Frau entsetzt schimpfte, was sie sich denn erlaubten, balancierte Ingrid schon auf der Mauer und sprang hinunter.

„Dort sind sie!", erklang die dumpfe Stimme eines Bullen.

„Stehen bleiben! Sie sind umstellt!"

„Fickt euch, ihr Bullenschweine!", schriee Hannes, während er ebenfalls hinab sprang.

Sie rannten an einer verrosteten Schaukel und einem Sandkasten vorbei, neben dem eine vergessene Puppe lag.

Ein Hund kläffte sie an, als sie einen Vorgarten durchquerten und über den kleinen Gartenzaun sprangen. Sie jagten durch die Straßen, verfolgt von den Bullen.

„Hier lang!", keuchte Ingrid und bog auf den Hinterhof einer Fabrik ein. Sie verbarg sich zwischen zwei Mülltonnen, doch Hannes folgte ihr nicht. Stattdessen hörte sie kurze Zeit später die Bullen an ihr vorbei rennen und Schüsse krachen.

Dieser Narr! Wenn er unbedingt Held spielen wollte, sollte er doch, sie konnte auf eine Schießerei mit den Schweinen verzichten. Und den Brief hatte sie.

Einen Moment blieb Ingrid zwischen den Mülltonnen hocken und lauschte auf die umgebenden Geräusche, während sie versuchte, die Ereignisse zu rekonstruieren.

Die Straßensperre, der V-Mann im Cafe, Hannes. Noch waren die Schweine hinter Hannes her, aber wer wusste schon, wann sie diese Gegend genauer durchsuchen würden. Bis dahin musste sie von hier weg sein.

Ingrid griff in ihren Nacken und löste den Pferdeschwanz, so dass ihr die Haare nun offen ins Gesicht fielen und sie hoffentlich unauffälliger wirken lassen würden. Für einen Moment überlegte sie auch, ob sie ihre Lederjacke ausziehen und zurücklassen sollte, doch dann verwarf sie den Gedanken. Nur die Jacke gewährleistete ihr, schnell die Waffe ziehen zu können.

„Was machst du da?"

Ingrid zuckte zusammen und automatisch fuhr ihre Hand zur Waffe, doch als sie sich umwandte, standen dort nur zwei Kinder in einfacher Kleidung.

„Ist doch klar!", erklärte der Junge altklug, „Sie versteckt sich vor den Bullen"

„Warum?" Mit großen Augen musterte das Mädchen, vermutlich seine Schwester, sie.

Auch ihr Bruder sah sie an, doch las sie in seinen Augen Abenteuerlust und den Wunsch, es ihr gleich zu tun.

„Bist du von dieser Gruppe?", fragte er, doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Mein Großpapa nennt euch Terroristen, aber ich finde das so fantastisch!"

„Fritz?" Das Mädchen zupfte ihn am Hosenbein. „Was sind Terroristen?"

Mit einem großmütigen Lächeln beugte sich der Junge zu ihr hinab. „Terroristen sind...sie sind wie Robin Hood. Das Buch, das Mama uns vorgelesen hat. Erinnerst du dich? Papa hat mir erklärt, dass diese Gruppe wie Robin Hood ist. Sie kämpfen für die Freiheit von Vietnam, für die Freiheit der Unterdrückten. Großpapa versteht das nur nicht"

„Was ist Vietnam?" Der Wissensdurst des Mädchens erinnerte Ingrid an ihre Schwester.

Fritz zuckte mit den Schultern. „Irgendso'n Land. Genau weiß ich das nicht. Aber Papa sagt, dass es richtig ist, was diese Gruppe tut. Und gegen einen Robin Hood kann man ja wirklich nichts sagen"

„Nein." Das Mädchen nickte und die Schleife in ihrem Haar wippte dabei. „Ein Robin Hood ist einfach nur toll!"

Es tat Ingrid gut zu sehen, dass die Arbeiterschicht ihren Kampf gegen den Faschismus zu wertschätzen wusste. Wenn sie ihren Kampf in Zukunft führte, würde sie dabei auch an dieses Geschwisterpaar aus dem Proletariat denken, damit sie in einem Staat leben konnten, der keine Nazis und Bombenabwürfe auf Vietnam unterstütze. Es machte Hoffnung, dass nicht jeder Arbeiter von den Hasstiraden Springers vergiftet war und in der RAF einen Freund fand, der für seine Freiheit auf die Barrikaden ging.

„Viel Erfolg, Robin Hood!", wünschte das Mädchen mit einem breiten Lächeln im Gesicht, bevor sie ihren Bruder an die Hand fasste.

Der Junge streckte ihr seine andere Hand entgegen und etwas verdutzt ergriff Ingrid sie.

„Viel Erfolg, Genossin! Für die Freiheit!"

„Für die Freiheit", wiederholte sie und konnte nicht anders, als das Grinsen des Mädchens zu entgegnen.

Dieses winkte ein letztes Mal, bevor sie und ihr Bruder um die Ecke verschwanden.

Ingrid lauschte noch einen Moment, doch als alles sicher erschien, entschloss sie sich, los zu gehen.

An einer Straße stieß sie schließlich doch wieder auf zwei Bullen, die sich über ein Funkgerät beugten.

„Ihr habt das Schwein? Fantastisch!", erklärte der Jüngere der beiden und selbst von hier konnte Ingrid, das sadistische Lächeln sehen, das sich auf seine Züge legte.

Zorn erfasste sie, als sie von der Festnahme Hannes' erfuhr. Sie hatte Hannes als Menschen nicht gemocht, aber als Genossen akzeptiert. Diese rücksichtslosen Faschisten! Wie Genossin Gudrun in der Erklärung „die Rote Armee aufbauen" schon geschrieben hatte: Ohne die Rote Armee aufzubauen, können die Schweine alles machen, können die Schweine weitermachen: Einsperren, Entlassen, Pfänden, Kinder stehlen, Einschüchtern, Schießen, Herrschen.

Wenn sie diese beiden nicht stoppte, würde dies noch mehr tote Studenten und eine weitere Unterdrückung des Proletariats bedeuten.

„Ihr Ausweis, Fräulein"

Unwillkürlich fing ihr Körper an zu zittern, als sie begriff, was sie nun würde tun müssen. Hier gab es keinen Ausweg über Mauern, ein Rückweg wäre unsinnig und es waren ihr nur zwei Bullen im Weg.

„Fräulein?" Der Ältere kam auf sie zu. Das Gesicht zu einem Lächeln verzogen, das freundlich wirken würde, wenn er kein Bulle wäre. „Ist alles in Ordnung?"

Eine Erinnerung an ihre Kindheit kam ihr in den Sinn. Eine der wenigen, die sie von ihrem Vater hatte, ehe dieser an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben war, als sie drei war. Er hatte sich über sie gebeugt und ihr seine Gründe für sein Handeln im Krieg erklärt. Warum er Juden und Osteuropäer verschont und beschützt hatte, während sein ganzes Umfeld es anders gehandhabt hatte.

„Es geht darum nicht wegzuschauen", hatte er erklärt und sie hatte genickt, „Es geht darum, die Freiheit und die Gerechtigkeit zu verteidigen!" Damals hatte sie es nicht verstanden, doch jetzt tat sie es.

„Fräulein?" Er kam noch einen Schritt näher. „Geht es Ihnen nicht gut?"

Seine Waffe war gesenkt und er hatte den linken Arm halb erhoben, als wolle er ihr helfen.

„Hier stehe ich und kann nicht anders." Die Worte kamen selbstverständlich über ihre Zunge. Worte, die sie seit ihrer Kindheit bewundert hatte, ebenso den mutigen Mann, der dahinter stand und der damit eine Kettenreaktion begonnen hatte.

„Bitte?"

Ingrid griff in ihre Jackentasche, während sie versuchte, nicht daran zu denken, dass Genossin Gudrun beim Anprobieren einer ähnlichen Lederjacke verhaftet worden war, und zog ihre Waffe hervor. Ihre Finger zitterten nicht im Geringsten, als sie die Waffe entsicherte. Es war eine Bewegung, die sie in Jordanien so oft ausgeführt hatte, dass sie ihr jetzt Sicherheit gab.

Wie seltsam doch die menschliche Natur war, dass die Sorge um sie ihn jetzt blind vor den Gefahren machte und der Bulle dennoch, ohne zu zögern auf den wehrlosen Ohnesorg schoss und auf ihn eintrat.

Der Mann stand direkt vor ihr, die Waffe halb erhoben und starrte sie an. Ihr linker Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Sie bewunderte die Anmut, mit der das Blut aus seiner Brust schoss. Rot. Jene Farbe, in welche die Bibel ihres Vaters eingeschlagen war. Tränen, von denen sie nicht erklären konnte, woher sie kamen, benetzten ihre Augen, während sie den Abzug erneut durchzog und schoss.

Der Bulle am Funkgerät hatte sich umgedreht und starrte sie fassungslos an. Die Kugeln schlugen in die Hauswand links und rechts von ihm ein und sein Blut spritzte an die Wand, so wie das seines Kumpanen den Boden benetzte.

Sie zog den Abzug für Ohnesorg. Für Petra, Georg und Thomas. Die Genossen, die ihr Leben für die Revolution geopfert hatten und von dem Schweinestaat für ihren Mut mit Hinrichtungen belohnt worden waren. Für die beiden Kinder, die im Hinterhof einer Fabrik spielten. Für ihre Schwester, damit diese ein Leben in Freiheit und Sicherheit führen konnte.

Du rächst sie, flüsterte sie sich zu. Und dennoch sah sie in diesem Moment nicht nur ein Schwein, sondern auch einen Menschen. Einen Menschen, der nun zu Boden sank, die Hand auf die Brust presste und sie mit starren Augen anblickte. Selbst jetzt schlugen die Kugeln weiterhin in seinen Körper und als das Magazin leer war, konnte sie nur mühsam den Finger wieder vom Abzug lösen, so fest hatte sie sich an ihn geklammert.

Die Pflicht eines Revolutionärs ist, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen, bis zum Tod zu kämpfen, wiederholte sie, jene Worte Blanqis, die auch in der Erklärung „Konzept Stadtguerilla" erwähnt wurden.

Ohne einen weiteren Blick an die beiden Schweine zu verschwenden, steckte Ingrid die Waffe in ihre Jacke, stieg über sie hinweg und machte sich auf den Heimweg.

Eine Frau mit Kinderwagen kam Ingrid auf den Treppen zu der Wohnung entgegen, so dass sie mit einem Lächeln anbot, ihr behilflich zu sein. Der Säugling gluckste, als sie ihn hinab trugen und schüttelte seine Rassel, die ein helles Klingeln durch das Treppenhaus klingen ließ.

„Vielen Dank!"

Die Frau schob sich eine schweißnasse Haarlocke aus dem Gesicht und lächelte sie freundlich an.

„Da nicht für! Kinder sind unsere Zukunft." Ingrid beugte sich über den Kinderwagen. Das kleine Mädchen blickte sie mit großen Augen an, bevor diese sich weiteten und sie zu greinen anfing. Ob sie das Blut an ihren Händen sah, dass sie für ihre Freiheit und Zukunft vergossen hatte?

Ingrid trat zurück und spürte, wie die Tränen sich in ihren Wimpern sammelten.

„Es tut mir leid! Sie wird Hunger haben" Die junge Mutter sah sie erschüttert an.

„Es ist alles in Ordnung" Sie stolperte zurück „Es hat mich nur an etwas erinnert"

„Auf Wiedersehen" Zögerlich hob die Frau die Hand, bevor sie den Kinderwagen eilig die Straße entlang schob.

Ingrid hob ihre Hände vor das Gesicht. Doch da war kein Blut. Nichts, was den Säugling hätte erschrecken können. Aber die Puppe...Jene Puppe, die sie einst ihrer Schwester geschenkt hatte.

Wir werden immer zusammen gehen. Ein Versprechen, von dem die Umstände gefordert hatten, das sie es brach. Nur durch einen vollständigen Kontaktabbruch war es ihr möglich, Maria zu beschützen und eine echte Revolutionärin zu sein, die nicht ständig darüber nachdachte, wie es sein würde, mit ihrer Schwester durch ihre Heimatstadt zu spazieren. Ulrike hatte bei ihrem Gang in die Illegalität ihre Zwillingstöchter, Gudrun ihren Sohn und Andreas seine Tochter zurückgelassen. Und sie ihre Schwester. Maria war es, die sie zurückhielt, sie davon abhielt, endlich vollkommen hinter den Zielen der Revolution zu stehen. Es war ihr Verstand, der ihr all diese Gründe aufzählte, jene Rationalität, die Maria so ausmachten. Nur ihr Herz, das sagte etwas anderes.

Ingrid wandte sich um, aber der Kinderwagen war schon lange um die Ecke verschwunden. Mit einem Seufzen schob sie diese Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg zur Wohnung.

Zu ihrem Bedauern lag die Wohnung weit oben und es dauerte auch noch, bis jemand auf ihr Klopfen reagierte. Sie war längst nicht wichtig genug, als dass man ihr einen Schlüssel genen würde.

Schließlich öffnete Gerhard ihr und ließ sie mit einem Winken ein. Er lehnte sich aus der Tür, sah sich um, schloss sie und fragte: „Dir ist niemand gefolgt?"

„Nein"

Dies war eine konspirative Wohnung, angemietet von einem Hamburger RAF-Sympathisanten, der jedoch noch nicht auffällig geworden war. Dennoch hatten sie vorsichtig zu sein. Schließlich waren auch die Genossen Andreas, Holger und Jan-Carl in einer Garage in Frankfurt am Main verhaftet worden, die als sicher gegolten hatte.

Erschöpft ließ Ingrid sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich die Stirn.

Klaus zog ein letztes Mal an seiner Kippe und musterte sie. „Was ist passiert? Wo ist Hannes?"

„Die Schweine haben ihn geschnappt"

„Verdammt!" Klaus ließ seine Faust auf den Tisch krachen, so dass dieser wackelte und zwei Gläser am Boden zerschellten. „Daran zeigt sich das wahre Gesicht dieser Demokratie! Nämlich den Faschismus, der die Revolutionäre um jeden Preis vernichten will! Das haben wir bei Ohnesorg gesehen und das haben schon die Genossen Petra, Thomas und Georg durchlitten. Ich sage euch, eines Tages werden nicht nur die Genossen in Freiheit erschossen, sondern auch die, welche bisher in den Gefängnissen schon Folter durchleiden. Aber erzähl weiter"

„Wir sind in eine Straßensperre geraten, wurden von den Bullen verfolgt und dabei getrennt. Ich glaub, dass ich dabei einen, vielleicht auch zwei, erledigt habe"

Gerhard, der bis eben an der Wand gelehnt hatte, sprang auf und klopfte ihr auf die Schulter.

„Darauf müssen wir anstoßen, Prinzesschen. Ein Schwein weniger, dass die Genossen in den Gefängnissen quält"

„Jetzt nicht", wehrte Ingrid ab, „Ist Genossin Ulrike da?"

Klaus nickte.

„Unser Kontaktmann war da und hat mir einen Brief übergeben. Aber das Cafe ist nicht länger sicher, denn ich glaube, dass dort ein V-Mann war."

„Gut gemacht". Der Druck, der von Gerhards Hand auf ihre Schulter ausging, verstärkte sich. „Jetzt bist du eine echte Genossin"

Sie konnte nicht verhindern, dass sie vor Freude errötete. Gerhard war ein bedeutendes Mitglied und es wurde erzählt, dass er schon einen Bullen erschossen hatte. Jetzt konnte auch sie mitreden und war anerkannt.

„Hatte Hannes irgendwas von uns?" Klaus zog erneut an seiner Kippe.

„Nur seine Waffe, auf der sie vielleicht Fingerabdrücke finden können und seinen gefälschten Ausweis. Wir hatten keine Pläne dabei und den Brief habe ich"

Ihr Genosse nickte nur und versank erneut in Schweigen.

Ingrid dagegen holte den Brief aus ihrer Hose, stand auf und klopfte an die Tür eines Zimmers.

Als ein „Herein" erklang, drückte sie die Klinke hinunter und trat ein. Auf dem Boden saß Ulrike mit Ralf Reiners, der mit Klaus zusammen für den Schutz der ehemaligen Journalistin verantwortlich war. Sie beugten sich über mehrere eng beschriebene Seiten, sahen jedoch auf, als Ingrid eintrat.

„Der Kontaktmann hat uns einen Brief übergeben"

Ralf nahm ihn, ohne ihr einen weiteren Blick zu widmen, und reichte ihn Ulrike.

Diese riss ihn auf und vertiefte sich in den Worten. Ingrid beobachtete sie dabei. Manchmal kam es ihr so vor, als passe Ulrike nicht in diese Gruppe. Sie war stiller, nachdenklicher, so dass man Angst hatte, dass sie unter dem Fahndungsdruck zerbrechen würde, aber dennoch wortgewandt, wenn sie etwas sagen wollte. Sie war es, die von der Presse zur Anführerin der Baader-Meinhof-Bande gemacht worden war und allein sie war es gewesen, nach der man nach der legendären Befreiung von Andreas gefahndet hatte. Vielleicht lag das daran, dass sie diese Verhältnisse einfach nicht gewöhnt war, wo sie doch wegen ihrer Ehe in einer Villa hier in Hamburg gelebt hatte. Dennoch konnte niemand Ulrike absprechen, eine Revolutionärin zu sein, denn das war sie mit ganzer Seele.

Als Ingrid noch Studentin in Kiel und West-Berlin gewesen war, hatte Ulrike ihr als großes Vorbild gedient. Begeistert hatte sie die Kolumne in Konkret gelesen, ihre Heimkampagne verfolgt und alle Zeitungsartikel und Interviews von ihr gesammelt. Damals war Ingrid jung gewesen, jetzt war sie erwachsen.

„Gerhard!"

Der Gerufene öffnete die Tür und blickte die Mutter von Zwillingen fragend an.

„Ich werde Hamburg morgen verlassen und du wirst mich begleiten"

„Wohin?"

„Hannover. Genossin Brigitte Kuhlmann wird für eine Wohnung sorgen."

Das RAF-Mitglied nickte.

„Ihr ist zu vertrauen", befand er, „Es gibt viel vorzubereiten"

„Ja", stellte Ulrike knapp fest und deutete Ralf und Ingrid mit einer Handbewegung zu verschwinden.

Es gab nichts zu tun und so setzte sie sich mit einem Buch in die Küche, neben Ralf und Klaus, die sich leise unterhielten.

„Was liest du da?"

Überrascht von dieser Frage blickte Ingrid auf. Gerhard stand vor ihr, seine Planungen mit Ulrike mussten beendet sein. Bisher hatte er wenig Interesse an ihren Lesegewohnheiten gezeigt, dennoch wagte sie es nicht zu schweigen.

„Der Lübecker Christenprozeß 1943", erklärte sie schließlich, „Es erzählt die Geschichte dreier katholischen Kapläne und einem evangelischen Pastors, die wegen ihres Protestes gegen Hitler hingerichtet worden sind. Meine Schwester hat mir das Buch geschenkt."

Sie erkannte sofort, dass sie den letzten Satz nicht hatte sagen sollen, denn Gerhards Gesichtsausruck änderte sich sogleich und Ralf wechselte einen schnellen Blick mit Klaus.

Er baute sich über ihr auf und riss ihr das Buch aus der Hand.

„Es ist ein Relikt deiner Vergangenheit - die Vergangenheit als bürgerliche Sau. Nichts mitnehmen, was dich identifizieren kann! Hast du das etwa alles vergessen?", schrie er und Ingrid zuckte zusammen.

All der Mut, das Selbstbewusstsein, das sie durch seine vorige Anerkennung gewonnen hatte, war wieder verschwunden. Hatte er Recht? Dieses Buch mochte Teil ihrer Vergangenheit sein, doch war es ein Teil jener Zeit, in der sie begonnen hatte, die Welt jenseits von Kapitalismus und Schönheit zu sehen und sie letztendlich in den Freiheitskampf geführt hatte. Dennoch war das Buch Teil ihrer Vergangenheit und machte sie damit wirklich identifizierbar. Doch hielt sie etwas davon ab, ihm Recht zu geben und das Versprechen abzugeben, den „Lübecker Christenprozeß 1943" zu vernichten. Dieses etwas konnte sie nicht benennen. Es war nur ein Gefühl, das ihr zuflüsterte, dass sie damit auch ihre Identität aufgab - und das Lächeln ihrer Schwester vergessen würde. Jenes breite kostbare Lächeln, das sich über Marias Gesicht gezogen hatte, als sie ihr das Buch geschenkt hatte.

„Lass sie." Ulrikes Stimme war leise, doch unterbrach sie die angespannte Stille, die sich in der Küche ausgebreitet hatte. Ingrid hob den Kopf und blickte zu der anderen Frau, die sich an den Türrahmen lehnte und Gerhard stumm ansah.

„Meinst du Hannes hat seine Che Guevara T-Shirts vernichtet, nur weil er sie in einem bürgerlichen Leben erworben hat? Und Gudrun hat weiterhin in kapitalistischen Märkten Lederjacken anprobiert. Was zählt, ist die Intention. Wir dürfen nicht vergessen, was uns zu dem gemacht hat, das wir heute sind. Es ist richtig, alle Brücken zu unserem bürgerlichen Leben abzubrechen, doch das Fundament auf dem wir unsere ganz persönliche Revolution erbaut haben, dürfen wir nicht vergessen. Bei Ingrid mag dies der mutige Widerstand einiger Christen gegen das Unrecht des Hitler-Regimes gewesen sein, so wie wir heute gegen das Unrecht von Vietnam kämpfen."

Stumm nickte Gerhard und reichte ihr das Buch. Ihre Finger schlossen sich fest um das Bündel Papier und pressten es an ihre Brust.

„Bereite lieber alles vor", wandte Ulrike sich erneut an ihren Genossen, „Persönliche Fehler können wir das nächste Mal bereden."

„Einverstanden."

Seltsamerweise fühlte Ingrid sich erleichtert, als Gerhard sich abwandte und den Raum verließ.

„Zeigst du mir das Buch?" Einen kurzen Moment zögerte sie, doch dann reichte sie es Ulrike. Diese las den Klappentext, durchblätterte es kurz und gab es ihr dann mit den Worten „Ich bin sicher, dass es Gudrun auch gefallen würde" zurück.

Richtig. Gudruns Vater, dessen Tochter neben Andreas, Ulrike und Horst Mahler die Stadtguerilla mitbegründet hatte, war evangelischer Pfarrer.

„Dann müssen wir sie erst befreien", entgegnete Ingrid.

„Richtig. Wir dürfen sie diesen Schweinen nicht ausgeliefert lassen, weshalb wir Genossen in Freiheit alles tun müssen, um sie freizukriegen, bevor der Staat sie auslöschen kann"

„Ich werde nicht aufgeben, bis das getan ist!" Noch nie war Ingrid in etwas entschlossener gewesen.

Ihre Genossin nickte, dann wandte sie sich ab und verschwand in ihrem Zimmer.

Ingrid blieb alleine zurück. Nachdenklich schlug sie ihr Buch wieder auf und fuhr mit dem Lesen fort.

Bei einem Absatz stockte sie und konnte nicht anders, als jene letzten Worte, die Hermann Lange kurz vor seinem Tod niedergeschrieben hat, laut auszuformulieren: „Heute kommt die größte Stunde meines Lebens. Alles, was ich bis jetzt getan, erstrebt und gewirkt habe, es war letztendlich doch alles hinbezogen auf jenes eine Ziel, dessen Band heute durchrissen wird." Ihr Körper erschauderte, als sie an den Mann dachte, der dies hatte schreiben können, obwohl er wusste, dass ihn in wenigen Minuten der Henker holen würde. Und falls sie jemals Zweifel gehabt hatte, an dem, was sie hier taten, dann verschwanden sie nun endgültig. So wie der mutige Priester laut gegen den NS-Terror gesprochen und für diesen Kampf gestorben war, so wollte auch sie gegen Vietnam und den Nazigeist des Staates vorgehen und wenn es nötig sein sollte, dafür auch ihr Leben geben.

Es war die einzige richtige Entscheidung, die blieb.




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