Wir werden immer zusammen geh...

By Limayeel

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„Wir werden immer zusammen gehen" versprechen sich zwei Schwestern. Doch dann entscheidet sich Ingrid für ein... More

Prolog: 22.7.1959, Eutin
1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin
2. Kapitel: 29.10.1968, Eutin
3. Kapitel: 13.5.1970, Hamburg/Eutin
5. Kapitel: 19.5.1972, Hamburg
6. Kapitel: 13.6.1972, Hamburg
7. Kapitel: 19.6.1972, Eutin
8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck
9.Kapitel: 5.9.1993, Lübeck/Hamburg
Nachwort

4. Kapitel: 3.6.1970, Eutin/Ost-Berlin

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By Limayeel




Die Bildung der RAF 1970 hatte in der Tat spontaneistischen Charakter. Die Genossen, die sich ihr anschlossen, sahen darin die einzige wirkliche Möglichkeit, ihre revolutionäre Pflicht zu erfüllen. Angeekelt von den Reproduktionsbedingungen, die sie im System vorfanden, der totalen Vermarktung und absoluten Verlogenheit in allen Bereichen des Überbaus, zutiefst entmutigt von den Aktionen der Studentenbewegung und der APO hielten sie es für nötig, die Idee des bewaffneten Kampfes zu propagieren. Nicht weil sie so blind waren, zu glauben, sie könnten diese Initiative bis zum Sieg der Revolution in Deutschland durchhalten, nicht weil sie sich einbildeten, sie könnten nicht erschossen und nicht verhaftet werden. Nicht weil sie die Situation so falsch einschätzten, die Massen würden sich auf ein solches Signal hin einfach erheben. Es ging darum, den ganzen Erkenntnisstand der Bewegung von 1967/68 historisch zu retten; es ging darum, den Kampf nicht mehr abreißen zu lassen.

- Ulrike Meinhof 1975 über die Gründung der RAF -

3.6.1970, Eutin

Mit einem Lächeln betrachtete Ingrid ihre Schwester im Licht des Mondes, das durch das offene Fenster hereindrang. Sie sah so unschuldig, so verletzlich aus wie sie in ihrem Bett lag, die Decke fort getreten, nur mit einem Nachthemd bekleidet, für dessen rote Blümchen sie eigentlich schon viel zu alt war. Ihr Haar, das dunkler wirkte, als es eigentlich war, war zerzaust wie immer des Nachts. Die Augen zuckten unter den Lidern und verrieten, dass Maria träumte. Die Ältere hoffte so sehr, dass ihre Schwester von Glück und Hoffnung träumte, anstelle des Leids, das diese Welt prägte.

Sie hob die Hand und legte sie auf die Wange der Schülerin. Die Haut war warm und weich unter ihrer Berührung, doch Ingrids Finger waren kalt, so dass sie sich bald regte.

Maria schlug die Augen auf und weitete sie überrascht. Jedes andere Mädchen ihres Alters hätte geschrieen, doch nicht Maria. Die Wangen röteten sich und jedes strahlende Lächeln, für das Ingrid ihre Schwester verehrte, zierte ihre Mundwinkel.

Ohne ein Wort sprang sie auf und umarmte den unerwarteten Gast heftig. Ingrid drückte den warmen, lebendigen Körper an sich, spürte das Herz ihrer Schwester an ihrer Brust pochen und nur dank des Gedanken an die kalten, leblosen Körper auf den Feldern Vietnams vermochte sie es ihre Schwester von sich zu schieben.

Maria hob eine Augenbraue, doch ging nicht darauf ein und fragte nur: „Was machst du hier? Du wolltest doch erst zu deinem Geburtstag wiederkommen!" Ihre Stimme zitterte und jegliche Freude schien verschwunden hinter der Frage, was ihr Besuch hier bedeuten mochte. Es war kein normaler Besuch, nicht mitten in der Nacht, nicht wenn Ingrid sich heimlich ins Haus geschlichen hatte, das wussten sie beide.

Nichts war Ingrid je schwerer gefallen, als die folgenden Worte über die Lippen zu bringen: „Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden." Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, alles zurück zu lassen und sich vollends der Revolution anzuschließen.

Die Angst war nun nicht länger verdeckt, sondern ein offener Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Schwester.

„W-Wohin?"

Ingrid bewunderte es, dass ihre Schwester nicht nach dem Warum fragte und dass ihre Augen trocken blieben.

„Dorthin wo die Revolution mich braucht." Ein Teil von ihr wollte ihrer Schwester von Jordanien erzählen, dem Camp, das sie dort mit den Genossen besuchen würde und ihren Plänen. Doch wäre es Verrat gegenüber den Kameraden und so schwieg sie.

„Was redest du denn da? Dein Platz ist hier, meinetwegen auch in West-Berlin, aber auf jeden Fall an meiner Seite."

„Dieser Teil meines Selbst gehört der Vergangenheit an, denn kennt der Revolutionär keinen Komfort, sondern nur den Kampf." Der offene Schmerz in den Augen ihrer Schwester schmerzte auch Ingrid, doch war die Wahrheit das allerbeste Heilmittel und Maria musste ihren Weg einfach verstehen.

„Du kannst nicht gehen!" Maria schüttelte wild den Kopf und wirbelte ihre Haare auf. „Ich brauche dich!"

„Wie alt bist du? Schaue der Realität ins Auge. Du kannst auf dich selbst aufpassen, aber die Kinder in Vietnam können sich nicht selbst verteidigen und brauchen unsere – meine – Solidarität."

„Das ist doch Quatsch! Baue erst dein eigenes Leben, damit du damit den Kindern helfen kannst, aber ich bitte dich, werfe deine Zukunft nicht weg!" Die Tränen rannen nun ungehindert über ihr Gesicht, aber Ingrid bestärkten sie nur in ihrer Entscheidung. Wenn ihre Schwester es noch nicht einmal vermochte, diesen notwendigen Abschied zu verkraften, wie sollte sie dann eine Revolution an ihrer Seite führen?

„Sag unserer Mutter und Thomas meinetwegen, dass ich hier war, oder auch nicht. Ich muss nicht länger Rücksicht auf sie nehmen."

„Nein." Erneut schüttelte Maria den Kopf. „Das mache ich nicht. Es würde Mutter das Herz brechen."

„In Ordnung." Ingrid nickte „Ich werde aus meiner West-Berliner WG Briefe von einer Freundin schicken lassen, die unsere Eltern lesen können. Wenn du Nachrichten von mir möchtest, dann geh zur Hütte im Wald, dort werde ich Briefe für dich hinterlegen.

Maria strich sich eine tränennasse Haarsträhne aus dem Gesicht, aber sie nickte.

„Ich habe noch etwas für dich." Sie stand auf, durchquerte ihr Zimmer und blieb vor dem Bücherregal stehen. „Eigentlich wollte ich es dir zum Geburtstag schenken, aber jetzt..." Erneut wurde sie von einem Schluchzen gepackt und sank in sich zusammen.

Verächtlich schüttelte Ingrid den Kopf. Warum hatte sie nie zuvor die Schwäche ihrer Schwester erkannt? Jene Schwäche, die sie für die Revolution ungeeignet machte und die auch Ingrid hatte ablegen müssen, um Mitglied der Vereinigung zu werden, die als erste die Waffe in die Hand nahm, um für die Freiheit zu kämpfen.

„Hör auf zu flennen, das ist deiner nicht würdig."

Maria wandte sich um und blickte sie an.

„Haben sie dir deine Gefühle genommen? Wo ist dein gütiges Herz geblieben, Schwester?"

Verächtlich schnaubte Ingrid auf. „Mein gütiges Herz kämpft für die Befreiung des Proletariats und Vietnams, nur ist es jetzt hart geworden, um nicht länger vor dem Unvermeidbaren zurückzuschrecken."

Ihre Schwester zuckte zusammen, aber Ingrid bemerkte es nicht einmal. „Die Revolution", sie legte die Hand aufs Herz, „ist nicht zu stoppen."

„Die Revolution? Ich will eine Schwester und keine Revolution." Flehend streckte sie ihre Hand zu ihr aus und für einen Moment hing sie zwischen ihnen. Doch es war Maria, die sie sinken ließ, denn besaß Ingrid keine Intention, sie zu ergreifen.

„Dann bist du verloren!" Ingrid wusste sehr wohl, dass sie unbarmherzig klang, doch galt es eine klare Botschaft, eine klare Trennlinie zu ziehen, wie es Hermann ihr erklärt hatte. Sonst konnte sie keine Revolutionärin mit ganzem Herz und ganzer Seele sein.

Ihre Schwester schwieg und wandte sich ab. Sie verbarg ihr Gesicht zwischen den Händen. Als sie sich umdrehte, hatte sie die Tränen abgewischt und hielt ein Buch vor sich.

„Hier." Sie reichte es ihrer älteren Schwester und deren Finger schlossen sich instinktiv um die Seiten gebündelten Papiers. „Vielleicht öffnet dir das ja die Augen und lässt dein Herz wieder so weich werden, dass du darüber nachdenkst, was du da eigentlich tust."

Doch als Ingrids Augen nur teilnahmslos über den Titel der Lübecker Christenprozeß 1943
schweiften, schien etwas in ihr zu zerbrechen und erneut zuckte sie zusammen.

„Hast du wirklich geglaubt, mich mit einem Buch kaufen zu können?" Ingrid spie vor ihr auf den Boden, um der Verachtung ein Zeichen zu setzen. Vielleicht weil es einfacher war, sich vorzustellen, Maria zu verachten, als sich einzugestehen, dass sie ihre Schwester jetzt schon vermisste.  Dennoch steckte sie das Buch in ihre Jackentasche, bevor sie sich aufrichtete und sich auf den Weg zum Fenster begab, um sich auf den Rückweg zu machen.

Wir werden immer zusammen gehen! Du hast es versprochen" Jede einzelne Träne auf Marias Gesicht glich einem Dolchstoß in Ingrids Herz, doch sie wandte sich nicht um und sah nicht zurück. In der Gegenwart ihrer Schwester verschwammen die Gedanken an Anh, die Genossen und der Kampf für die Gerechtigkeit und das durfte nicht sein. Maria ging es gut, viel besser als Anh oder den Kindern in Vietnam, so dass es galt, Prioritäten zu setzen. Sie hatte sich entschieden und es gab kein zurück.

Ohne ein weiteres Wort stieg sie aus dem Fenster und verschwand, um den Weg einer Kämpferin zu gehen.

Maria hielt sie nicht zurück.

Wir werden immer zusammen gehen. Es war nur ein Märchen, das bestimmt auch vietnamesische Eltern ihren Kindern eingeflüstert hatten, bevor sie unter amerikanischem Napalm ihr Leben ausgehaucht hatten. Vergangenheit.


Zwei Tage später stand Ingrid vor dem Flughafen Schönefeld und fühlte sich auffällig beobachtet. Es schien, als ob jeder erkennen könnte, dass sie aus dem Westen stammte, obwohl sie schon extra alte Sachen angezogen hatte. Niemand grüßte sie oder schenkte ihnen ein Lächeln. Stattdessen eilten die Menschen mit eingezogenen Köpfen, die Einkäufe an sich gepresst, an ihnen vorbei, dennoch spürte Ingrid die Blicke.

„Entspann dich!", zischte Hermann an ihrer Seite und nahm ihre linke Hand. Seine war nicht weniger schwitzig als ihre, doch lag eine Endgültigkeit in seiner Stimme, die dazu führte, dass Ingrid schwieg.

Er hielt inne, stellte seinen Koffer ab und strich ihr eine Haarsträhne aus den Mundwinkeln. Dann versenkte er sein Gesicht in ihren offenen Haaren und brachte seinen Mund an ihr Ohr heran. „Lächle! Wir sind ein verliebtes Pärchen auf Urlaubsreise. Was soll uns schon geschehen?"

„Du hast recht", erwiderte sie.

„So ist's recht!" Falls sie zuvor noch Angst gehabt hatte, so trieb sein Kuss sie ihr aus. Ingrid konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln über ihr Gesicht zog, sie errötete und sich automatisch aufrechter hinstellte. Es ist nur Tarnung, flüsterte sie sich selbst zu, Vergiss es nicht.

Doch ein Teil von ihr tat genau das, als Hermann sie erneut küsste. Vergas, weshalb sie hier waren und stellte sich vor, dass sie einfach nur eine Studentin mit ihrem Freund auf Urlaubsreise war. Für ihn war dieses Theaterstück so einfach, aber nicht für sie. Vielleicht wäre es das mit jemand anderem gewesen, doch es war Hermann, mit dem sie ankommen und reisen sollte. Er hatte sie nach ihrer Entscheidung vor knapp einem Monat an seine Seite genommen, sie den Genossen vorgestellt, ihr die Pläne erklärt und sie in die Organisation eingeführt, die sie zu gründen planten. Er war es gewesen, der ihr Tipps gegeben hatte, wie sie ihr Untertauchen verschleiern und ihre Umgebung täuschen konnte. Nur den Rat, den Kontakt zu ihrer Familie vollends abzubrechen, den hatte sie nicht befolgt.

Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, von dem sie glauben wollte, dass er nicht nur zum Theater gehörte, sondern wirklich ihr galt und das sie entgegnete.

„Komm, wir wollen doch unseren Flug nicht verpassen!" Er griff nach seinem Koffer und nahm erneut ihre Hand. Ingrid entgegnete den Druck und gemeinsam traten sie schon fast ein wenig zu beschwingt in das Flughafengebäude.

Viele Menschen bevölkerten die Wartehalle, so dass Ingrid Hermanns Hand noch fester umklammerte, damit sie nicht getrennt wurden. Sie war noch nie in einem Flughafengebäude gewesen, doch schien es ihr, als wirkte alles schäbiger, als sie von Westberlin gewohnt war. Nach ein paar Minuten war es auch ihr möglich Ostdeutsche von Westdeutschen zu unterscheiden. Erstere wirkten stiller, in sich gezogener, darauf bedacht, keine Fehler zu machen, und redeten kaum, selbst die wenigen Kinder nicht.

„Sieht so die Freiheit aus?", fragte Ingrid den Genossen an ihrer Seite leise.

Hermann zuckte mit den Schultern. „Das sind Genossen, die ihr Glück noch nicht verstanden haben."

„Sicherlich." Ingrid nickte. Eigentlich hatte sie nie sonderlich viel über die DDR nachgedacht. In ihrer Kindheit hatte ihr Stiefvater immer über den Unrechtsstaat geschimpft, der ihn von seiner Familie trennte und in ihrer Studentenzeit war die BRD so viel relevanter gewesen. Doch der Gedanke an einen Staat, der auf Marx und Lenin aufbaute, war tröstlich gewesen. Natürlich mussten die Menschen glücklich sein.

„Ich glaub, dort sind sie." Hermann deutete auf ein Paar, das links von ihnen in einer Schlange stand. Als sie näher kamen, erkannte Ingrid, dass er Recht hatte. Die junge Frau, die ihr wage bekannt vorkam, musste Petra sein und der Mann an ihrer Seite Manfred. Mit ihnen waren sie verabredet.

„Franz!" Petra sah sie zuerst und begrüßte Hermann lautstark mit seinem Tarnnamen. Während die beiden Männer sich umarmten, trat sie auf Ingrid zu und musterte sie neugierig.

„Hallo, Judit! Es freut mich, dich wieder zu sehen." Ohne ein Anzeichen des Zögerns drückte sie Ingrid an sich und umarmte sie so, dass man sie für enge Freundinnen halten musste. Es war eine schauspielerische Glanzleistung, die Ingrid, obwohl sie für ihr Leben gern Theater spielte, nur schwer erwidern konnte.

„Wie läuft dein Studium, Judit? Bist du gut durch die Prüfungen gekommen?" Nur die Lautstärke ihrer Stimme verriet die Nervosität Petras. Besonders, als sie Ingrids Tarnnamen fast schon ausschrie, drehten sich einige Leute zu ihnen um. Als Hermann sie um einen Tarnnahmen gebeten hatte, da hatte sie den dieser mutigen Frau aus den Apokryphen gewählt. Es war die gottesfürchtige Witwe gewesen, die alleine mit ihrer Magd in das Heerlager der Belagerer gegangen war und den Heerführer erschlagen hatte, wodurch Israel von einer großen Gefahr befreit worden war. Und genau das wollte auch Ingrid erreichen, die Befreiung des Proletariats, die Freiheit Vietnams und das Ende des Imperialismus.

„Es war sehr anstrengend", begann sie, als sie bemerkte, wie lange sie geschwiegen hatte, „und einige sind durchgefallen, aber ich habe es geschafft. Umso mehr freue ich mich jetzt auf die Zeit in Jordanien."

„Natürlich, den hast du dir auch r..." Petra brach ab und als Ingrid ihrem Blick folgte, bemerkte sie den offiziell wirkenden Mann, der bei Hermann und Manfred stand und auf sie einredete, wobei er immer wieder zur anderen Ende der Halle zeigte.

Besorgt traten die beiden Frauen näher.

„Ist etwas nicht in Ordnung?", wagte Ingrid zu fragen, während ihr Herz wie wild pochte.

Der Mann, gekleidet in einen tadellosen Anzug, wandte sich ihr zu und erklärte mit einem gönnerhaften Lächeln, bei dem sie sich wie ein kleines Schulmädchen fühlte: „Machen sie sich keine Sorgen, Fräulein, nur eine Unstimmigkeit mit den Ausweisen dieser beiden Herren."

Sie wechselte einen raschen Blick mit Petra, die ihr Entsetzen nicht mehr überspielen konnte. Ingrid wusste nicht wie die beiden anderen es gemacht hatten, aber sie und Hermann trugen gefälschte Ausweise.

Hermann trat zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Mach dir keine Sorgen, Schätzchen. Wir klären das schon." Doch den Ausdruck der Sorge auf seinem Gesicht konnte er nicht verbergen.

„Mein Herr, wir wollen unseren Flug nicht verpassen, verstehen sie...?" Petra scheiterte an dem Versuch eines freundlichen Lächelns.

„Das lassen Sie mal ganz allein meine Sorge sein." Mit einem aalglatten Lächeln verabschiedete er sich von ihnen und verschwand mit Hermann und Manfred. Sie sahen ihnen hinterher, bis sie in der Menschenmenge verschwanden, nicht genau wissend, was sie jetzt tun sollten. Wie hatte der BND sie nur finden können? Ingrid verstand es nicht, hatten sie doch alles getan, um ihre Spur zu verwischen. Was sollten sie tun? Konnte der BND überhaupt etwas tun? Immerhin waren sie nicht in der Bundesrepublik, sondern in der DDR. Und die DDR und sie verfolgten doch dieselben Ziele, waren Genossen, sicherlich würden sie ihre Gruppe nicht ausliefern. Ingrid nickte, zufrieden mit dieser Feststellung. So musste es sein.

„Benötigen sie Hilfe?" Der Tonfall klang so viel freundlicher als der des jungen Mannes.

Ingrid wandte sich um und blickte in das Gesicht eines Herrn mittleren Alters, dessen Haar von grauen Strähnen durchzogen war und um dessen Hals eine neue Leicaflex baumelte. Neben ihm stand eine ebenso alte Frau, die sie freundlich anlächelte.

„Nein. Es ist nur eine kleine Unstimmigkeit, die bald schon geklärt sein wird. Aber haben sie vielen Dank!" Petra wandte sich wieder ab, wohl in der Hoffnung die Alten damit abgewimmelt zu haben, doch war dem nicht so.

„Fliegen sie das erste Mal nach Jordanien?", fragte die relativ kleine Frau.

„Ja"

„Nun wir waren vor drei Jahren schon einmal dort und haben uns entschlossen, die Reise zu wiederholen, weil sie uns so gut gefallen hat." Der Mann beugte sich verschwörerisch zu ihr herab, „Das Flughafenpersonal ist zwar extrem unhöflich, aber was soll man machen?" Er zuckte mit den Schultern. „Die Flüge sind so günstig und da meine Frau und ich gut ohne Komfort auskommen, fliegen wir trotzdem immer von Schönefeld aus."

Seine Gattin nickte. „Jordanien ist wunderschön. Es wird Ihnen dort gefallen. Die Landschaft ist wunderschön, auch wenn man sich erst einmal an die Hitze gewöhnen muss. Auf jeden Fall anders, aber es lohnt sich."

„Was machen sie denn dort? Haben sie irgendwelche Ausflugsziele?"

Ingrid schwieg. Was sollte sie auch antworten? Das sie zu einem Camp der Al Fatah fuhr, um sich für den Kampf gegen den Imperialismus ausbilden zu lassen? Doch bevor sie sich etwas ausdenken konnte, schlangen sich zwei Arme von hinten um sie und Hermanns Kopf schob sich über ihre Schulter.

Mit einem Lächeln, welches verriet, das alles gut ausgegangen war, wandte er sich an das Ehepaar und meinte: „Also wir drei anderen wollen uns eigentlich nur erholen, aber Judit forscht für ihr Studium dort. Wer war das noch mal? Die Nabater?" Sie schlug ihm lachend auf dem Arm, erleichtert, dass es ihm gut ging, dankbar für ihn.

„Es waren die Nabatäer, Liebling."

„Die meinte ich doch!"

„Natürlich." Sie verdrehte die Augen. „Die Nabatäer waren antike Nomadenstämme, die sich im zweiten Jahrhundert nach Christus zum Königreich Nabataea zusammenschlossen. Ihre Hauptstadt war Petra, eine sagenhafte Ruinenstadt, die wir besuchen werden. Bekannt wurden die Nabatäer vor allem für ihre weit entwickelten Bewässerungsanlagen, mit denen sie trotz des extrem ariden Klimas Ackerbau betreiben können", erklärte Ingrid dem Paar.

Der Mann lächelte freundlich. „Es ist schön, dass junge Menschen Träume haben und für diese leben."

Seine Frau nickte. „Und bewahrt euch eure Liebe. Sie ist sehr kostbar vor allem in diesen schwierigen Zeiten. Wir wünschen euch alles Gute."

„Vielen Dank!" Ingrid hob die Hand. „Lebt wohl."

Ein letztes Mal nickte das Paar ihnen zu, dann verschwanden sie zwischen den Menschenmassen.

Ingrid drehte sich zu Hermann um.

„Was ist passiert?"

Hermann runzelte die Stirn. „Er war nicht vom Bundesnachrichtendienst, sondern von der Staatsicherheit."

„Der Stasi? Was wollte er?"

„Sich überzeugen, dass wir auf derselben Seite stehen." Er zuckte mit den Schultern. „Solange wie wir nur in der BRD und nicht hier Bomben legen, dürfen wir weiterhin ungestört über Ostberlin in den Nahen Osten ausfliegen. Wir müssen nur die DDR in Frieden lassen und da wir alle Genossen sind, wird das nicht weiter schwierig."

„Das heißt, uns steht nichts mehr im Wege!" Ein strahlendes Lächeln zog sich über Ingrids Gesicht und all die Anspannung, die zuvor auf ihren Schultern gelastet hatte, verflog.

„Richtig!" Erneut küsste er sie und Ingrid schmeckte seine Erleichterung und wusste, dass es mehr war als nur Schauspielerei.

„Lass uns die Welt verändern", flüsterte sie in sein Ohr.

Seine Bartstoppeln kitzelten, als er nickte.

„Für eine bessere Welt!"

Erneut küsste er sie und all die Träume, die sie als Kind geträumt hatte, schienen in greifbare Nähe zu rücken. Jetzt, wo sie diese endlich in die eigene Hand genommen hatte und bereit war, nach Jordanien auszufliegen. Bald, wisperte sie sich selbst zu, Bald wird Vietnam gerecht sein. Bald werden die Amis begreifen, dass wir nicht länger ihre Morde unterstützen und sie in der BRD nicht mehr sicher sind. Bald.

Nur noch ein wenig Geduld, dann würde Anhs Leid gerecht sein. Bald. Nichts hatte einen süßeren Klang.

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