Wir werden immer zusammen geh...

By Limayeel

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„Wir werden immer zusammen gehen" versprechen sich zwei Schwestern. Doch dann entscheidet sich Ingrid für ein... More

Prolog: 22.7.1959, Eutin
1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin
2. Kapitel: 29.10.1968, Eutin
4. Kapitel: 3.6.1970, Eutin/Ost-Berlin
5. Kapitel: 19.5.1972, Hamburg
6. Kapitel: 13.6.1972, Hamburg
7. Kapitel: 19.6.1972, Eutin
8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck
9.Kapitel: 5.9.1993, Lübeck/Hamburg
Nachwort

3. Kapitel: 13.5.1970, Hamburg/Eutin

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By Limayeel

Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewußt hätten, daß ein Linke dabei angeschossen wird - sie ist uns oft genug gestellt worden -, kann nur mit Nein beantwortet werden. Die Frage: was wäre gewesen, wenn, ist aber vieldeutig - pazifistisch, platonisch, moralisch, unparteiisch. Wer ernsthaft über Gefangenenbefreiung nachdenkt, stellt sie nicht, sondern sucht sich die Antwort selbst. Mit ihr wollen Leute wissen, ob wir so brutalisiert sind, wie uns die Springerpresse darstellt, da soll uns der Katechismus abgefragt werden. Sie ist ein Versuch, an der Frage der revolutionären Gewalt herumzufummeln, revolutionäre Gewalt und bürgerliche Moral auf einen Nenner zu bringen, was nicht geht. Es gab bei Berücksichtigung aller Möglichkeiten und Umstände keinen Grund für die Annahme, daß ein Ziviler sich noch dazwischenwerfen könnte und würde. Daß die Bullen auf so einen keine Rücksicht nehmen würden, war uns klar. Der Gedanke, man müßte eine Gefangenenbefreiung unbewaffnet durchführen, ist selbstmörderisch.

- aus dem ersten Positionspapier der RAF: Konzept Stadtguerilla, erschienen im April 1971 - 

13. 5. 1970, Hamburg


„Wir hätten da abbiegen müssen!", schrie Helena über den Fahrtlärm hinweg und schlug Hermann auf die Schulter.

„Ach, was", entgegnete dieser grinsend und überholte in rasanter Fahrt ein Auto, was dieses abrupt abbremsen ließ. Zornig hupte der Fahrer, doch Hermann ignorierte ihn.

„Lass ihn doch.", meinte Ingrid und schob ihre Freundin zurück auf den Sitz. Kopfschüttelnd ließ sich diese zurücksinken und schüttelte wohl wissend, dass eine Ermahnung den Fahrstil ihres Fahrers nicht sicherer machen würde, den Kopf.

„Wir hätten doch auf Peters Angebot eingehen sollen", erklärte Helena so leise, dass Hermann es nicht hören konnte. „Er wäre zwar erst morgen losgefahren, aber wesentlich zuverlässiger gewesen."

Unzuverlässig. So konnte man Hermanns Fahrstil sicherlich beschreiben, dennoch genoss Ingrid es. Die Autos, die hinter ihnen zurückblieben, die vorbeiziehenden Straßenzüge, der Wind, der durch die kaputte Fensterscheibe pfiff, all das vermittelte ihr ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit.

„Jetzt fahr aber mal langsamer!", rang Helena sich schließlich doch durch, „Man kann die Straßenschilder nich mal mehr lesen."

Als Hermann daraufhin tatsächlich abbremste, konnte sie ihre Überraschung jedoch nicht verbergen.

„Seht ihr das da drüben?" Ohne sich länger auf das Autofahren zu konzentrieren, streckte ihr Fahrer die Hand aus dem Fenster und deutete auf eine ferne Gruppe von Gebäuden. „Das ist das Männergefängnis Neuengamme oder die Justizvollzugsanstalt XII." Der Abscheu in seiner Stimme war unüberhörbar und ließ Helena verwirrt die Stirn runzeln, aber Ingrid verstand, worauf er hinaus wollte. „Und früher ein KZ", meinte sie leise, als sei so der Tod zu verschleiern, den die Nazis dort gebracht hatten.

Hermann warf ihr durch den Rückspiegel einen schwer zu deutenden Blick zu, dann nickte er. „Richtig" Seine Stimme war ernst, jegliche Freude und Übermut verschwunden. „Damit wir vergessen, was dort einst geschah, damit niemand sich mehr erinnert, dass es dort einst ein KZ gab, in dem Tausende Juden ermordet worden sind."

Ihrer Kenntnis nach waren in Neuengamme vor allen politische Verfolgte und nur wenige Juden gewesen, doch war diese Tatsache in diesem Moment vollkommen unerheblich. Sie verstand seinen Zorn.

„Und den Angehörigen der Ermordeten wird jegliche Möglichkeit genommen, sich zu erinnern und an den Ort zurück zu kehren, wo ihre Liebsten starben", fügte sie also hinzu.

Obwohl Hermann die Geschwindigkeit sehr gedrosselt hatte, war das ehemalige KZ schon bald nicht mehr zu sehen.

„Das ist grauenvoll!", fand Helena ihre Stimme zurück, „Man sollte meinen, dass wir aus unserer Vergangenheit gelernt haben, aber stattdessen wird alles unter den Teppich gekehrt, denn wir wollen ja nach vorne sehen." Verachtung. Das war etwas, was sie alle drei verband, mochten sie auch sonst sehr unterschiedlich sein. Verachtung für ihre Eltern, die gegen das Unrecht des Nazi-Regimes nicht aufgestanden waren, sondern das Leid ignoriert oder sogar von ihm profitiert hatten.

Angeregte und aufgebrachte Diskussionen beherrschten den Rest der Fahrt, bis Hermann in einer Seitenstraße parkte, ausstieg und ihnen schwungvoll die Seitentür öffnete.

„Bitte sehr, die Damen." Er streckte Helena den Arm entgegen, um ihr galant hinaus zu helfen. Ihre Freundin kicherte, doch Ingrid konnte den Kommilitonen in dem Moment nicht ernst nehmen und stieg alleine aus.

„Ich geh schon mal vor", rief Helena freudig und hastete die Stufen zu dem Mietblock hoch, in dem ihre ältere Schwester lebte, die sie beide weiter nach Eutin mitnehmen würde. Längst hatte sie die Schatten des KZ' vergessen.

Hermann öffnete den Kofferraum und hob Ingrids Koffer hinaus, um ihn neben den von Helena zu stellen. Dann hielt er inne und musterte sie mit einem Blick, den Ingrid nicht einzuordnen vermochte.

„Was ist?", fragte sie.

„Oh, ich versuche nur herauszufinden, wie ernst es dir ist" Sie verspürte jenes prickelnde Gefühl, das sie früher auch beim Lesen der Fünf Freunde und später bei der Teilnahme an Demonstrationen empfunden hatte. Womit, wollte sie fragen, doch wusste sie längst, worum es ihm ging.

Hermann nickte in Richtung des Mietshauses. „Helena redet und regt sich gerne auf. Aber mit ihr würde ich kein solches Gespräch führen. Sie ist noch ein Kind, das noch nicht verstanden hat, wo der Spaß endet und der Ernst beginnt. Doch ich glaube, dass du anders bist." Er stoppte und gab ihr somit einen kurzen Moment, um nachzudenken. Als sie vor anderthalb Jahr nach Westberlin gegangen war, hatte sie geglaubt, dass sich damit alles ändern würde. Doch hatte sie erkennen müssen, dass dem nicht so war. Sie war zu einer Zeit an den Ort der Studentenbewegung gekommen, als diese schon auseinander gebrochen war. Die große Bewegung war in viele einzelne zersplittert, die längst nicht die Macht der größeren besaßen. Bisher war sie bei einer kleinen linken Gruppe aktiv gewesen, die kleinere Protestorganisationen durchgeführt hatte. Sie hatte Hermann dort kennen gelernt, der zwar kein Mitglied war, jedoch in der linken Szene kein Unbekannter war und einige von den Mitgliedern kannte. Die Meisten kannten und einige bewunderten ihn aufgrund seiner Bekanntschaft mit Baader und der Kommune I. Richtig aufmerksam war Ingrid jedoch erst auf ihn geworden, als er bei einem Treffen von einem Mädchen für seine Gewaltbereitschaft angeprangert worden war und sich mit Argumenten verteidigt hatte, die Ingrid als überzeugend empfand und dazu geführt hatten, dass sie sich mehr und mehr von ihrer kleinen Gruppe zurückzog. Sie hatte einfach längst nicht das erreicht, was Ingrid sich erträumte und das würde sie auch nicht, darin hatte sie keine Illusionen. Reden, diskutieren und das Leid der Welt anprangern konnten sie gut, doch fehlte ihnen die Tatkraft und der Mut auch etwas dagegen zu tun.

Aber Hermann war erfüllt von Tatendrang und sie traute ihm zu, etwas zu erreichen. Seit dem Kaufhausbrandstifterprozess, den sie vor anderthalb Jahren besucht hatte, wurde sie angetrieben von dem innigen Wunsch, dass etwas geschehen, etwas sich verändern würde. Die Kaufhausbrandstifter, die als Erste den Mut gehabt hatten, ein deutliches Zeichen zu setzen, waren zunächst zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden, doch da die Verteidigung in Revision gegangen war, wurden die Haftbefehle ausgesetzt und sie hatten sich zunächst frei bewegen können. Dann – als die Revision vom Bundesgerichthof verworfen wurde – entschlossen sich drei von ihnen zu einem drastischen Schritt: sie gingen in die Illegalität und tauchten unter. Zehn Monate wusste niemand, wo sie waren und was sie taten, bis vor einem Monat Andreas Baader gefasst wurde. Erneut Stillstand. Ein Stillstand der gespannten Erwartung. Es war als spüre Ingrid, das Knistern in der Luft, wenn sie durch die Straßen von West-Berlin schritt. Manchmal dachte sie, dass sie verrückt war, einfach, weil sie wusste, dass etwas geschehen würde. Oder war es nur eine Einbildung? Hervorgerufen durch ihren innigen Wunsch, dass eben dies passieren würde? Doch immer wenn Hermann darüber sprach, etwas zu tun, konnte sie nicht anders, als ihm zu glauben und so auch jetzt.

Es war ihr einfach nicht möglich, sich von ihm abzuwenden, zu sagen, dass seine Träume, die auch sie träumte, unerreichbar und Unsinn waren. Die Befreiung des Proletariats, das Ende des Vietnamkrieges und des Imperialismus' waren ohne Zweifel hoch gesteckte Ziele, doch ging der Weg in vielen kleinen Schritten. Und sie sah ihm in die Augen und hörte ihm zu.

„Wenn du bereit bist, wirklich etwas zu tun und nicht länger nur zuzusehen, sondern unsere Feinde auch zu bekämpfen, dann melde dich bei mir, Genossin." Mit diesen Worten drückte er ihr einen Zettel in die Hand, schlug den Kofferraum zu und stieg, ohne ihr weitere Aufmerksamkeit zu schenken, in seinen Wagen.

Er beugte sich durch das Fenster. „Melde dich, wenn es dir wirklich ernst ist!" Er ließ den Motor an und verschwand kurz darauf um die Ecke.

Wie erstarrt hob sie die Hand, nicht wirklich wissend, was sie denken oder fühlen sollte. Nach einer Weile, die sie nur dagestanden hatte, steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche, wandte sich um, nahm die beiden Koffer in die Hand und folgte ihrer Freundin in das Treppenhaus.

„Wo bist du?", rief sie, als sie Helena nicht gleich entdecken konnte.

„Zweiter Stock", erklang die Antwort.

Keuchend schleppte Ingrid die beiden Koffer hinauf zur Wohnung von Helenas älterer Schwester. Sie fragte sich, was ihre Freundin alles eingepackt hatte, denn war ihr Koffer deutlich schwerer als ihr eigener. Eigentlich wollten sie doch nur ein paar Tage bei ihren Familien in Eutin verbringen und keine Weltreise unternehmen!

„Na musstest du dich noch von dem Schlawiner verabschieden?", fragte Helena mit einem Lächeln, das wohl keck wirken sollte.

„Den Begriff Schlawiner verwendeten die Nazis in den 30ern für Leute osteuropäischer Herkunft", gab Ingrid ohne nachzudenken zurück.

Zwar wusste sie, dass sie Recht hatte, doch der pikierte Gesichtsausdruck ihrer Freundin, die wie sie Journalistik studierte, tat ihr Leid. Sie wollte nicht streiten und entschuldigte sich so rasch.

Helena zuckte nur mit den Schultern und zog scheinbar zum wiederholten Mal an der Klingel.

„Sie weiß doch, dass wir heute kommen", meinte sie verwundert und klingelte noch einmal.

„Aber nicht wann", entgegnete Ingrid leicht genervt.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und sogleich verschwand die schmale Gestalt von Helenas Schwester wieder im Flur.

„Kommt rein", rief sie über die Schulter hinweg und war schon in einem der angrenzenden Zimmer verschwunden.

„Ja, was ist denn?", fragte Helena und ließ ihre Jacke auf eine Kommode fallen.

„Ich muss noch mal zur Klinik", antwortete ihre ältere Schwester.

„Aber warum denn?", beharrte die Journalistikstudentin, „Heute ist zwar Mittwoch, aber trotzdem dein freier Tag!"

Ihre Schwester hastete an ihr und Ingrid vorbei und fing an Sachen in ihre Tasche zu stopfen.

„Wir haben gerade zwei Kinder eingeliefert bekommen und da Meier und Schmidt krank sind, bin ich die Einzige, die diese Art von Operation bewältigen kann, ohne, dass die Wahrscheinlichkeit zu hoch ist, dass die Kinder dabei draufgehen."

Sie begann sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden.

„Was haben die Kinder denn?", fragte Ingrid besorgt. Sie hatte es noch nie leiden können, wenn Kinder litten.

Helenas Schwester wollte antworten, doch weil sie Haarnadeln im Mund hatte, klang die Antwort nur nach „Cntrg"

„Wie bitte?", fragte Ingrid.

„Contergan", erklärte die junge Ärztin und versenkte die Nadeln in ihrem dunklen Haar.

Contergan war nicht die Bezeichnung einer Krankheit, aber Ingrid wusste sofort, was sie damit meinte, denn der Contergan-Skandal war durch die Medien weit über Europa hinausgeschwappt. Es war ein Medikament gegen Schlafstörungen und weit verbreitet gewesen, doch erst im Nachhinein hatte sich herausgestellt, dass es zu Fehlbildungen in der Schwangerschaft und wahrscheinlich auch zum Tod unzähliger Föten führte. Die Gliedmaßen der entsprechenden Kinder waren entweder verkümmert oder fehlten ganz. Erst vor sieben Jahren war das Medikament vom Markt gezogen worden, doch die Kinder litten noch immer darunter.

„Schrecklich", murmelte sie leise, doch Helenas Schwester verstand sie und erklärte: „Ja. Sie hatten so einen Stümper von Arzt. Sind neu hierher gezogen und der hat nicht erkannt, dass es sich um Contergan handelt, sondern irgendne komische Erbbildung dafür verantwortlich gemacht. Jetzt muss ich mich darum kümmern, dass sie vernünftig behandelt werden. Das eine Kind hat entzündete Wunden und droht zu sterben."

„Können wir dir helfen?"

„Aber ja, ihr könnt diese Kisten dort zur Station von Frau Willruht bringen. Damit würdet ihr mir eine Fahrt ersparen. Helena weiß ja, wo es ist."

Sie nickten, versprachen es ihr und verließen kurz nach ihr mit den Kisten die Wohnung.

Tatsächlich führte Helena sie auch mit den Kisten, die sie alleine trug, zuverlässig durch das Krankenhaus, als ob sie schon häufiger hier gewesen war. Sie stiegen Treppen hoch und gingen durch lange immer gleich bleibende Flure. Doch dann Erinnerung, die so plötzlich über sie kam, dass sie nicht anders konnte, als sich an Helena fest zu klammern.

Fassungslos sah sie dem Krankenbett hinterher, dass soeben durch den Flur geschoben wurde, dem sie gefolgt waren.

Besorgt musterte Helena sie.

„Alles in Ordnung?"

Ingrid schüttelte sich und nickte dann.

„Möchtest du mitkommen?", fragte die Journalistikstudentin und blickte die Freundin fragend an.

„Nein", murmelte Ingrid, „Geh ruhig!"

Sie ließ sich auf einen unbequemen Stuhl sinken und betrachtete die Leute, die an ihr vorbeigingen, während sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Es war nicht dein Vater, flüsterte sie sich selbst zu, Er war es nicht, du weißt doch, dass er tot ist.

Sie schloss die Augen und versuchte, sich an ihn zu erinnern. Es waren nur Bruchstücke, die geblieben waren. Sein tiefes, raues Lachen, das allzu oft in Hustenanfällen geendet hatte. Die warmen Finger, die sich um die ihren schlossen. Die Furchen auf seiner Stirn, wenn er sie gerunzelt hatte. Und der Gestank nach Leid und Krankheit, der nie von ihm gewichen war, selbst wenn er in seinem Rosengarten stand. Doch hätte sie es nicht vermocht, seine Augenfarbe zu nennen, wenn sie nicht ihre Mutter danach gefragt hätte. Es war so wenig...

Als sie die Augen aufschlug, bemerkte sie, dass Tränen ihr über die Wangen liefen. Hinter einem Tränenschleier sah sie ein Krankenbett, das an ihr vorbei geschoben wurde und ihre Augen fanden die eines kleinen Jungen. Ohne zu wissen, was sie tat, stand sie auf und folgte den Schwestern durch eine Tür, die auf eine Station führte.

Eine lange Reihe von Türen in weißen Wänden, hinter denen Krankheit und Schmerz lauerten. Dennoch drehte sie nicht um.

Der Junge wurde in den ersten Raum auf der rechten Seite geschoben, wo die beiden Schwestern, die ihn begleitet hatten, sich still über ihn beugten. Aus der gegenüberlegenden Tür drangen dagegen laute Stimmen und einzelne Gesprächsfetzen drangen zu ihr hinüber. Es schien um da letzte Testspiel der deutschen Mannschaft vor der Fußballweltmeisterschaft zu gehen, das heute in Hannover gegen Jugoslawien stattfinden würde. Ingrid interessierte sich nicht so sehr für Fußball, ganz im Gegensatz zu den Schwestern, deren Zimmer dies vermutlich war.

Sie ging an dem Raum mit dem Jungen vorbei und kam an einer Reihe verschlossener Türen vorbei, hinter denen Stille herrschte, doch dann kam sie an eine Tür, die offen stand. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick hinein und blieb, als ihr Gehirn das Bild verarbeitet hatte, abrupt stehen. Zögernd kehrte sie um und blieb in der Tür stehen.

Drei Betten standen in dem weiß gestrichenen und steril wirkendem Raum, doch nur das vor dem Fenster war belegt. Ein kleines Mädchen lag darin, das Ingrid, obwohl eigentlich keinerlei Ähnlichkeit bestand, an ihre Schwester erinnerte. Vielleicht war es der starre Blick des Kindes, vielleicht die Krücken, die vor dem Bett lagen. Sie wusste selbst nicht, warum sie eintrat, doch dann saß sie auf dem Stuhl neben dem Bett und betrachtete das kleine Mädchen.

Zuvor hatte sie nur die Bilder im Fernsehen gesehen, die schreienden Kinder, die vor dem Bomben flüchteten, die verbrannten Leichen auf ebenso toten Feldern, doch jetzt hatte der Vietnamkrieg auf einmal ein Gesicht, eine Geschichte bekommen. Die Geschichte eines kleinen vietnamesischen Mädchens in einem Krankenhausbett in Hamburg mit schweren Brandwunden an den Armen. Selbst die Decke konnte nicht verhüllen wie klein und knochig der Körper war. Obwohl ihre Augen offen waren, schien sie Ingrid nicht wahrzunehmen. Der Blick ging ins Leere.

Nur Ingrid fühlte keine Leere, sondern Zorn, der sich mit dem Mitleid mischte. Die Bilder waren schlimm genug gewesen, aber jetzt den sich langsam hebenden Brustkorb und die ruckartigen Atemzüge zu hören, gab ihr den Rest. Krieg war immer grausam. Doch Zivilisten, Kinder, zu töten, wie es die Amis in Vietnam taten, ließ sie nur kalte Wut empfinden, die sie hinausschreien wollte. Einst hatte sie den Drang verspürt, ihre Schwester zu beschützen, jetzt wollte sie auch dieses vietnamesische Mädchen vor allen schützen, die ihr schaden wollten. Zögernd legte sie die Hand auf die des Kindes und es schien ihr, als ob ihr sanfter Druck entgegnet werden würde.

Erneut rannen ihr Tränen über die Wangen. Tränen des Unverständnisses wie man so einem kleinen Kind, so schlimme Sachen antun konnte. Tränen der Trauer, Tränen der Wut. Sie alle nässten ihre Wangen und leiteten ihr Herz zu der unwiderrufbaren Entscheidung von der sie wusste, dass sie nach diesen Erlebnissen getroffen werden musste.

„Es ist schrecklich, nicht wahr?"

Die Stimme hinter ihr ließ Ingrid zusammen zucken und sich abrupt von dem Mädchen abwenden. Eine Pflegerin mittleren Alters stand in der Tür, wirkte jedoch nicht im Geringsten zornig über Ingrids unbefugtes Eintreten, sondern nur traurig ob des Schicksals des kleinen Mädchens.

Mit langsamen Schritten trat sie neben Ingrid.

„Sie wurde vor anderthalb Jahren von der Hilfsorganisation terre des hommes aus Südvietnam eingeflogen", erklärte die Krankenschwester leise, als wäre so das Leid des Kindes zu mindern.

„Wie heißt sie?", fragte Ingrid dennoch ebenso leise.

„Mit erstem Namen Anh. Es bedeutet Frieden, was das ganze noch trauriger macht."

Ingrid formte den Namen leise mit der Zunge und war überrascht wie leicht ihr der Laut über die Lippen glitt. Frieden. Wie sehr sich dieses Mädchen den Frieden verdient hatte, den sie hier erleben konnte, wenn auch ohne Familie oder Freunde. Sie war hier in Sicherheit, aber in ihrer Heimat starben durch die Amerikaner täglich Hunderte und noch mehr waren auf der Flucht vor dem Tod aus der Luft, dem man nicht entkommen konnte: Napalm.

„Was hat Anh?" Die Abdrücke ihrer Fingernägel zeichneten blutige Muster auf ihrer Handinnenfläche.

Die Frau seufzte. „Ihre Arme wurden von dem Napalm verbrannt, doch sind diese Wunden größtenteils und wider Erwartung gut verheilt, auch wenn ihre Narben eine grausame Erinnerung bleiben werden. Komplikationen haben einige Bombensplitter in ihrem Bauchraum gemacht, der sich häufiger entzündet hat. Aber jetzt ist auch er stabil. Was ihr fehlt, ist die Hoffnung." Sanft strich sie dem Mädchen eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sie dämmert vor sich hin, weil sie den Lebenswillen verloren hat. Ich weiß nicht, was mit ihrer Familie geschehen ist, aber sie muss Schreckliches erlebt haben."

„Träume sind manchmal ein hoffnungsvollerer Ort als die Wirklichkeit." Ingrid konnte Anh verstehen. Es war einfacher in der Vergangenheit zu leben, als sich der Gegenwart zu stellen. Nur Ingrid war es nicht länger möglich, in der Vergangenheit zu leben, jetzt nicht mehr, wo sich Anhs Augen, hinter denen eine gebrochene Seele schlummerte, in ihr Herz gebrannt hatten.

„Ja." Die Schwester seufzte erneut. „Ja, das sind sie."

Sie erhob sich und eine Spur gewohnter Strenge schlich sich in ihre Stimme, als sie erklärte: „Ich kann verstehen, dass du Anh Trost bieten wolltest, dennoch sind Besucher, die keine Angehörigen sind, hier nicht zugelassen. Deshalb werde ich dich jetzt, hinaus bringen."

Ingrid nickte nur. Ein letztes Mal strich sie über Anhs Hand, dann stand sie auf und folgte der Schwester aus dem Zimmer, die anfing, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

„Es ist schön, dass es immer noch junge Menschen gibt, die das Gesetz der Nächstenliebe aufrecht erhalten", lobte sie Ingrid, „Wenn man die Nachrichten schaut...Die jungen Leute sind ja so egoistisch, vor allem, die in West-Berlin. Was die alles fordern und wie die leben...Schrecklich, so etwas. Respekt und gutes Benehmen scheint denen ein Fremdwort zu sein. Das ist so..."

Sie steigerte sich in einen Redefluss hinein, in dem sie die Studenten und ihre Forderungen beschimpfte. Ingrid reagierte nur durch ein gelegentliches Nicken. An anderen Tagen hätte sie anders reagiert, aber sie war so müde...Was sie jetzt benötigte, war Zeit. Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und sich zu entscheiden, wie es weiter gehen sollte. Motivation, um mit der Pflegerin zu diskutieren und sie vom rechten Weg zu überzeugen, blieb nach der Begegnung mit Anh wenig, dafür war sie viel zu erschüttert.

Am Schwesternzimmer, dessen Tür nun offen stand, verabschiedete sich die Pflegerin von ihr. Aus den Augenwinkeln sah Ingrid noch, wie sie sich mit einer Kollegin über die Bild beugte, dann verließ sie den Flur mit den kranken Kindern.

„Wo warst du denn?" Helena sprang von dem Stuhl auf, wo vorhin noch Ingrid gesessen hatte.

Als ihre Freundin nichts entgegnete, fragte sie beunruhigt: „Geht es dir nicht gut?"

„Es ist in Ordnung", erwiderte sie und Ingrid erschreckte selbst ein wenig von der neuen, ungewohnten Kälte, die aus ihrer Stimme klang.

Sie spürte Helenas verunsicherten Blicke, doch kümmerte sie es nicht länger. Die Erlebnisse mit Anh gingen die Freundin nichts an, denn war sie längst nicht bereit, jenen Schritt zu gehen, vor dem Ingrid stand und konnte dementsprechend nicht länger Teil ihres Lebens sein.

„Dann lass uns gehen" Helena stand auf und folgte ihrer Begleiterin, die ohne weitere Worte vorausgegangen war, mit schnellen Schritten.

„Ich denke nicht, dass meine Schwester sich heute noch rechzeitig loseisen kann", versuchte sie dennoch die Kommilitonin in ein Gespräch zu verwickeln, „Wir werden wohl erst morgen fahren können und die Nacht bei ihr bleiben müssen."

Als Ingrid darauf nicht antwortete, hüllte auch Helena sich in Schweigen. Sobald sie draußen waren, zündete sie sich eine Zigarette an, um ihren schnellen Atem zu beruhigen, dann machten sie sich, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken, auf den Heimweg.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf, da die beiden Kinder sich außer Gefahr befanden und Helenas Schwester bewies sich als so gute Fahrerin, dass sie schon am späten Vormittag Eutin erreichten.

Sie setzten Ingrid vor ihrem Elternhaus ab, wo sie sich von ihnen verabschiedete. In vier Tagen würden sie Ingrid wieder abholen, damit sie wieder nach Hamburg fahren und von dort aus mit einer anderen Mitfahrgelegenheit zurück nach West-Berlin kommen konnten.

Das Pfarrhaus stand ein wenig abseits und Ingrid genoss die Kühle zwischen den Bäumen. Sorgsam gepflegte Hecken und Blumenbeete prägten den Vorgarten des kleinen Fachwerkhauses. Früher hatte Ingrid, es als schön empfunden, doch jetzt störte sie die strikte Anordnung der Pflanzen, weil sie jegliche natürliche Ausbreitung unmöglich machte.

Mit dem Koffer in der Hand stieg die junge Frau die vier Stufen hoch, die zur Haustür führten. Eben wollte sie klopfen, da wurde die Tür schon aufgerissen und Ingrid wurde von der stürmischen Umarmung ihrer jüngeren Schwester fast von den Beinen gerissen. Sie ließ den Koffer fallen und umarmte Maria nicht weniger leidenschaftlich. Ingrid sog den Duft ihrer Schwester ein, einen süßen Geruch, der mehr als alles andere nach Heimat schmeckte.

„Du bist gekommen!", flüsterte Maria mit einem strahlendem Lächeln im Gesicht. „Endlich", fügte sie hinzu.

„Ja", antwortete ihre Schwester ruhig. Tatsächlich waren ihre Besuche selten geworden, denn sie besaß kein eigenes Auto und die Bahn war viel zu teuer, weshalb sie sich jedes Mal eine Mitfahrgelegenheit organisieren musste, was viel Arbeit bedeutete. Doch jetzt war sie hier und wünschte sich zugleich, dass sie nicht gekommen wäre. An Ahns Bett war ihr die Entscheidung so leicht gefallen, aber nun wurde ihr schmerzlich bewusst, was sie verlieren würde.

Wir werden immer zusammen gehen. Sie hatte es ihrer Schwester versprochen und wollte es nicht brechen, auch nicht für eine Revolution. Aber würde es ihr möglich sein, wenn sie auf Hermanns Angebot eingehen würde, den Kontakt zu Maria aufrecht zu erhalten? Sie wusste es nicht.

Sanft strich sie der geliebten Schwester über das Haar, das dem ihrer Mutter so ähnlich war, und fischte Rosenblätter hinaus.

Maria entwand sich ihr und musterte sie sorgfältig. „Was ist los?", fragte sie besorgt. Schon immer hatte sie Gemütszustände von Personen gut erkennen können.

„Wir hatten eine anstrengende Fahrt und ich bin müde", erklärte Ingrid, obwohl es eine Lüge war und versuchte sich mit einem Lächeln. Scheinbar gelang es ihr recht gut, denn sie erkannte keine Spur von Mistrauen auf dem Gesicht ihrer Schwester.

„Dann komm rein. Begrüß Mutter und dann können wir uns ins Wohnzimmer setzen und du kannst mir von West-Berlin erzählen", schlug sie vor.

„Ist Thomas nicht da?", fragte die ältere Tochter

„Nein. Mein Vater ist unterwegs." Ingrid konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln über ihre Züge schob. Sie konnte ihren Stiefvater immer noch nicht leiden und war froh, dass sie für einige Stunden ohne ihn mit ihrer Schwester verbringen konnte.

Sie beugte sich hinab, um ihren Koffer hochzuheben, dann traten die beiden Schwestern Hand in Hand über die Türschwelle.

Ihre Mutter war nicht an die Tür gekommen, sondern in der Küche, wo sie einen Kuchen buk. Vermutlich war das ihre Art, Liebe zu zeigen. Die Umarmung fiel weit weniger überschwänglich als Marias aus und nach einer kurzen Berührung lösten sich Mutter und Tochter wieder und wichen auseinander. Die Mutter, weil sie zu verunsichert ob der Reaktion ihrer Ältesten war und Ingrid, weil sie ihrer Mutter nie hatte vergeben können, dass sie Thomas geheiratet hatte. Sie verachtete die Schwäche der Frau, die sie gezeugt hatte und die sich einfach nicht durchsetzen konnte. Dementsprechend fiel der Wortwechsel kühl und wenig herzlich aus, so dass sich Ingrid schon bald mit ihrer Schwester ins Wohnzimmer zurückzog und sich auf das gemütliche Ledersofa niederließ.

„Erzähl", bat Maria.

„Was soll ich erzählen?" Ingrid zuckte mit den Schultern. „Das Studium läuft, auch wenn die Prüfungen anstrengend sind und nicht wenige durchfallen."

All das kam ihr auf einmal so banal, so unwichtig vor, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. Was interessierte schon ein Studium angesichts des Leides, das sie in Anhs Gesicht gesehen hatte und das tagtäglich weitere Kinder erlitten?

„Und wie ist das Leben in West-Berlin? Gibt es viel Militär dort?"

„Die Grenze ist bewacht und man begegnet häufig Soldaten, aber die großen Militärbasen der Amerikaner liegen nicht in West-Berlin. Allerdings ist die Wehrpflicht dort ausgesetzt, so dass es viele Studenten dorthin zieht. Berlin hat einfach einen Sonderstatus, aber das Leben geht auch dort vorwärts."

Den vorletzten Satz hätte sie nicht sagen dürfen, denn erinnerte sie das nur an Hermann, der ursprünglich, um keinen Wehrdienst leisten zu müssen, nach West-Berlin gekommen war.

„Und Politik? Von der Studentenbewegung hört man ja nicht mehr allzu viel. Hast du etwas für dich gefunden?"

Ja, dachte sie, Ja, doch dafür müsste ich dich verlassen, kleine Schwester.

„Ich habe eine kleine Gruppe gefunden, in der ich mich sehr wohl fühle. Wir haben bisher nur einige kleinere Plakataktionen durchgeführt, aber ich bin zuversichtlich, dass wir bald mehr erreichen werden."

Lügen. Wann war nur der Moment gekommen, an dem Lügen einfacher als die Wahrheit wurden? Kleine Schwester. Liebevoll musterte sie die Jüngere, nicht wissend, was sie denken sollte. Sie hätte nicht kommen dürfen.

„Ich bin froh, dass du etwas gefunden hast", erklärte ihre Schwester strahlend, doch schlich sich ein Schatten darein, „Bei dem was heute geschehen ist...Ich habe einfach Angst, dass es sich auch in West-Berlin radikalisiert und gefährlich wird."

Ingrid runzelte die Stirn.

„Wieso? Was ist denn passiert?"

„Du weißt es nicht?" Ihre Schwester deutete auf den Fernseher, „Es lief auf allen Kanälen und im Radio!"

„Das Auto von Helenas Schwester hat kein Radio."

Maria ging zum Fernseher und warf ihr, bevor sie ihn einschaltete, einen langen, schwer zu deuteten Blick zu.

Ein Bild von Ulrike Meinhof, doch der Ton war so leise eingestellt, dass Ingrid den Kommentar dazu nicht verstehen konnte. Maria drehte an einigen Knöpfen, bis sie dem Text folgen konnten: „Nach bisherigen Berichten haben die Entführer zunächst durch die geöffnete Tür des Instituts Tränengas geschossen, dann die Institutsangehörigen beiseite gedrängt und unter Gebrauch der Schusswaffe Baader befreit. Nach letzten Meldungen wurde ein Institutangestellter durch einen Bauchschuss sehr schwer verletzt."

Maria schaltete den Fernseher aus.

„So geht das schon die ganze Zeit. Schrecklich, nicht wahr? Der arme Mann. Ich mein, Baader hat sich seiner Strafe entzogen und muss natürlich mit Haft rechnen. Bei der Brandstiftung hätten Menschen verletzt werden können! Und jetzt...Mit Schusswaffen gewaltsam befreit. Was will er denn machen? Er wird doch gesucht und die finden ihn bestimmt bald. Dann muss er noch länger einsitzen, als nur die Haftstrafe wegen der Brandstiftung..."

Sie redete weiter über den Irrsinn dieser Aktion, den verletzten Institutsangestellten und die Gewaltbereitschaft der Täter, doch ihre Schwester hörte ihr gar nicht mehr zu.

Baader befreit...Sie hatte nicht geglaubt, dass das möglich wäre. Immerhin waren sie in der BRD, wo der Sicherheitsstandart hoch war, nicht in irgendeinem Dritte-Welt-Land. Wer Baader befreite, der konnte auch noch ganz andere Sachen auf die Beine stellen, Aktionen, die etwas an der gegebenen Situation veränderten. Jenes Abenteuergefühl ergriff sie wieder und sie begriff, dass es keinen anderen Weg gab. Sie blickte zu ihrer Schwester, die auf dem Teppich saß und ihren Monolog führte, doch mischte sich ihr Gesicht in Ingrids Gedanken bereits mit Ahns. Sicherlich war die Verletzung des Angestellten bedauerlich, doch war es ja nicht im Sinne der Befreier, sondern reine Notwehr gewesen. Veränderung, die auf dem Weg vor ihr war, ihre Schwester als Teil der Vergangenheit.

Wir werden immer zusammen gehen.

Ingrid zitterte am ganzen Körper, doch die Entscheidung war unausweichlich, wenn sie etwas verändern wollte und so stand sie auf und verkündete telefonieren zu wollen.

Das Telefon stand im oberen Stock, so dass weder Maria noch ihre Mutter sie hören könnten. Mit zitternden Fingern nahm sie den Hörer ab und wählte die Nummer, die Hermann ihr gegeben hatte.

„Ja?" Die Stimme der jungen Frau am anderen Ende war ihr unbekannt.

„Ist Hermann da? Ich möchte ihn sprechen."

„Name?"

„Ingrid."

Sie hörte die Frau Hermanns Namen rufen und kurz darauf schwere Schritte, die rasch näher kamen.

„Ingrid? Bist du's?"

„Ja", antwortete sie und holte tief Luft. Sie sah Anh auf dem Krankenbett mit ihren verkrüppelten Armen, die Pflegerin, die sich über die Bild beugte und seltsamerweise sogar ihre Schwester. „Ich bin bereit." Keine Worte waren ihr je schwerer gefallen.

Schweigen. Dann Hermanns Stimme, die laut durch den Hörer schall. „Ja, das bist du. Willkommen bei den Menschen, die etwas bewegen und sich mit den Genossen auf der ganzen Welt solidarisch erklären. Wir können dich gebrauchen, jetzt mehr denn je."

Stolz durchflutete sie. Stolz und das Wissen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Nur das Zittern in ihren Händen und das Rasen ihres Herzens verließ sie nicht, auch wenn sie es nicht verstand.

Es knackte in der Leitung, dann drang Hermanns Stimme erneut zu ihr. „Wir treffen uns, wenn du wieder in West-Berlin bist. Dann erkläre ich dir alles und stelle dir einige Genossen vor, die sich ebenfalls dem Kampf für die Freiheit und Gerechtigkeit verschrieben haben."

Es hörte sich so gut an, was er sagte. Ein Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. War es nicht das, wovon sie immer geträumt hatte und weshalb sie schon als Kind mit Vorliebe Robin Hood und die Fünf Freunde gespielt hatte? Damals waren es Träume gewesen, jetzt Türen, die sich vor ihr öffneten. Veränderung. Sie konnte sie spüren und schmeckte den süßen Duft in der Luft. Es gab keinen süßeren Duft als den jener Veränderung, die sich jetzt anbahnte. Veränderung, die machbar geworden war.

Wir werden immer zusammen gehen. Sie hatte diese Worte nicht vergessen, nur ihre Bedeutung hatte sich verändert. Mehr als zuvor. Sie umfassten mehr als sie und ihre Schwester, sondern nun all jene Genossen, die mit der Waffe in der Hand für die Freiheit des Volkes und das Ende des Imperialismus einsetzten. Verrat gab es nicht. Ingrid war ein Teil dieser Gruppe geworden und es gab kein Zurück. Aber sie wollte es auch nicht. Bedeutungslos in diesem Moment.

Veränderung. Endlich in ihrer Hand.



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