Wir werden immer zusammen geh...

Par Limayeel

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„Wir werden immer zusammen gehen" versprechen sich zwei Schwestern. Doch dann entscheidet sich Ingrid für ein... Plus

Prolog: 22.7.1959, Eutin
2. Kapitel: 29.10.1968, Eutin
3. Kapitel: 13.5.1970, Hamburg/Eutin
4. Kapitel: 3.6.1970, Eutin/Ost-Berlin
5. Kapitel: 19.5.1972, Hamburg
6. Kapitel: 13.6.1972, Hamburg
7. Kapitel: 19.6.1972, Eutin
8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck
9.Kapitel: 5.9.1993, Lübeck/Hamburg
Nachwort

1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin

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Par Limayeel

Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein. Sie müssen wissen, daß ihre Verbrechen am vietnamesischen Volk ihnen neue erbitterte Feinde geschaffen haben, daß es für sie keinen Platz mehr geben wird in der Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer Guerillaeinheiten sicher sein können.

- aus der RAF-Erklärung vom 14.5.1972 -


11.5.1972, Eutin


„Hast du schon gehört?"

Die lauten Rufe veranlassten Maria, stehen zu bleiben. Hanna, eine Klassenkameradin schlitterte um die Ecke und blieb keuchend vor ihr stehen.

„Hast du es schon gehört?", wiederholte sie.

„Was soll ich gehört haben?", wiederholte Maria und runzelte die Stirn. Eigentlich war Hanna eine gute und ruhige Schülerin, die zwar gerne redete und argumentierte, dies jedoch sehr rational und gelassen tat. Wenn sie etwas so aufregte, das sie freiwillig rannte, musste es bedeutend sein.

„Die Bomben! In Frankfurt!"

Ein Schauer lief über den Rücken der jungen Frau, der nicht das Geringste mit dem Maiwind zu tun hatte, der jetzt am frühen Abend noch sehr kühl sein konnte. Die dunkle Ahnung, das der Frieden, der durch Banküberfälle und Schusswechsel in den Straßen Westdeutschlands schon Risse bekommen hatte, nun endgültig zerbrochen war, machte sich in ihr breit.

Ihr Mund war staubtrocken und sie brauchte einen Moment, um die Worte zu formen: „Was genau ist geschehen?"

Hanna zuckte mit den Schultern. „So genau weiß ich das auch nicht. Es wurde erst eben im Radio durchgegeben. In Frankfurt am Main sollen Bomben im Hauptquartier des V. US-Korps explodiert und große Zerstörung angerichtet haben. Es gibt Tote und Verwundete", sprudelte sie hervor.

Eine ältere Frau, die bei Hannas Worten neben ihnen stehen geblieben war, schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist grausam!", murmelte sie, „Man sollte meinen, wir befinden uns wieder im Krieg. Die armen Menschen."

„Aber es waren Soldaten, die unschuldige Zivilisten in Vietnam töten", wandte ihre Schulfreundin ein, nachdem die Frau weitergegangen war.

„In erster Linie waren es Menschen", widersprach Maria.

„Menschen, die solche Grausamkeiten wie in Vietnam begehen können, haben ihre Menschlichkeit verloren."

„Und woher willst du wissen, dass die in Frankfurt verletzten, solche schrecklichen Taten – wie es ohne Zweifel sind – begangen haben? Nein, wir haben kein Recht, über sie zu richten.

„Und Gott hat das?", Hanna schnaubte, „Dann kannst du lange auf Gerechtigkeit warten."

„Egal von welcher Seite es kommt, Gewalt zur Durchsetzung von Zielen ist schrecklich und unhaltbar."

„In Artikel 20, 4 Absatz des Grundgesetztes steht: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist", zitierte Hanna, deren älterer Bruder Rechtsanwalt war.

„Aber so ist es doch nicht! Andere Abhilfe ist möglich. Wir haben politische Rechte. Wir dürfen auf die Straße gehen und protestieren, aber friedlich.", protestierte Maria.

„Dennoch wurde Ohnesorg bei der Ausübung seiner politischen Rechte erschossen und der Kurras wurde für Mord freigesprochen, während Fritz Teufel wegen dem Werfen eines Steins für Monate in Untersuchungshaft saß. Sieht so ein gerechter Staat aus?"

„Natürlich läuft bei uns nicht alles richtig", räumte Maria ein, „Und auch ich finde die ganzen alten Nazis in der Regierung und Justiz schrecklich. Doch deshalb gleich Bomben legen? Nein, das finde ich falsch."

Hanna zuckte mit den Schultern.

„Du hast deine Meinung und ich die meine."

„In Ordnung", antwortete Maria zögernd und wusste nicht, was sie mit diesem Gespräch anfangen sollte. Ihre Freundin argumentierte noch immer rational, doch der Zorn in ihrer Stimme war Maria unbekannt.

„Ich muss los", erklärte sie schließlich nach einem Moment der Stille.

Hanna nickte nur und wandte sich ebenfalls ab.

„Ich bin Zuhause, Mama", rief Maria in die Küche hinein, wo ihre Mutter mit einer Freundin vor dem Radio stand.

Auch hier wurde soeben die Nachricht von dem Anschlag auf die Amerikaner durchgegeben.

„Schrecklich so etwas!", erklärte die Freundin und drehte das Radio aus, „Lass uns lieber von etwas Erfreulicherem reden. Wie geht es denn Ingrid?"

„Ingrid geht es gut", erklärte Marias Mutter und seufzte, „Leider hat sie mit dem Studium so viel zu tun, dass sie es nicht schafft, uns zu besuchen, aber sie schickt regelmäßig Briefe."

„Dass ihr sie nach Westberlin habt gehen lassen! Ich hätte das meiner Berta nicht erlaubt. Man hört ja so schreckliche Sachen über die Unruhen dieser jungen Leute." Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe einfach nicht, was die antreibt. Uns geht es doch gut!"

Ohne sich am Gespräch zu beteiligen, stieg Maria die Treppe in das obere Stockwerk hoch. Natürlich konnte sie es sich nicht nehmen lassen, darüber nachzudenken, wie ihre ältere Halbschwester auf dieses Gespräch reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie über die Ignoranz der Nachbarin geschimpft und mit ihr eine Diskussion über die Wichtigkeit von politischer Meinungsbildung angefangen. Nein. Maria hielt inne. Früher mochte sie dies getan haben, doch jetzt würde Ingrid die harmlose Nachbarin als Schwein bezeichnen und sich einer Diskussion mit ihr verweigern, weil Worte ihrer Meinung nach verschwendet waren.

Für einen Moment zögerte sie, doch dann schob sie die Tür zum Zimmer ihrer Schwester auf. Dünner Staub hatte sich auf den Möbelstücken abgesetzt, doch es war alles so geblieben, als wäre Ingrid nur kurz zur Tür raus, um sich Zigaretten zu kaufen und könnte jeden Moment wieder eintreten. Doch war das nur ein Traum, der nicht weiter von der Realität entfernt sein konnte. Ihre Mutter mochte glauben, dass ihre Tochter nur aufgrund des Studiums nicht mehr an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte, doch Maria kannte die Wahrheit und verstand sie doch nicht. Noch nie hatte sie sich ihrer Schwester entfernter gefühlt als in diesem Moment, wo sie für einen winzigen Augenblick in ein Leben blickte, das Ingrid um jeden Preis hinter sich lassen wollte.

Nachdenklich ließ sie sich auf das Bett sinken, in das sie sich nachts allzu oft neben ihre Schwester verkrochen hatte, wenn Albträume ihr den Schlaf unmöglich machten.

Auf dem Nachttisch lag ein Anstecker mit der Aufschrift „enteignet Springer", den ihre Schwester bei einem Besuch vor zwei Jahren mitgebracht hatte. Zeitungsartikel über die Studentenbewegung und die APO waren an die Wände geklebt, über dem Bett hing ein Interview mit Rudi Dutschke.

In den Bücherregalen, die fast eine Hälfte der Wände einnahmen, fanden sich neben geschichtlichen Sachbüchern und klassischen Werken wie Schiller, Tolstoi, Gedichte von Körner und Arndt, auch Bücher, die Ingrid nie offen hatte liegen lassen, weil ihr Stiefvater diese nicht gerne sah. Maria jedoch wusste genau, wo sie diese Bücher fand und zielstrebig griff sie hinter das Bücherregal, um kurz danach eine Ausgabe von Karl Marx' Kapital in den Händen zu halten. Die zerknitterten Seiten und vielen Anmerkungen zeugten davon, dass Ingrid dieses Buch oft gelesen hatte. Auch Maria schlug es jetzt auf und blickte auf die klein gedruckten Zeilen. Nicht etwa, weil sie Marx mochte und gerne las, sondern weil sie hoffte hinter den Zeilen eine Spur jener jungen Frau zu finden, die 1968 nach Westberlin gegangen war und ihre Schwester hier in dieser Kleinstadt zurück gelassen hatte. Sie versuchte nachzuvollziehen, was Ingrid an diesem Werk so begeistert hatte, doch letztendlich stellte sie das Kapital doch wieder an seinen Platz zurück. Sorgfältig verstaute sie es hinter dem Regal, doch auch wenn ihr Vater ihr und seiner Stieftochter viele Freiheiten gelassen hatte, so hielt er dennoch nichts von Marx und dem verfluchten Kommunismus, der ihn durch die Mauer von seinen Verwandten trennte.

Als ihre Schwester gegangen war, hatte Maria sich gewundert, dass diese den Großteil ihrer Bücher hier gelassen hatte, obwohl sie so selten her kam. Mittlerweile verstand sie, dass Ingrid gehofft hatte, dass auch ihre jüngere Schwester die Bücher und Zeitungsartikel lesen und ihr dann nach Westberlin nachfolgen würde.

Ein letztes Mal blickte Maria sich in dem Zimmer ihrer Schwester um, dann schloss sie die Tür sanft und vorsichtig.

Eine Tür weiter befand sich ihr eigenes Zimmer, doch in diesem sah sie sich nicht sorgfältig um. Stattdessen ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und biss sich auf die Unterlippe. Immer wieder wanderte ihr Blick zu dem dicken Teppich, der vor ihrem Bett lag. Dort, unter einem losen Dielenbrett bewahrte sie die Briefe ihrer Schwester auf. Sie sah ihn vor sich. Das Papier, um das ein blaues Band geknotet war, das sie noch nicht gelöst hatte und von dem sie sich eigentlich geschworen hatte, ihn zu vernichten. Seit einem Jahr schickte ihre Schwester diese Briefe nicht mehr mit der Post, stattdessen fanden sie sich in unregelmäßigen Abständen in der Hütte im Wald, die sie in ihrer Kindheit gemeinsam gebaut hatten. Maria fragte nicht, wer sie dort ablieferte, sie wollte es auch nicht wissen. Nur, dass sie ihren Eltern nichts davon sagen durfte, das verstand sie. Es würde ihnen das Herz brechen, wenn sie erfuhren, dass die Briefe, die regelmäßig im Briefkasten lagen, von Ingrid vor langer Zeit geschrieben waren und von einer Freundin abgeschickt wurden.

Der Druck auf ihre Unterlippe verstärkte sich und Maria spürte einen einzelnen Bluttropfen, der über ihr Kinn floss und schließlich, mit unendlicher Trägheit, auf das Blatt vor ihr tropfte. Ein Ruck zog sich durch ihre erstarrte Haltung und sie stand auf. Doch statt nach dem Teppich griff sie zu dem Ordner, den sie zwischen Büchern versteckt hatte.

Mit den Fingerspitzen, als ob sie sich vor dem Inhalt ekele, schlug sie ihn auf. Auch hier fanden sich Zeitungsartikel. Zeitungsartikel, die sie von der Straße, aus Mülleimern und Parks geklaubt hatte, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern davon erfuhren. Es waren Artikel über Banküberfälle, Verhaftungen und Schießereien in Bezug zu der Baader-Meinhof-Bande, die sich neuerdings Rote Armee Fraktion nannte. Maria las jeden einzelnen von ihnen durch und prägte sich noch einmal den genauen Wortlaut ein, obwohl sie die meisten Artikel schon auswendig kannte. Zum Schluss legte sie Heinrich Bölls Will Ulrike Gnade oder freies Geleit beiseite und schloss den Ordner wieder.

Sorgfältig verstaute sie den Ordner in ihrem Bücherregal zwischen einem Atlas und einem Schulbuch. Für einen Moment hielt sie inne, als sie daran dachte, dass Ingrid sie nun für ihre Ordentlichkeit verspotten würde. Ihre ältere Schwester hatte stets nur die Sachen sorgfältig verstaut, von denen sie nicht wollte, dass ihr Stiefvater sie sah. Es waren Ingrids Impulsivität und die Leidenschaft, mit denen sie Menschen überzeugte, nicht ihre Ordentlichkeit. Die Rationalität, Ordnung und den Pragmatismus, mit denen ihre jüngere Schwester auf Probleme zuging, hatte sie belächelt. Vielleicht waren Maria diese Eigenschaften so wichtig, weil Ingrid so viel Unsicherheit in ihr Leben gebracht hatte. In ihrer Kindheit hatte sie nur die Abenteuer gesehen, doch nun erkannte Maria zunehmend die Problematik, die Ingrids Impulsivität auf ihre Entscheidungen auswirkte – wie eben jener Entschluss nach Westberlin zu gehen oder sich der RAF anzuschließen.

Mit einem Seufzer strich Maria über die Buchrücken, die ihr als Kind immer ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hatten und griff mit einer zielgerichteten Bewegung nach jenem Buch, das ihre Schwester ihr zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hatte: Fünf Freunde auf großer Fahrt. Sie schlug das Buch auf und überflog die ersten Seiten. Doch der Zauber jener Kindheit, als sie noch selbst mit ihrer Schwester ein Floß gebaut hatte, um in dem kleinen See in der Nachtbarschaft nach dem versenkten Boot zu suchen, war erloschen. Sie schob das Buch zurück ins Regal.

Nur wenig später saß sie auf den Dielen und griff nach dem letzten Brief ihrer Schwester. Für einen Moment wog sie das helle Papier, das schon von den ersten Flecken gekennzeichnet war, in der Hand. Doch bevor sie es las, schloss sie das Versteck wieder, damit es beim Reinkommen nichts sofort ersichtlich war. Dann ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken und vertiefte sich in die Buchstaben, geschrieben von jener jungen Frau, die ihr zunehmend zu einer Fremden geworden war und die sie dennoch ihre Schwester nannte.

Maria,

Das war ein schlechtes Zeichen, denn verwendete ihre Schwester gewöhnlich Kosenamen.

Der Kampf gegen den Imperialismus wird beginnen und er wird hart beginnen. Weder darf unser Land den Amerikanern als Rückzugsort dienen, während sie Kinder in Vietnam ermorden, noch werden wir den Faschismus ertragen, den unser Land offenbart hat, als es auf Demonstranten einschlug, die für Freiheit und Gerechtigkeit aufstanden. Wir werden den Unterdrückten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bringen. Jene Ideale, die schon die französische Revolution uns lehrt, auch wenn sie schließlich diese Ideale vergaß und ihre eigenen Kinder ermordete.

Wie viele waren damals unter der Guillotine gestorben? Maria hatte die Zahl vergessen, doch es waren viele gewesen, die meisten von ihnen unschuldig. Welches Recht hatte Ingrid, sich zur Richterin aufzuschwingen und das Opfer Unschuldiger willig in Kauf zu nehmen? Natürlich waren viele alte Nazis in Machtpositionen und der Vietnam-Krieg war grausam, doch gab dies der RAF nicht die Berechtigung, auf Menschen zu schießen und Helden zu spielen.

Nun werden wir nicht länger zulassen, dass die Polizei die Unseren ohne jegliche Warnung liquidiert und zurückschlagen. Wir werden den Krieg zurücktragen zu jenen, die ihn begangen. Deshalb sage ich: Krieg den Palästen, Friede den Hütten. Wir haben nicht die Kapazitäten der BRD, doch der schrittweise Aufbau der Guerilla ist nicht aufzuhalten, denn kommen wir im Gegensatz zu den Bonzen aus dem Volk und kämpfen für das Volk.

Welches Volk? Die Nachbarin, die sich über die Grausamkeit von Ingrids Taten aufregte? Ihre Mutter, die Frieden und eine glückliche Familie wollte? Die Menschen auf den Straßen, die Arbeiter, die nach der Arbeit einfach nur ein Bier trinken und nicht über Revolution reden wollten? Was war mir ihr selbst? War nicht auch Maria ein Teil jenes Volkes, für das Ingrid zu kämpfen versprach? Doch das Einzige, was sie wollte, war eine Schwester, die mit ihr über Schiller diskutierte und abends Gitarrenklänge das Haus füllen ließ.

Das Volk hat es satt, den endlosen Kapitalismus zu erleben und den Tod, den dieser den Ländern der dritten Welt bringt und die Bilder von Vietnam auf ihren Fernsehern zu erblicken, den Schrecken erschaffen von amerikanischen Bomben. Sie werden verstehen, dass wir ihre ureigenen Interessen vertreten, um den realen Sozialismus ins Leben zu rufen und ihnen eine menschenwürdige Existenz ermöglichen – im Gegensatz zu dem Staat, der doch von den Industriellen gelenkt und beherrscht wird, so dass er nur die Interessen der Kapitalisten, aber nicht die der Arbeiter, vertritt.

Sicherlich verstanden die Arbeiter Mord! Zulauf fand die RAF doch bei den Studenten, die aus der Mittelschicht, nicht den Arbeitern entstammten.

Wir- die Stadtguerilla – werden das ermöglichen und wir werden die Amerikaner vertreiben, auch wenn dies eine Zeit dauern mag. Selbst Davout, den man den Eisernen nannte, folgte schließlich seinem Herrn.

Jetzt verstand Maria, wo sich Ingrid aufhielt. Davout war ein Marschall Napoleons in den Befreiungskriegen gewesen und hatte sicherlich nicht zu Unrecht den Beinamen der eiserne Marschall erhalten. Obwohl er von feindlichen Truppen eingeschlossen gewesen war, hatte er es noch vermocht, seine Stadt bis in den Mai 1814 zu halten. Es war die letzte Bastion der Franzosen auf deutschen Boden gewesen. Dabei war er mit solcher Grausamkeit vorgegangen, dass man ihn den „Robespierre von Hamburg" nannte. Ihre Schwester war in Hamburg, davon war Maria überzeugt. Nur, ob Maria Davout absichtlich erwähnt hatte oder nicht, das wusste sie nicht.

Dich, Schwester, bitte ich nur, dich an mich zu erinnern und an jene Ideale, die ich verteidige. Für mich ist nun die Zeit gekommen, den Protest zu vergessen und mich dem Widerstand zuzuwenden, damit die Menschen aufwachen, erkennen, wen sie unterstützen und unserer Sache folgen.

Für einen Moment fragte Maria sich, wer die junge Frau war, die hinter diesen Worten stand. War es überhaupt noch Ingrid oder nur noch Ulrike Meinhof, deren abgewandelten Worte dies waren? Wer war diese Frau nur, die ihr so fremd vorkam?

Deshalb wird dies der letzte Brief sein, den ich dir schreibe, denn es gilt, ganz für den bewaffneten Widerstand zu leben. Meine Vergangenheit hält mich auf, erinnert mich an mein altes Leben als bürgerliche Sau und darf deshalb nicht länger existieren. Es ist ein Schnitt, den ich ziehen muss, um für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen zu können. Ein Schnitt, von dem ich sicher bin, dass du ihn verstehen wirst.

Wie konnte ihre Schwester sich nur sicher sein, sie zu kennen? Seit zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen und Ingrid hatte keine Ahnung von ihrem Leben, das sie doch sowieso als bürgerlich ablehnen würde.

Lebe wohl!

Ingrid

Maria blickte auf die feine schwungvolle Handschrift ihrer Schwester, strich über die Unterschrift, stellte sich ihre Schwester vor, die irgendwo in Hamburg war. Ob sie ihr dunkelblondes Haar immer noch lang trug oder es gefärbt und abgeschnitten hatte, um weniger aufzufallen? Wusste die Polizei überhaupt, dass Ingrid ein Mitglied der roten Armee Fraktion geworden war? Für einen Moment fragte sie sich, was geschehen würde, wenn Ingrid auf einen Polizisten treffen würde. Und die Gefahr, in der ihre Schwester schwebte, kam in ihrer vollen Härte über sie. Erneut griff sie nach dem Ordner zwischen ihren Büchern und suchte mit bebenden Fingern nach einem Spiegelartikel mit dem Titel „Kennwort Kora". Er berichtete über den Tod von Petra Schelm, einem zwanzigjährigen RAF-Mitglied, das bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet worden war. Zwanzig Jahre. Sollte dies auch das Schicksal ihrer Schwester sein? Auf der Straße zu verbluten, die sie zu ihrem Kampfort für die Freiheit auserkoren hatte?

Ihr wurde übel. Warum nur, Ingrid? Warum nur? Wir werden immer zusammen gehen. Waren das denn alles Lügen gewesen? Hastig schlug sie den Ordner zu und verbarg ihn wieder.

Lieber öffnete sie eine Schreibtischschublade und griff nach einem Foto, das sie und Ingrid am See zeigte. Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht ihrer Schwester, erfreut über das Eis, das sie in der Hand hielt. Was ihre Schwester wohl jetzt zum Lächeln brachte? Ob sie das überhaupt noch tat? Lieber strich sie über das Muttermal auf ihrer Wange, das wie ein Mond aussah und fuhren um die blaugrauen Augen, die auf dem Foto seltsam unwirklich und farblos erschienen.

Plötzlich klopfte es an der Tür und Maria zuckte zusammen. Schnell schob sie den Brief in das nächst beste Buch: eine Biografie Martin Luthers. Ihre Mutter schob sich durch die Tür und schenkte ihr ein freundliches Lächeln, das jedoch nur ihren Mund und nicht ihre Augen erreichte. Maria dachte daran, wie ihre Mutter am Anfang auf Nachfragen nach dem Verbleib ihrer ältesten Tochter stolz erklärt hatte: „Die Ingrid? Die studiert jetzt in Westberlin, um Journalistin zu werden" Sie konnte nicht anders, als sich die Tränen vorzustellen, wenn ihre Mutter erfahren würde, wo ihre älteste Tochter tatsächlich war. Nein. Sie schob den Gedanken beiseite. Nicht jetzt.

„Du hast Besuch", erklärte die Frau, die ihr unter Schmerzen das Leben geschenkt hatte.

„Richtig", erwiderte ihre Tochter, überrascht wie schnell die Zeit vergangen war, „Frank wollte vorbei kommen"

Ihre Mutter nickte und ließ die Tür offen stehen, durch die wenig später Frank eintrat.

„Hallo", begrüßte er sie.

Ein wenig verloren blieb er im Raum stehen, denn es war das erste Mal, das er hier war.

Ein Lächeln zog sich über Marias Gesicht. Frank war genau die Ablenkung, sie sie jetzt benötigte. Es war viel einfacher, an ihre gemeinsame Zukunft zu denken als an all das Blut und die Unsicherheit, die ihre Schwester in ihr Leben brachte.

Frank war ihr Anker, der sie hielt und Sicherheit versprach.

Doch ihre Vergangenheit war unerbittlich und zerstörte selbst diesen kostbaren Moment, als Frank das Foto auf ihrem Schreibtisch entdeckte.

„Wer ist das?", fragte er, „Eine Freundin?"

Er nahm das Foto in die Hand und bemerkte mit einem Lächeln: „Du siehst glücklich aus!"

Glücklich! Damals war sie glücklich gewesen. Glücklich und unwissend von der Grausamkeit der Welt, die ihr ihre einzige Schwester stahl.

„Nicht hier", wisperte sie und warf einen Blick zur Tür.

„Okay." Überrascht sah ihr Freund sie an, doch entgegnete nichts, wofür sie dankbar war.

„Lass uns spazieren gehen", bat sie und nahm seine Hand.


„Was ist los?", fragte er, während sie am Geburtshaus von Carl Maria von Weber vorbei schlenderten, einem hübschen Fachwerkhaus.

Schweigen, derweil sie versuchte die richtigen Worte zu finden.

„Wer war das Mädchen neben dir?", forschte er nach.

„Meine Schwester", erklärte sie nach einer Weile.

Abrupt blieb Frank stehen.

„Deine Schwester? Warum hast du mir nie gesagt, dass du eine Schwester hast?"

Erneut blieb nur Stille. Wie sollte man auch sagen, dass die Schwester eine Terroristin war? Gab es dafür überhaupt die richtigen Worte?

Frank beugte sich über sie und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Eine ältere Frau, die vor einem Schaufenster stand, murmelte etwas über den Sittenverfall der Jugend, doch Frank, der sonst begonnen hätte, über Selbstberechtigung zu diskutieren, schwieg.

Er senkte die Stimme. „Ist sie tot?"

„Nein." Maria löste seine Hände und schüttelte wild den Kopf.

„Was erlauben Sie sich eigentlich?", empörte sich die Frau, die sich nun vor ihnen aufgebaut hatte, „In aller Öffentlichkeit! Schließlich sind wir hier nicht in Westberlin oder in den USA und leben noch so etwas wie Anstand! Aber das ist Ihnen vermutlich kein Begriff"

Frank wandte sich zu der Frau um, sein Gesicht vor Zorn gerötet.

„Frank!", zischte Maria. „Lass uns gehen"

Sie konnte ihn verstehen, doch besaß sie nicht die Energie, sich auf eine Diskussion mit einer verbohrten Schachtel einzulassen, die sie sowieso nicht würden überzeugen können.

Nachdem er einen kurzen Blick auf sie geworfen hatte, wandte er sich ab, auch wenn es ihm nicht leicht zu fallen schien.

„Entschuldigen Sie uns", erklärte er mit einem zynischen Lächeln, „Sie wissen doch, die Ungeduld der Jugend"

Er nahm ihre Hand und sie ließen eine verdatterte Frau zurück, was Maria für einen Moment ein Lächeln zurück auf die Lippen zauberte, bis sie Franks fragenden Blick bemerkte.

Doch für den Moment konnte sie ihm keine Antworten geben.

Sie kamen an der Polizeiwache vorbei und für einen Moment stellte Maria sich vor, dort hineinzugehen und von Ingrid zu erzählen. Doch was hätte sie sagen sollen?

Guten Tag, ich glaube, dass meine Schwester Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist, die sich als Rote Armee Fraktion bezeichnet und sich momentan in Hamburg aufhält? Nein. Das war Unsinn. Sie würden sie auslachen. Ging man bei Terroristen überhaupt noch zur Polizei oder rief man gleich das Bundeskriminalamt an? Wenn sie ehrlich war, wollte sie es gar nicht wissen. Es war einfacher Probleme zu ignorieren, als sich mit ihnen zu beschäftigen.

Nur Frank schien etwas zu bemerken, denn verstärkte sich sein Druck auf ihre Hand, während die Polizeiwache hinter ihnen verschwand.

Doch erst als sie am Eutiner Schloss vorbei spaziert waren und den See erreichten, war sie bereit zu antworten. Hier, wo allein die zwitschernden Vögel sie störten, fühlte Maria sich unbeobachtet genug, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Ungeachtet der Tatsache, dass sie ihren Rock beschmutzte, hockte sie sich in das trockene Gras und blickte auf das glatte Wasser hinaus. Sie spürte Franks warme und kraftvolle Hand auf ihrem Rücken, die ihr jene Kraft gab, die sie benötigte, um sich der Vergangenheit zu stellen, die zugleich ihre Zukunft und Gegenwart war. Nicht weniger als ihre Schwester und doch so viel mehr.

„Meine Schwester", begann sie zögernd, „Ich spreche nicht oft von ihr, weil jegliche Klarheit und Gewissheit in den Gedanken an sie verloren geht. Ich versuche immer sie zu trennen in die Person meiner Kindheit und die der Gegenwart und dann stelle ich fest, dass dies nicht möglich ist und verzweifle daran"

„Wie ist ihr Name?", fragte Frank sanft.

„Ingrid", erklärte sie. Es war soviel einfacher über Fakten zu sprechen, als über die widersprüchlichen Gefühle, die sie mit ihrer Schwester verband.

„Sie ist eigentlich nur meine Halbschwester. Ihr Vater starb 1950 an den Folgen einer Kriegsverletzung. Er war als Seelsorger an der Front und wurde dort verwundet. Unsere Mutter heiratete erneut und das war dann mein Vater. Sie hat in Kiel angefangen zu studieren und ihr Studium '68 in Westberlin fortgeführt"

„Was hat sie studiert?"

„Journalistik. Sie hatte schon immer die Welt verändern wollen." Wie zynisch die letzten Worte klangen. Doch damals hatte Ingrid nur zur Feder gegriffen und wütende Forderungen in den Studentenzeitungen gestellt. Jetzt hielt sie eine Waffe in der Hand und wollte die Welt gewaltsam nach ihrem Bild umgestalten.

„Meine Schwester" Sie sah ihm tief in die Augen und holte Luft. „Sie hat sich der RAF angeschlossen"

Einen Moment blickte er sie verständnislos an, was wohl daran liegen konnte, das man in den Medien kaum die Bezeichnung RAF benutzte.

„Die Baader-Meinhof-Bande?", fragte er schließlich.

Maria nickte. „Ja. Meine Eltern wissen nichts davon und auch ich habe keine Beweise. Es sind nur ihre Briefe, die mir verraten, dass sie ein Teil dieser Bewegung geworden ist."

Für einen Moment schwieg Frank, verloren in seinen eigenen Gedanken. Nur seine Hand auf ihrem Rücken verblieb und gab ihr das Gefühl einer Verbundenheit. Sie fragte sich, was ihm jetzt wohl durch den Kopf gehen mochte. Auch Frank verfolgte die Studentenbewegung aufmerksam und hieß die Befreiung von alten Zwängen gut, doch war er streng pazifistisch und christlich gesinnt. Es war der Ostermarsch in Lübeck letztes Jahr gewesen, wo sie sich das erste Mal begegnet waren. Schon oft hatte er gegen Militarismus, gegen Vietnam, gewaltsame Demonstrationen und Unterdrückung gewettert.

„Erzähl mir von ihr", bat er schließlich.

„Das habe ich doch gerade!", erwiderte sie verwirrt.

„Ja, doch du hast mir das Offensichtliche erzählt, das mir auch jeder andere hätte erzählen können. Doch du bist ihre Schwester, nicht irgendwer und auf dem Foto schient ihr euch sehr nahe zu stehen. Du kennst sie und ich bitte dich, mir von ihr zu erzählen, damit ich sie verstehen kann"

„Sie verstehen", flüsterte Maria und lächelte zaghaft, „Das hört sich gut an."

Wo sollte sie anfangen?

„Ich werde dir von '68 erzählen, wo meine Schwester begann, mir eine Fremde zu werden", entschloss sie sich. Es war leichter über Marx zu reden als über die Fünf Freunde und einfacher die Begeisterung ihrer Schwester über Meinhof zu erklären, als die Spiele und Abenteuer zu erwähnen, die sie im Wald erlebt hatten und die Sketche zu spielen, die sie zusammen geschrieben hatten. Es ließ sie entfernter und unnahbarer wirken, zeigte nicht die Heldin ihrer Kindheit.

Frank nickte ihr zu und so begann sie zu erzählen, während die Sonne hinter ihnen langsam unterging und erneut die Vergänglichkeit des Lebens offenbarte.


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