SLOWTOWN

By agustofwind

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❝While I'm doing my time due to circumstance, cross that bridge, face the consequence.❞ Sie arbeiten so gut z... More

EPIGRAPH ㅡ slowtown
PROLOG ㅡ the existential importance of slowtown for jeon jeongguk
KAPITEL EINS ㅡ the korean job
KAPITEL DREI ㅡ camilla
KAPITEL VIER ㅡ brother
KAPITEL FÜNF ㅡ kiss the blood off my hands
KAPITEL SECHS ㅡ cittàlenta
KAPITEL SIEBEN ㅡ the prodigal son
KAPITEL ACHT ㅡ addio
KAPITEL NEUN ㅡ the end of a friendship
KAPITEL ZEHN ㅡ speakeasy
KAPITEL ELF ㅡ birthright
KAPITEL ZWÖLF ㅡ the unholy trio
KAPITEL DREIZEHN ㅡ into that good night
KAPITEL VIERZEHN ㅡ a ghost of christmas past
KAPITEL FÜNFZEHN ㅡ the calm before the storm
KAPITEL SECHZEHN ㅡ sic semper tyrannis
KAPITEL SIEBZEHN ㅡ slowtown
EPILOG ㅡ the existential importance of slowtown for kim taehyung
GOODBYE ㅡ leave the city

KAPITEL ZWEI ㅡ long island getaway

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By agustofwind

In ihrem Rücken versank die orangerote Scheibe langsam in der zahnigen Reliefstruktur der Stadt, sodass es beinahe den Anschein erweckte, als würde sie flackernde, gezackte Schatten durch die Rückscheibe in das Innere des Autos werfen.

Jeongguk blickte durch den Seitenspiegel auf New York City zurück, oder auf diejenigen diffusen Lichtschablonen, die er zwischen den farbintensiven Tiefenfeldern ausmachen konnte. Aus der Ferne wirkte die Stadt seiner Kindheit beinahe unbedeutend; klein, schmächtig und unbeeindruckend – wie eine Spielzeugstadt, die weniger Mühe und Sorgfalt im Aufbau erfahren hatte, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Es erschien ihm beinahe abstrus, dass ein Landstreifen, eine schlichte Halbinsel und ihre Randgebiete, solch einen Kultstatus erreichen konnten – dass es gesamte Generationen von Menschen gab, die New York zur Pilgerstätte ihrer Zukunft erklärt hatten, zum Hort ihres persönlichen Glücks; ihres Erfolgs.

Es gab wohl keine zweite Stadt auf der Welt, die solch ein Potential erfüllte wie New York City. Sie schien sie alle zu sich zu rufen; Hoffnungslose, Verlorene, Suchende, Erschöpfte, Ausgebeutete – schien sie mit den sanften Wogen des East Rivers zu begrüßen, mit der lindgrünen, ewig statischen, allzeit gütigen Lady Liberty dort draußen, auf einer der winzigen Inseln im Meer. Zumindest musste es seiner Mutter so ergangen sein, als sie Ende der Neunziger Jahre mit ihm unter dem Herzen das erste Mal Fuß in diese einschüchternde, furchteinflößende Stadt gesetzt hatte – der Landessprache nicht im Ansatz mächtig, ohne einen Pfennig in der Tasche und verängstigt, vor Furcht gelähmt vielmehr, dem entgegensehend, das sich ihr auf amerikanischen Boden eröffnen würde.

So ähnlich musste es auch Taehyungs Vorfahren gegangen sein; Jahrzehnte bevor Jeon Chaeyeon erstmals über den Bug eines Passagierschiffes auf die Integrationsbehörde zugestolpert war – den ersten Kims, die es jemals gewagt hatten, den Ozean zu überschiffen und auf der Flucht vor der japanischen Zwangsherrschaft im heimatlichen Korea in neuen Landen nach Glück und Verheißung zu suchen. Seine Mutter, Chaeyeon, hatte es zur Putzkraft gebracht – und Taehyungs Vorfahren hatten das mächtigste, unzerstörbarste Kartell auf diese unvoreingenommenen Landen gesetzt.

Es war eine unerzählte Geschichte; eine den meisten unbekannte Erläuterung von Verrat, Scheitern, Notständen und dem omnipräsenten, blassesten Schimmer von gleißender Hoffnung, der sich in den schier unerwartsten Augenblicken zum Gestirn am Zenit der Kim-Familie emporhob. Es war eine Geschichte, die fast neunzig Jahre im Entstehen gewesen war, ehe sie einem schwermütigen, gedankenverlorenen Jungen in den Schoß gelegt worden war.

Einem jungen Mann, kaum einundzwanzig, der das Steuer zwischen seinen langen Fingern hielt wie ein anderer vielleicht einen Pinsel und leise zu dem summte, das aus der Stereoanlage seines Lamborghini Aventador klang und das geräumige, geschwungene, ledergeformte Innere des Autos erfüllte.

Jeongguk löste seinen Blick von der Ansicht der Stadt, die nun nicht einmal mehr im Rückspiegel erkenntlich war und ließ seinen Blick, sowie seine volle Aufmerksamkeit Taehyung zukommen, dessen Finger auf das ledergepolsterte Steuer trommelten. „Du wirst dieses... unerträgliche Gejammer auch niemals Leid, oder?"

Bei dem unerträglichen Gejammer – das er selbst überhaupt nicht als ein solches empfand und nur so nannte, um Taehyung aufzuziehen – handelte es sich um die sinnliche, träge Stimme von Chet Baker, der seit mehr Jahren unter der Erde war, als sowohl Taehyung wie auch Jeongguk auf ihr wandelten und ihre Autofahrten begleitete, seit Jeongguk denken konnte.

„Leid werden?", antwortete Taehyung so ungläubig, dass es Jeongguk ein Lächeln entlockte. Er wandte seinen Kopf in seine Richtung und ihre Blicke kreuzten sich; auf eine Art und Weise, wie Jeongguk sie nur bei Taehyung kannte – als sei die folgende Konversation nur Formsache, weil sie beide bereits jeden möglichen Ausgang ihres Gesprächs schon vorauszusagen vermochten. Zum einen, weil Jeongguk Taehyung so vollkommen kannte, dass jede Erwiderung nur ein Echo dessen sein konnte, das Jeongguks Erwartungshaltung seines besten Freundes bereits entsprach. Und zum anderen, weil sie vermutlich jedes Gespräch schon einmal geführt hatten, in den abertausenden Stunden, die sie einfach nicht zu trennen waren. Sie kannten einander so in- und auswendig, so vollendet in jeder Hinsicht, jeder Laune und Möglichkeit – so, dass Jeongguk oftmals nur Sekunden vor Taehyung denselben Anflug einer Idee ereilte, oder Taehyung in dem Augenblick das aussprach, das Jeongguk bereits auf der Spitze seiner Zunge getragen hatte.

Und dennoch hätte Jeongguk niemals gesagt, dass Taehyung ihm langweilig werden würde; dass er ihn inzwischen so gut kannte, dass es Zeit für ihn sei, weiterzuziehen wie eine Biene, die den Nektar einer Blüte erschöpft hat. Vielmehr war Taehyung für ihn wie das Lesen seines allerliebsten Buches, zu dem er immer wieder zurückkehren würde, wohl wissend, dass es ihn mit derselben Unveränderlichkeit empfangen würde, willkommen heißen mit demselben schwarzen Schriftbild auf papiernen Seiten, willkommene Worte in tröstlicher Dunkelheit. Und wenn er die Sätze beim Lesen mitsprechen konnte, erfüllte ihn das nur mit Stolz, sich etwas seines absoluten Liebenswerks verinnerlicht zu haben; dass er einen Abdruck von Taehyungs einzigartiger Einmaligkeit in seinen Gedanken besaß.

„Vielleicht... wird My Funny Valentine nach dem zwölftausendsten Mal etwas... repetitiv", erwiderte Jeongguk grinsend und konnte den Grad des gespielten Entsetzens auf Taehyungs Gesicht bis auf ein paar wenige Details mühelos voraussagen.

„Ich lasse mir hier nichts von jemanden erklären, der jedes Wochenende den gleichen Film ansieht." Taehyung schüttelte seinen Kopf, während er an einer Wagenkolonne vorbeizog, die an der Ausfahrt zum Northern State Parkway verlangsamte. „Wenn hier jemand sein Recht auf Kritik verwirkt hat, dann bist das du, Gukkie."

Jeongguk biss sich grinsend auf die Lippen und wandte sich ab. Er musste sich nicht umdrehen, um das winzige Lächeln auf Taehyungs Mund zu wissen.

„Es gibt... wohl einfach Lieder, denen man nicht müde werden kann", sagte Taehyung nachdenklich. „Ich habe das Gefühl, dass das eine exklusive Qualität von allem ist, das im letzten Jahrtausend produziert wurde. Heutzutage kennst du ein Lied an der Spitze der Charts und du kennst sie alle."

Jeongguk musste nur eine Augenbraue heben; sodass Taehyung grinsend einsah: „Okay, ich als Jazz-Fanatiker sollte keine allzu großen Worte über Gleichtönigkeit schwingen, aber... aber du verstehst, worauf ich hinauswill."

„Immer, Tae." Er biss sich auf die Unterlippe, wohl wissend, dass er seine nächsten Worte nicht zurückhalten konnte, ganz gleich wie viel Mühe er sich gab: „Du unverbesserlicher Hörer dieser... Fahrstuhlmusik."

Taehyung wählte die Methode, für die er sich meist entschied, um Jeongguks subtile Kritik im Keim zu ersticken, er drehte die Lautstärke hinauf und ließ zu, dass die antiken Klänge die Worte zwischen ihnen substituierten; Jeongguk mit Gedanken in die Zeit zurückversetzen, in der sie dieselben zwei gewesen waren – in einer einfacheren Welt, die nicht alle paar Schritte versucht hatte, sich in ihren Kehlen zu verbeißen. Oder war er damals einfach nur besser darin gewesen, offensichtliche Feindseligkeit nicht zu erkennen?

„Weißt du", sagte Taehyung irgendwann, als die Sonne die Straße in diffusem, grauen Licht zurückließ und sein Haar in silberne Unstetigkeit tauchte, „in letzter Zeit muss ich immer öfter an... Slowtown denken."

Jeongguk entging das winzige Zögern nicht, das Taehyung verstreichen ließ, ehe er den Namen ihres gemeinsamen Gedankengespinsts zwischen sie in den Raum warf; als sei er besorgt, Jeongguk habe vergessen, wovon er sprach.

„A-an... S-Slowtown?", stotterte Jeongguk, vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt. Es musste mehrere Jahre her sein, dass sie das letzte Mal darüber gesprochen hatten, ein paar Monate nachdem sie zum allerletzten Mal dort gewesen waren.

„Erinnerst du dich?" Taehyungs Stimme klang sanft in der dämmrigen Dunkelheit des Autos und Jeongguk spürte seine Augen über sein Gesicht streichen. Eine tiefe Verletzlichkeit hatte von der Stimme des anderen Besitz ergriffen; so, als wagte Taehyung es kaum, dieses Detail ihrer Kindheit hervorzukehren – nun, da Jeongguk es nicht länger benötigte.

„Ob ich mich erinnere? Natürlich! Natürlich erinnere ich mich!" Jeder Anflug von dämmerungsinduzierter Müdigkeit schien von ihm abzufallen, während er sich sofort aufsetzte und seinem besten Freund einen ungläubigen Blick zuwarf. Taehyungs Augenmerk streifte ihn erneut; und er meinte, tiefe Erleichterung darin zu erkennen. „Wir haben die Hälfte unserer Kindheit darin verbracht. Ich erinnere mich an jeden letzten Winkel davon, an jedes Wort, das wir jemals darin gesprochen haben."

„Wirklich?", sagte Taehyung überrascht. „Es muss mehr als zehn Jahre her sein, seit wir nicht mehr in Slowtown waren."

Jeongguk presste die Lippen aufeinander, während er spürte, wie die Verlegenheit ihn knebeln wollte – aber Taehyungs aufmerksamer Blick, weniger noch als eine tatsächliche Nachfrage, erleichterten ihn um die Beichte, die er seit Jahren vor ihm verborgen hatte. „Ich... war danach noch oft in Slowtown, Tae. Als du auf das Internat geschickt wurdest... und ich unter der Woche nicht mit dir in Kontakt treten konnte."

Taehyung starrte ihn an. „Du warst... was?"

„Ich habe dich vermisst, okay?", schnaubte Jeongguk und spürte, dass er rot wurde. „Mehr als mein zehnjähriges Ich dich damals wissen lassen wollte. Und weil ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt zum Clan hatte, war das meine einzige Möglichkeit, an einem Ort zu sein, der so... voll von dir war."

Zuerst glaubte er, dass Taehyung ihn sein restliches Leben mit geöffneten Mund anstarren würde – und das, obwohl sie gerade mit siebzig Meilen in der Stunde über den Highway jagten –, aber dann stieß er ein atemloses Lachen aus, das, ebenso wie seine Stimme tief aus ihm hervorzubrechen schien wie Lava aus einem unruhigen Vulkan. „Verarsch' mich nicht."

„Tu' ich nicht." Jeongguk hatte entschieden, keine große Sache daraus zu machen – alles in allem war das vor langer Zeit gewesen, und Taehyung war sein bester Freund, es war nur natürlich, dass er ihn vermisst hatte, als dieser von seinen Eltern auf das prestigereiche Internat im Norden des Staates geschickt worden war.

„Gott, ich dachte immer... Slowtown bedeutet dir nicht die Hälfte von dem, was es für mich ist." Auch, wenn Taehyung inzwischen wieder auf die Straße blickte, hatte Jeongguk das Gefühl, seinen schweren Blick noch immer auf sich zu fühlen. „Ich dachte immer, du bist nur ungern dort... nur, weil ich immer darauf bestanden habe."

„Bist du wahnsinnig?" Er schüttelte den Kopf, und es erschien ihm fast, als läge darin genauso viel kindlicher Trotz, wie der fünfjährige Jeongguk ihn in solch einem Augenblick geäußert hätte. „Diese... Stadt, die du erfunden hast, hat mich durch so ziemlich alles gebracht."

Wie deine Geschwister und Cousins, die du liebst, und über die ich deshalb niemals ein schlechtes Wort verlieren würde, fügte er in Gedanken hinzu. Und das nicht, weil ich Angst habe, dass du sie über mich stellst, sondern, weil ich weiß, dass du es nicht tun wirst.

Taehyung antwortete nicht, und erst als Jeongguk den Blick hob, bemerkte er, dass sein bester Freund seine Finger um das Steuerrad geschlungen hatte und seine Lippen aufeinanderpresste, als machte er sich für etwas ungemein verantwortlich. „Oh, Gukkie... ich, ich wusste das nicht."

„Ich hab's dir auch nie erzählt", erwiderte Jeongguk entschieden leichtfertiger, als er sich fühlte, „und solange du mir keine unlängst entdeckte, aber tiefgreifende Fähigkeit im Gedankenlesen verschweigst, wüsste ich nicht, wie du an diese Information gekommen sein könntest."

„Brüderliche Intuition?"

„So was gibt's nicht", schnaubte Jeongguk. „Mach dich deswegen nicht fertig."

Taehyung warf ihm einen tief zweifelnden Blick zu, war aber offensichtlich nicht überzeugt genug, um in einen Krieg der Widerworte einzuziehen.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie mehr oder minder schweigend; die unvergessene Präsenz Slowtowns hing zwischen ihnen wie ein Propagandaposter; in schillernden Farben und dem Anspruch, dass darüber gesprochen wurde. Aber sie waren schon immer gut darin gewesen, den Elefanten im Raum zu ignorieren; und deshalb obsiegte die Stille, bis Taehyung von der Interstate über Oyster Bay auf die vertraute Straße abfuhr, die sich in typischem Long-Island-Gehabe vor ihnen auftat; im Schatten von windschiefen Pinien und auf einem schmalen Streifen Fels, der zu beiden Seiten von den ersten Ausuferungen des atlantischen Ozeans umspült wurde.

Bayville Manor, das Herrenhaus, in dem Taehyung und seine Schwestern mitsamt ihrer zwei Cousins aufgewachsen waren, lag am Ende einer eingebuchteten Lagune, die den stimmungsvollen Namen Mill Neck Creeks trug. Die Lagune mündete unter einer mäßig befahrenen Autobrücke in das Naturreservat von Oyster Bay und an ebendieser Stelle, einem schmalen Landstreif zwischen zwei Gewässern, ragte das Herrenhaus empor. Es war von der Straße aus nur schwer ersichtlich; eine Reihe von hohen, dicht gepflanzten Roten Zedern ließ nur schmale Sichtstreifen auf einmal zu, aber die anmutigen, fein gemeißelten dorischen Säulen, die in einer gleichmäßigen Anordnung vor dem Hauptflügel des Landhauses aufragten, blitzten dennoch selbst durch das dichteste Laub hindurch. Über dem Blickfang, den die Säulen darstellten, wuchs das weiß getünchte Gebälk empor, und unmittelbar darunter, im deutlichen Kontrast, reihte sich die Backsteinfassade zwischen schmalen, eleganten Kristallfenstern.

Jeongguk erkannte durch das dunkle Geäst den Schimmer der Fenster, die lange, verzerrte Schatten auf den angelegten Rasen vor dem Haus warfen – unleugbar das Zeichen dessen, dass hinter den Mauern des Herrenhauses eine Abendgesellschaft vonstattenging, zu der Taehyung und er wieder einmal eine gute Stunde zu spät waren.

Die Zufahrt war mit Autos zugestellt; die meisten davon unauffällige, schwarze Wagen, die man zu hunderten vor Banken oder Ampeln stehen sah – aber beizeiten, alle paar Meter hatte ein teurer italienischer Sportwagen das System unterwandert, einer, der Taehyungs Geschmack nachkam.

Mit einem flauen, unangenehm pochenden Gefühl im Magen erkannte Jeongguk den vertrauten roten Ferrari Aperta fahrlässig in einer Kurve stehen, so, als kümmere sich sein Besitzer nicht im Entferntesten darum, dass er die Hälfte des Fahrweges verstellte. Das Verdeck war offen und die Hinterreifen waren zur Hälfte im fein angelegten Gras versunken. Taehyung schüttelte grinsend den Kopf, während er sein eigenes Auto am Wagen seines Cousins vorbei ausrollen ließ und eine kleine, fast unmöglich zugängliche Parklücke zwischen einem SUV und einem Mercedes anvisierte.

„Scheinen fast alle da zu sein", vermeldete er beiläufig an Jeongguk, für den diese Information ohnehin überflüssig war. Er kannte beinahe jedes Auto, das sich in die Zufahrt des Herrenhauses drängte, und wusste zudem, welchem noch so entfernten Geldgeber, Patron oder Freund des Kim-Clans der Wagen in Frage gehörte.

Es überraschte ihn nicht, dass Kim Hyun-sik die Geburtstagsfeier seiner Tochter dafür verwendete, ein großangelegtes Treffen seiner Büttel einzuberufen. Es war sogar mehr als charaktertypisch für ihn.

Taehyung deaktivierte den röhrenden Motor seines Autos mit einem beiläufigen Handgriff, ehe das vertraute Klicken der zurückgefahrenen Verriegelung ertönte und Jeongguk keine Sekunde später auf dem edlen Kies der Zufahrt stand. Taehyung machte sich nicht einmal die Mühe abzuschließen, sondern ließ den Autoschlüssel gleich in der Tasche seiner Hose versinken, noch bevor er den Kofferraum beiläufig öffnete und zuerst Jeongguks Geschenk herausholte, das in einer langen, schmalen Kartonhülse verpackt war und dann sein eigenes, in einer steifen Papiertüte von Cartier.

„Und du willst mir sicher immer noch nicht sagen, was da drin ist?", fragte er Jeongguk mit blitzenden Augen, während er ihm die Röhre zuwarf.

„Du wirst es noch früh genug selbst sehen."

Nun, da sie aus dem Auto gestiegen waren, so waren die Anzeichen der Party unverkennbar. Durch die offenen Fenster des Erdgeschosses drang die rauschende Kulisse vieler Stimmen; undeutlich genug, um kein einziges Wort klar ausmachen zu können, aber dennoch auf eine tief intuitive Weise beruhigend. Von der anderen Seite des Herrenhauses, diejenige, die dem Ozean zugewandt war, klang das Plätschern des Pools und Klirren von Gläsern zu ihnen herüber.

Auf der säuberlich gepflegten Wiese vor dem Haus saßen drei junge Mädchen im Gras – vermutlich ein paar von Soras Freundinnen – die sich kichernd anstießen, als Taehyung und Jeongguk aus dem Auto ausstiegen und die Wiese zugunsten der Eichenholz-Haustür zurückließen. Taehyung grinste ihnen beiläufig zu, während Jeongguk so tat, als sei er vollkommen eingenommen von der Ansicht des Herrenhauses – das, zugegebenermaßen, tatsächlich im Ansatz immer noch der Fall war.

Bayville Manor war im neunzehnten Jahrhundert für einen reichen Industriellen erbaut worden, wie es sie damals wie Sand am Meer gegeben hatte; einer der Sorte, die einen Rückzugsort auf dem Land erstrebten, nachdem sie in der aufstrebenden Industriestadt New York City damals tagein, tagaus eine Raucherlunge voll karzinogener Dämpfe inhalierten. Es war in einem annähernd klassizistischen Stil errichtet – soviel hatte Jeongguk schon von Taehyung gelernt – mit weißen Säulen, die ihrem hellenistischen Vorbild nachempfunden waren, wenngleich der Grundkörper des Hauses mit seiner Backsteinfassade vielmehr so wirkte, als habe der Architekt sich ein wenig zu sehr an Viktorianischen Stadthäusern orientiert.

Trotz des imposanten ersten Eindrucks, den das Herrenhaus seinem Betrachter unweigerlich aufoktroyierte, war Jeongguks Lieblingsdetail an Bayville Manor immer der asymmetrische Säulengang gewesen, der auf der rechten Seite des Hauses aus dem rechten Flügel herausbrach und die hohe, lindgrüne Hecke bis zur Hälfte ihres Verlaufs verfolgte. Im Sommer wurde die Basilika mit weißen Vorhängen ausgehängt, sodass man in dessen Mitte Platz finden konnte, während die sanfte Meerbrise die Seidenwogen aufbauschte und glättete.

Ebenso gut gefielen ihm die Dachgauben, hinter dessen Fenstern immer dann Licht brannte, wenn jemand auf dem vollgestopften Dachboden zugange war – und weil niemand aus der Familie jemals einen Fuß in die Mansarde hinsetzen würde, hatte das für ihn immer bedeutet, dass Taehyung dort oben auf ihn wartete. Das Dachgeschoss war der wohl mondänste Teil an einem Haus, das seit mehreren Generationen Dreh- und Angelpunkt eines der größten Kartelle in Nordamerika war. Dort oben standen reihenweise Kisten mit Kleidung, die ihren Besitzern zu klein geworden war, aussortierten Spielzeugs und alter Dekoration, die den Lauf der Zeit nicht überlebt hatte. Die Mansarde war für Jeongguk immer ein Sammelort des Zerbrochenen, Ausrangierten gewesen, aber er hatte es dennoch nie versäumt, sich dort oben mit Taehyung, fernab von den eifersüchtigen Blicken und feinseligen Gemurmel seiner Geschwister und Cousins zu treffen, um ihrer eigenen Welt beizuwohnen.

Taehyung trat als Erster auf den Vorbau und gab der schweren Tür nur einen beiläufigen Schubs mit seiner freien Hand, sodass sie aufschwang und der Lärm aus dem Inneren sie sofort umbrandete. Die Eingangshalle, an die sich Wohnzimmer und Salon anschlossen, war von stimmungsvollen Licht durchflutet, von Gästen, die mit wertvollen Champagnerflöten an der alten Vertäfelung lehnten und ins Gespräch versunken waren. Es wehte ein leichter Wind durch die geöffnete Terrassentür, hinter der die Veranda in Pool und Hintergarten ausuferte. Unmittelbar dahinter war das Meer zu erkennen, der feine, weiße Sandstrand, der nur gut zwanzig Meter anhielt, ehe die tosenden Wellen von Oyster Bay das Land für sich beanspruchten.

Viele der anwesenden Gäste sagten Jeongguk nichts; er vermutete, dass sie Freunde von Sora waren, vielleicht sogar der ein oder andere Nachbar, der sich hierher verirrt hatte – aber dazwischen, wie Inseln im Ozean, erkannte er Männer und Frauen, die gewiss nicht hier waren, um dem achtzehnten Geburtstag der jüngsten Tochter des „Handelskaufmanns", wie Hyun-sik Kim in weiten Kreisen bekannt war, beizuwohnen.

Kim Eunjin, Taehyungs älteste Cousine, stand in einem taillierten Tweedkleid neben der Getränkeausgabe an einem mit schwerer Tischdecke behangenen Mahagoniteil, das üblicherweise unbenutzt im Wohnzimmer stand. Gerade war sie damit beschäftigt, einem der Nachbarn der Kims mit einem schüchternen Lächeln geschickt den teuren Moët in eine kristallene Sektflöte zu füllen. Als sie Taehyung und Jeongguk in der Tür erkannte, schenkte sie ihnen über die Schulter des Gastes hinweg ein leichtes Lächeln, das beide gleichzeitig erwiderten.

Jeongguk konnte Eunjin sehr gut leiden. Sie war die Älteste der neuen Generation der Kims, und auch diejenige, die am allerwenigsten vom Biss und Ernst der Familie geerbt hatte. Sie besaß ein sanftmütiges, liebevolles Wesen, das sie nicht nur ihrem Cousin allzeit entgegengebracht hatte, sondern auch ihm, als Außenstehenden – ein Umstand, den er ihr nie vergessen würde.

„Sollen wir Sora suchen?", fragte Jeongguk an Taehyungs Ohr, der der edlen Aufmachung seines Kindheitshauses kaum mehr als einen beiläufigen Blick zukommen ließ.

„Glaubst du, Areum ist schon hier?", antwortete dieser stattdessen und Jeongguk seufzte unhörbar auf. Natürlich. Natürlich würde Taehyung wieder versuchen, das alberne Konkurrenzspiel zwischen seiner Schwester aufwiegen zu lassen.

„Keine Ahnung", sagte er ehrlich. „Ihr Auto habe ich nicht in der Einfahrt stehen sehen."

Areum fuhr einen silbernen Volvo, den sie allzeit in so tadelloser Verfassung führte, als habe sie ihn gerade erst aus dem Autohaus geholt. Nur der Tatsache geschuldet, dass er ja doch irgendwie erwachsen war, hatte Jeongguk dem makellosen Lack noch keine tiefen, hässlichen Kratzer mit Taehyungs Autoschlüssel zugefügt.

Taehyung begann, durch die Menge der Gäste zu tauchen; in einer eleganten Manier, die rechts und links Zeichen des Wiedererkennens verlauten ließ, aber so beiläufig und eilig, das niemand wagte, ihn anzusprechen. Jeongguk spürte, wie Taehyungs Hand sich beinahe unmerklich in die Mitte seines Rückens legte, als er ihn damit mit sich durch die Menge navigierte.

Sie ließen die geöffnete Terrassentür, die Eingangshalle und Eunjin zu ihrer Rechten zurück – nur, um im Salon einen viel größeren Auswuchs der Party anzutreffen. Dort stand Kim Sora, das Küken des Clans, inmitten ihrer Freunde in einem bauschigen Rüschenkleid, das an jedem anderen schrecklich ausgesehen hätte und erfüllte den gesamten Raum mit ihrem breiten, tief ehrlichen Lächeln. Wenn Areum jede scharfzüngige, bissige Seite von Taehyung widerspiegelte, so war Sora das Abbild von allem Weichen, Gutherzigen, das Jeongguk an seinem besten Freund schätzte. Die beiden Schwestern schienen tatsächlich vollkommene Gegenteile voneinander zu sein, nur, um sich in ihrem Bruder wieder zu vereinigen.

Jeongguk wurde gleich bewusst, dass es mindestens eine Viertelstunde dauern würde, bis er durch die Reihen der Gratulanten zu Sora durchgedrungen war – was Taehyung jedoch nicht davon abzuhalten schien, diese Sisyphosaufgabe auf sich zu nehmen.

Am anderen Ende des Salons, in der Nähe des Glaskabinetts, das den gesamten Alkoholbestand der Kims beherbergte, machte Jeongguk Kim Hyun-sik neben zwei seiner Berater und seinem Bruder aus. Taehyungs Vater war wie immer in einen dunklen, maßgeschneiderten Anzug gekleidet, sein schwarzes, schimmerndes Haar penibel zurück gegelt. Es fehlte nur noch ein qualmender Zigarillo aus entweder Kolumbien oder Kuba, auf den die Vereinigten Staaten ein Handelsembargo gelegt hatten, und Kim Hyun-sik würde das archetypische Bild eines Mafioso in jeder Hinsicht erfüllen.

Das Oberhaupt des Bayville-Kartells schien die Ankunft seines Erben zur Kenntnis zu nehmen, wenngleich er sich nicht aus dem Bund seiner Berater löste, um seinen Sohn zu begrüßen. Einen kurzen Moment lang streifte sein Blick Jeongguk, der unmittelbar so tat, als fesselte das meterhohe Landschaftsbild an der Längsseite des Salons seine gesamte Aufmerksamkeit. Wie immer, wenn Hyun-siks Augenmerk auf ihm lag, spürte Jeongguk, wie eine tiefe Unruhe von ihm Besitz ergriff, die er nur schwer abschütteln konnte; so, als würde sein Innerstes durchleuchtet und all seine Absichten hervorgekehrt.

Jeongguk beeilte sich, den Salon wieder zu verlassen, wobei er einem athletisch gebauten, dunkelhaarigen jungen Mann in die Arme lief, der ein schweres Tablett mit Whiskey-Gläsern auf seinem Unterarm balancierte. „Fuck, kannst du nicht–", begann dieser sofort, während er das Tablett aus seiner gefährlichen Schräglage wieder in eine gerade Position errettete, aber sobald sein Blick auf Jeongguk fiel, wich sein ärgerliches Stirnrunzeln einem breiten Grinsen: „Gukkie! Ich hab' dich gar nicht hineinkommen sehen."

„Hi, Jimin." Jeongguk musste grinsen, als er einen wertvollen Freund inmitten der Feindseligkeit erkannte.

Park Jimin war, ebenso wie er, ein Teil des Kartells, ohne dabei ein Kim zu sein. Er war eine Randfigur in ihrer beanspruchenden Rücksichtslosigkeit, die ihn, genauso sehr wie seine Mutter, dazu verbannte, dem Clan auf ewig treu ergeben zu sein – mochte das nun heißen, dass er einen gesamten Abend lang Whiskey-Gläser herumschleppte.

Sein Freund reckte den Kopf, um einen ungehinderten Blick durch die Salontür zu haben. „Ist Taehyung auch schon hier?"

Jeongguk nickte und machte eine ungefähre Handbewegung in Richtung der Traube, die sich um Sora gebildet hatte. „Irgendwo dort drin."

Jimin nickte, als habe er nichts anderes erwartet. „Natürlich." Er warf einen missmutigen Blick auf das schwere Tablett mit den Gläsern auf seinem Unterarm. „Jeongguk, ich muss das Zeug schnell beim Boss abliefern, mir fällt gleich der Arm ab. Wartest du solange hier auf mich? Ich wollte ohnehin noch mit dir sprechen."

Er nickte stumm, während Jimin ihm ein strahlendes Lächeln zukommen ließ und keine Sekunde später im Gewühl verschwunden war. Es überraschte ihn nicht, dass Jimin mit ihm sprechen wollte. Er verbrachte sehr viel mehr Zeit in Bayville Manor als Jeongguk und es tat, aber die beiden hatte schon vor Jahren die Vereinbarung getroffen, einander als Informanten zu dienen; Jeongguk versorgte Jimin mit Anekdoten aus der Außenwelt, während Jimin ihm im Gegenzug von alledem erzählte, dass sich in diesem Haus hinter verschlossenen Türen zutrug.

Während er auf Jimin wartete, stellte er die Papprolle mit Soras Geschenk an eine Wand und hoffte, dass sie nicht irgendwie verloren gehen würde. Gerade, als er Eunjin, die nach wie vor an der Terrassentür stand, rasch begrüßen wollte, bemerkte er, dass Pest und Cholera, wie er sie gedanklich manchmal nannte (und das war noch einer der freundlicheren Spitznamen) aus einem anliegenden Zimmer gekommen zu sein schienen, um zu ihr aufzuschließen.

Er duckte sich rasch hinter ein konversierendes Grüppchen, um Seokjins Blick zu entgehen, der ihn jede Sekunde in der entblößten Ungeschütztheit entdecken könnte.

Taehyungs Cousin war gemeinsam mit Areum aus der anliegenden Küche gekommen, gerade, als Jeongguk die Papprolle platziert hatte. Wie jedes Mal, wenn Jeongguk einen Blick in sein elegantes, fast königliches Gesicht warf, begann die Wut in seinem Magen aufzukochen und zu brodeln.

Seokjin schien über irgendetwas zu lachen, und er legte Eunjin dabei den Arm um die Schulter, die breit grinsend zu ihm aufblickte. Selbst Areum neben ihnen schien sich darüber zu amüsieren, denn ein charakteruntypisches, echtes Grinsen lag auf ihren feinen Lippen, während sie abwesend mit ihrer rechten Hand die Fransen an ihrem Cocktailkleid zurechtzupfte. Jeongguk wollte sich gerade mit verächtlichen Blick abwenden, als Taehyung – nun geschenklos – aus dem Wohnzimmer trat. Sein Gesicht erhellte sich, als er seine Cousins und Schwester an dem Getränkebuffet stehen sah und durchquerte den Raum, um sich ihnen anzuschließen.

Als Seokjin ihn erkannte, flog ein spöttisches, aber ehrliches Lächeln auf seine Lippen und er legte Taehyung die Hand auf die Schulter, um ihn zu begrüßen. Die beiden Cousins schienen den Anfang des Gesprächs mühelos zu finden und Jeongguk spürte, wie der Unmut ihn ergriff, während er die Kims dabei beobachtete, so unleugbar einnehmend zu sein, ohne es wirklich zu beabsichtigen. Jedes Mal, wenn er Taehyung und Seokjin dabei betrachtete, wie blendend und schmerzlos sie miteinander umgingen, wie gut sie sich verstanden, bekam er das Gefühl, ein Eindringling in dieser Welt zu sein.

Er war kein Kim, kein Teil von allem Royalen, allem Fürstlichen, das von dieser Familie ausging – Areum und Seokjin hatten ihm das öfter als bloß einmal verdeutlicht – aber in solchen Augenblicken fühlte er sich immer so, als sei er nicht einmal ein Teil von Taehyung.

Dieser Taehyung, der grinsend und spöttelnd neben seinem Cousin stand, und ihn ganz offensichtlich aufzog, schien ihm nicht ferner zu sein. Es war der Taehyung, der eines Tages den Clan seines Vaters übernehmen würde, derjenige, der Jeongguk nicht als Freund, sondern als Untergebenen sehen sollte. (Nur, dass er das nicht tat – aber Jeongguk war zu eifersüchtig, zu abgeschirmt, um das wirklich zu verstehen.)

Er wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, als Jimin ihm die Hand auf die Schulter legte. Das Tablett lag nun leer in seiner rechten Hand, aber Jeongguk erkannte eine kleine, hohe Falte, die auf seiner Stirn lag.

„Gehen wir raus?", murmelte er ihm ins Ohr. „Zum Pool? Da draußen sind nur ein paar von Soras giggelnden Schulfreunden und wir können uns ungestört unterhalten."

Jeongguk nickte, froh, dass ihn jemand davon abhielt, Seokjin den Rest des Abends mordlustige Blicke zuzuwerfen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, schnitt Jimin in diesem Augenblick Jeongguks verhasstestes Gesprächsthema an: „Wir gehen nicht durch die Terrassentür. Dort steht Seokjin und ich wollte den Abend eigentlich unbeschadet überstehen."

Sie brachten das Tablett zurück in die Küche, wo Iseul Park, Jimins Mutter, gerade am Ofen stand und eine neue Ladung frischer Pizzaschnecken aus dem Inneren hervorholte. Jimin stibitzte sich eine Handvoll davon vom Tablett und wich dem scherzhaften Hieb seiner Mutter geübt aus.

„Park Jimin, du gierige Elster!", schimpfte sie ihn, während sie ihre Arme in die Seiten stemmte und ihn wütend anfunkelte. „Die sind noch nicht mal ausgekühlt und... oh, hallo, Jeongguk!"

Ihre miesepetrige Miene wich einem Strahlen und er beeilte sich, die kleine, dünne Frau in die Arme zu schließen. Iseul Park war unweigerlich vom Leben gezeichnet; ihre einstmals schwarze Mähne war von einzelnen grauen Strähnen durchzogen und als sie Jeongguk an sich drückte, spürte er, wie sie unter der Schürze und dem schwarzen Dienstkleid, das sie trug, nur noch aus Haut und Knochen bestand.

„Mein Lieber, dich habe ich ja seit einer Ewigkeit schon nicht mehr zu Gesicht bekommen", begann sie unmittelbar auf Koreanisch und fuhr ihm liebevoll durch das wirre Haar. Er erkannte, dass sie ihn missbilligend musterte, als sei sie mit seiner generellen Aufmachung nicht zufrieden. Vermutlich würde sie gleich wieder davon anfangen, wie dünn er war.

„Lass ihn in Ruhe, Ma", brachte Jimin sich in das Gespräch ein, während er sich eine Pizzaschnecke in den Mund steckte und geräuschvoll zu kauen begann. „Du weißt, wie viel er zu tun hat."

Sie versetzte ihm mit einem zusammengerollten Geschirrtuch einen festen Hieb gegen den Unterarm und er rutschte protestierend von der Theke hinab, auf die er sich geschwungen hatte. „Man spricht nicht mit vollem Mund, Park Jimin." Ihre gerunzelte Stirn glättete sich, als sie sich wieder Jeongguk zuwandte.

„Ach, mein Junge, ich freue mich so, dich wohlauf zu sehen."

Sie schüttelte betrübt den Kopf, während sie die Pizzaschnecken mit einem Pfannenwender vom Backpapier löste. „In letzter Zeit hört man keine guten Dinge aus der Stadt. Geschichten von Verrat, von Mord und Totschlag. Der Wind hat sich gewendet." Sie seufzte tief auf, während sie ihren sorgenvollen Blick auf Jeongguk und Jimin wandte, und auch darüber hinaus – zu Seokjin, Taehyung und ihren Schwestern, die nach wie vor in der Terrassentür standen und unbeschwert lachten. „Ein Wind, der ganz eindeutig Veränderung mit sich bringt. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob er zu unseren Gunsten wehen wird."

Während Jimin nur sehr zweifelnd schnaubte, von den unheilvollen Worten seiner Mutter offensichtlich nur bedingt beeindruckt, blickte Jeongguk sie neugierig an. „Was ist los, Mrs. Park? Hast du etwas gehört?"

Sie schüttelte sofort den Kopf. „Nichts Ernstes. Ich will nur, dass du auf dich aufpasst, okay, Jeongguk? Und auf Taehyung. Ich weiß, dass ihr da draußen in der Stadt manchmal Dinge tun müsst, die euch in Gefahr bringen und ich würde in der Nacht wirklich besser schlafen, wenn ich sicher sein kann, dass du keine Dummheiten drehst."

„Keine Sorge, Mrs. P", versicherte er ihr ernsthaft. „Ich passe immer auf."

Ein letzter sorgenvoller Blick und sie ließ von ihm ab, bevor sie sich wandte wieder kopfschüttelnd ihrer Muße zuwandte. „Ich weiß, Jeongguk. Du bist nicht Jimin."

„Hey, was soll das denn–" Ausgelöst durch seine Entrüstung schien Jimin ein Krümel in die Luftröhre geraten zu sein und Jeongguk musste ihm auf den Rücken klopfen, als er in einen heftigen Hustenanfall ausbrach. Ein schwaches Grinsen machte sich auf seinen Lippen breit; das erste, seit er Bayville Manor betreten hatte.

„Siehst du?", sagte seine Mutter trocken, ohne eine Spur besorgt zu wirken. „Genau das meine ich. Und jetzt raus aus der Küche, du stehst mir ohnehin nur im Weg herum."

Sie verscheuchte sie beide mit ihrem Geschirrtuch und Jimin zog Jeongguk an dem Ärmel seiner Lederjacke durch die angelehnte Flügeltür, die die Küche mit dem Poolbereich verband und von außen mit einer roten Samtkordel abgesperrt war, sodass keiner der Gäste aus Versehen in die Küche hineinspazierte.

Tatsächlich war es um den Pool herum so ausgestorben, wie Jimin vorausgesagt hatte. In die knöchelhohe Wiese um den gefliesten Bereich herum waren Ölfackeln gesteckt, die ihren schweren Duft gleichsam mit dem goldenen Glanz über das sich sanft kräuselnde Wasser verteilten. Ein paar Meter in ihrem Rücken begann der private Strand und dahinter der Ozean, der nun, da die Nacht sich endgültig über die Insel gesenkt hatte, nur noch als fernes, tosendes Rauschen zu vernehmen war.

Das Herrenhaus ragte nun von hinten über ihnen auf; ohne Säulengang, und ohne die Backsteinfassade, dafür aber mit gleichmäßig bemessenen Fenstern, die in den getünchten Stein eingelassen waren. Im ersten Stock brannte kein Licht hinter den Fenstern; ein Anzeichen dafür, dass alle Gäste sich im Erdgeschoss befanden.

Jimin ließ sich am tiefen Ende des Pools an den Rand sinken und krempelte kurzerhand seine Hosenbeine nach oben, während er seine Stoffschuhe von seinen Füßen kickte. Sofort kräuselten winzige Kreiswellen die andernfalls ungestörte Pooloberfläche, die von der Wand abprallten und sich gegenseitig zu stören begannen. Jeongguk ließ sich neben ihn auf den Rand sinken, strich jedoch lediglich mit seiner Hand über die Wasseroberfläche.

Eine Weile blickten sie durch die geöffnete Terrassentür auf die Welt, an der sie so nahe waren, ohne, dass sie sie jemals wirklich betreten würden. Taehyung war nicht mehr zu sehen, aber Seokjin hatte seinen Arm um Sora gelegt, die sich aus der Traube ihrer Gratulanten befreit hatte und grinsend zu ihm aufblickte.

„Wie kann jemand so... Böses nur so schön sein?", fragte Jimin verächtlich, während sie Taehyungs Cousin dabei beobachteten, wie er über irgendetwas schallend lachte und dabei seinen Kopf in den Nacken warf. Seine schimmernden Augen schienen in diesem Augenblick fast warm zu sein; als sei der lebensgebende Funken daraus noch nicht vollständig verschwunden, wie es bei adäquater Beleuchtung üblicherweise erschien.

„Warum hat Gott den Baum der Erkenntnis in den Garten Eden gestellt, wenn er nicht wollte, dass die Menschen davon essen?"

Jimin warf ihm einen schrägen Seitenblick zu. „Vergleichst du Kim Seokjin gerade mit etwas wie dem Sündenfall?"

Sein Freund war eigentlich nicht gläubig, und so war Jeongguk überrascht, wie geläufig ihm die Begrifflichkeiten trotzdem waren. Er selbst hatte sie hunderte Male gehört; vor dem Schlafengehen, als Ritual, als Mahnung oder einfach nur als Überlegung.

„Ich glaube, Kim Seokjin ist so schön, damit wir lernen, dass nicht alles Schöne gut ist", fuhr er fort. „Dass wir lernen, dass Qual und Herzlosigkeit auch von der Hand von jemanden gehen, der aussieht, als sollte er nur Heldentaten vollbringen."

Jimin grinste. „Und was ist mit Taehyung?"

„Er ist die Widergutmachung dieser... frevelhaften Theorie." Er fing den Blick seines Freundes auf und nun wollte auch ihm ein Lächeln auf die Lippen schlüpfen. So sehr er Taehyung liebte und schätzte und ehrte; Gespräche mit Jimin in aller Zweisamkeit waren immer etwas, das er ohne Hintergedanken genoss. Sein Freund war trotz niederer Schulbildung und der Tatsache, dass er für den Clan nur als Dienstbote genutzt wurde, einer der scharfsinnigsten Menschen, die er kannte – ohne dabei zu selbstsicher zu werden, wie es in solch einem Fall oft üblich gewesen wäre.

Jimin besaß die heutzutage fast ausgestorbene Tugend, entzückend zu erröten, wenn er gelobt wurde; die Fähigkeit, atemlos zu kichern, falls etwas geschah, das ihn amüsierte oder schlichtweg ungemein einnehmend auf seinen Betrachter zu wirken. Er hatte die atemberaubende Schönheit seiner Mutter geerbt, die diese schon lange an die Schwere ihres Arbeitsalltags verloren hatte und die beinharte Determination seines Vaters, der schon länger unter der Erde war, als Jimin laufen konnte.

In solch einem goldenen Licht wirkte er besonders unbegreiflich; mit seinem schwarzen, samtigen Haar, das wie flüssiges Pech im Schimmer der Fackeln flackerte, oder seinem eleganten Profil, das den Mut hatte, eine schmale Nase und plumpe Lippen zu vollendeter Perfektion zu kombinieren.

„Was ist?", fragte er defensiv, als er Jeongguks Blick bemerkte.

„Nichts", beeilte er sich zu sagen. „Du bist etwas... so Besonderes, Jiminie. Ich glaube, das ist der Grund, wieso Seokjin dich so fürchtet."

„Mich fürchtet?", lachte Jimin. „Seokjin fürchtet mich um keinen Millimeter. Er verabscheut mich nur, weil ich niederer Herkunft bin und nicht so hoch in der Achtung seines Onkels stehen sollte. Du kennst ihn doch, er ist zu allererst einmal Purist." Er schüttelte den Kopf. „Wenn er jemanden fürchtet, dann bist das du, Jeongguk. Du bist der... tapferste, gnadenloseste Mensch, den ich kenne. Du würdest die Welt zu Kleinholz verarbeiten, wenn es auch nur einen Menschen darin gäbe, der Taehyung etwas Böses wollen würde. Du bist... Determination. Die schlaffe Nudel namens Seokjin sondert Antriebslosigkeit doch nur so ab."

Seine Worte ließen Jeongguk schnaubend lachen und es half der Bitterkeit in seinem Herzen, als Jimin ihn lachend in die Seite stieß und ein paar chlordurchsetzte Tropfen dabei auf seiner Jacke landeten.

„Ich hab' dich vermisst."

Jimins Augen blitzten. „Ich war nie weg."

Am anderen Ende des Pools schienen Soras Freundinnen zu entscheiden, dass es Zeit für sie war, zu den Feierlichkeiten zurückzukehren und Jeongguk bemerkte, wie Jimin sich nachdenklich auf die Lippen biss, mit seinen Gedanken offensichtlich schon an einem anderen Ort.

„Heute ist ein besonderer Tag", sagte er dann gedankenverloren.

„Was hast du gehört?", fragte Jeongguk, der schon vor Jahren gelernt hatte, nicht um den heißen Brei herumzureden.

„Oh, Jeongguk." Erstmals wirkte Jimin wirklich sorgenvoll. „Vielleicht hat meine Mom ja Recht. Vielleicht holt uns die Vergangenheit uns wirklich ein und es gibt nichts, was wir dagegen tun können."

Er musste unweigerlich schlucken. Die Worte, die er erst heute Morgen von den zwei italienischen Mafiosi belauscht hatte, wogen schwer auf seinen Gedanken; auch, weil er wusste, dass ihre Weiterleitung etwas in Gang setzen würde, wofür er womöglich noch nicht bereit war. „Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie Recht hat, Jiminie." Er konnte nicht umhin, als dass seine Stimme düster klang und nur, weil er wusste, dass sein Freund ihn aufmerksam beobachtete, zwang er den dunklen, unheilvollen Blick aus seinen Augen.

„Ein Bote ist hierher unterwegs", antwortete Jimin langsam, als wollte er austesten, wie diese Worte klangen. „Jemand aus Seung-hee Jeongs Familie."

Jeongguk fuhr wie elektrisiert zu ihm herum. „Verarsch' mich nicht."

Jimin hob beide Hände. „Unschuldig. Ich habe den Boss mit Ahn darüber reden hören. Mehr als einmal."

„Okay, aber das muss nichts Schlechtes sein", wandte er ein. „Wenn... tatsächlich wieder eine Annäherung stattfinden könnte, dann wäre das nur gut für... den Clan."

Jimin wirkte weniger sicher. „Ich glaube, es ist besser, wenn diese Familie dem Clan fernbleibt. Sie haben Hyun-sik nie verziehen, dass er ihre wertvolle Seung-hee geheiratet und nach Amerika entführt hat. Dass sie von den Italienern getötet wurde, war die Spitze aller Kränkungen."

„Aber seitdem sind fast fünfundzwanzig Jahre vergangen. Irgendwann vergessen selbst stolze, gekränkte Familien ihren Groll."

„Die Jeongs... sind anders", sinnierte Jimin. „Wir können das nicht in unseren amerikanisch-koreanischen Maßstäben messen. Das ist eine unglaublich mächtige Familie, die ihren hohen Status seit Joseon-Zeiten innehat. Die vergeben und vergessen gar nichts. Ich glaube, wirkliche Wut hat unendlich tiefe Wurzeln."

„Aber was können sie von Hyun-sik wollen? Den Krieg werden sie ihm nach all der Zeit wohl auch nicht mehr erklären."

Jimin zuckte nur mit den Schultern. „Wir werden es herausfinden."

„Was für ein Zufall, dass der gesamte Clan gerade heute hier versammelt ist, wenn diese so weltverändernde Nachricht eintrifft."

Sein Freund ließ ein feines Lächeln sehen. „Glaubst du wirklich, dass das Zufall ist?"

Sie verfielen in Schweigen, und Jeongguk pflügte mit seiner Hand weiter über die Wasseroberfläche, sodass die Tröpfchen über die unruhigen Wellen hüpften und auf Jimins Hose landeten. „Hey, hör auf", schnaubte er. „Ich muss gleich zurück zu meinen Pflichten." Er warf einen Blick auf sein Handydisplay, das er unter einer Verrenkung aus seiner Hosentasche befreit hatte. „Okay, streich das, ich muss sofort zurück."

Er kam geschickt auf die Beine und wuschelte Jeongguk zum Abschied durch das Haar, der sich nur schwach wehrte. Keine Sekunde später hatte er den Poolbereich durchquert und schlüpfte unter der Samtkordel zurück in die Küche. Jeongguk beobachtete, wie er seiner Mutter ein zweites Mal zwei Pizzaschnecken vom Tablett stahl, ehe er in seine Schuhe zurückschlüpfte und außerhalb seines Blickfelds verschwand.

Wie jedes Mal, wenn er mit Jimin gesprochen hatte, wurde er einer inhärenten Traurigkeit zum Opfer; einer Schwermut, die ihn daran erinnerte, wie... verschwendet sein älterer Freund an dieses Dienstbotenleben war.

Jimins Vater war das für Hyun-sik gewesen, das Jeongguk nun für Taehyung war. Ein Leibwächter, ein Beschützer, ein Berater und... bester Freund. In der kolumbianischen Mafia nannte man solch einen Posten „Sicario" und weil es in der koreanischen Struktur kein Äquivalent dazu gab, hatte Jeongguk die Begrifflichkeit einfach übernommen. Jimins Vater hatte sein Leben für Hyun-sik gegeben und aus tiefer Dankbarkeit für sein Opfer hatte Taehyungs Vater seine verwitwete Frau und ihren neugeborenen Sohn im Schutz des Clans aufgenommen, wobei er sichergegangen war, dass sie immer über ihre Maße hinausleben konnten.

Erst, als Jeongguk dem gedankenlosen Spiel seiner Hand mit der Pooloberfläche müde wurde, bemerkte er, dass Licht hinter einem der Fenster im zweiten Stock brannte; genauer gesagt in Taehyungs altem Zimmer und als er eine Bewegung der dunklen Gardinen sah, wurde ihm bewusst, dass sein bester Freund dem Zimmer seiner Kindheit wohl einen Besuch abgestattet haben musste. Er beeilte sich, auf die Beine zu kommen und zu seiner großen Erleichterung schien der Weg durch die Terrassentür nun feuerfrei zu sein, denn weder von Seokjin noch von seiner Schwester oder Cousine war noch eine Spur und er glaubte schon, dem Minenfeld entkommen zu sein, als sich auf halben Weg zum Treppenaufgang zwei kleine, warme Hände über seine Augen legten und eine glockenhelle mit leichten Neuenglandakzent trällerte: „Rate wer!"

Er musste lächeln. „Prinzessin Buttercup."

Das schien die richtige Antwort zu sein, denn die zwei Hände lösten sich von seinen Augen und er wandte sich um, nur, dass Sora Kim ihm unter einem freudigen Aufschrei in die Arme sprang. „Wesley, mein Stallbursche, du bist gekommen!"

Es war ein altes Spiel zwischen ihnen, sich nach Charakteren aus ikonischen Filmen aus den Achtzigern zu benennen; und seit Jeongguk ihr „Die Braut des Prinzen" vor ungefähr einem Jahr gezeigt hatte, zählte die bissige Prinzessin zu ihren absoluten Lieblingen.

„Natürlich bin ich hier", entrüstete er sich scherzhaft. „Glaubst du wirklich, dass ich deinen achtzehnten Geburtstag verpassen würde?"

Sie vergrub das Gesicht in den Händen und kreischte frustriert auf. „Wenn alle nur aufhören könnten zu betonen, dass ich jetzt achtzehn bin und volljährig und Trägerin einer ganz neuen Art der Verantwortung. Ich bin achtzehn! Der beste Teil meines Lebens ist schon verstrichen, und was habe ich geleistet? Absolut gar nichts." Sie begann, sich mit ihrer flachen Hand zuzufächeln. „Tschuldige. Akuter Fall von Torschlusspanik."

Jeongguk betrachtete sie grinsend. Wenn er eines in der Zeit gelernt hatte, die sie in einem Leben war, dann war es, dass Sora mehr Melodramatik in ihrem kleinen Finger trug, als sämtlicher Sechziger-Jahre-Diven in ihrem gesamten Körper.

„Hey, Prinzessin, keine Panik." Er strich ihr liebevoll eine lose Strähne zurück, die sich aus ihrer süßen Aufsteckfrisur gelöst hatte und sie blickte mit großen, treuherzigen Augen zu ihm auf, während sie sich an seinen Armen schwer machte, als sei sie wieder zehn Jahre und in einer latenten Trotzphase gefangen. „Na, und? Dann bist du halt achtzehn. Und in einer Parallelwelt, in der man die Zeit mit einer riesigen Sanduhr misst, bist du gerade mal... elf oder so. Wer hat überhaupt entschieden, dass achtzehn solch eine wichtige Schwelle im Leben ist? Es ist nur eine dumme Konvention, Sora."

Sie schien nicht überzeugt. „Aber... aber ich bin jetzt für mich selbst verantwortlich. Ich bin nicht bereit dafür."

„Niemand erwartet, dass du von heute auf morgen einen Rechtsstaat führst", grinste er. „Kleine Schritte, Prinzessin. Zuerst lernst du deine Sozialversicherungsnummer, dann kannst du selbst ein Konto eröffnen und bevor du es dich versiehst, wirst du selbst beim Arzt anrufen, um einen Termin zu vereinbaren."

„Oh, mein Freund, das wird nie passieren", antwortete sie kategorisch und schmiegte sich an ihn wie eine angstvolle Katze. „Ich sollte einfach abhauen und Einsiedlerin werden."

„Schreib mir eine Postkarte." Er tauchte unter ihren Armen hinweg zu der Papprolle, die nach wie vor an der Vertäfelung lehnte, und in der er in einem traurigen Versuch an Ästhetik eine zerknickte Schleife angebracht hatte.

Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie die Papprolle in seiner Hand erkannte. „Oh, mein Gott, Gukkie. Für mich?"

„Stell dir vor, Sora. Oder kennst du hier noch ein anderes Geburtstagskind?"

Der Sarkasmus war an ihr verloren, denn sie riss sich bereits mit ihren Fingernägeln durch den Plastikdeckel, der die Papprolle versiegelt hatte. Als sie die Rolle schüttelte und das zusammengerollte Poster darin zum Vorschein kam, hielt sie ehrfürchtig den Atem an.

Er beobachtete, wie ihr Gesicht einen ungläubigen Ausdruck annahm, während ihre Augen auf das Poster fielen. „Ist das... originalsigniert?"

„Yep." Er war durch Zufall in einem Schaufenster eines Buchladens für antiquierte Gegenstände darüber gestolpert, als er einen durchgebrannten Runner verfolgt hatte. „Ich habe es in ‚The Strand' gefunden, anscheinend stammt es aus der Kollektiv eines alten Fritz-Lang-Enthusiasten, der kürzlich verstorben ist. Und weil ich genau weiß, wie sehr du Metropolis liebst, dachte ich–"

Der Rest seiner Worte ging in dem überraschten Keuchen unter, als Sora sich mit ihrem gesamten Fliegengewicht auf ihn stürzte, und ihre Arme so fest um ihn schlang, dass ihm die Luft wegblieb. „Jeongguk, es ist so wundervoll, du bist der aufmerksamste Mensch aller Zeiten, ich hab' dich so lieb, ichgehenachFrankreichumFilmzustudieren."

Er löste sich von ihr und starrte sie perplex an. „Wie bitte?"

„Ich hab' dich lieb."

„Nein, das danach."

Sie begann, frenetisch an ihren Rüschen herumzuzupfen. „Filmakademie in Paris. Ich hab' sogar schon einen Platz in einer Wohngemeinschaft."

„Sora!", rief er und sie zuckte ängstlich zusammen. „Das ist... so wunderbar. Ich freue mich so für dich."

Tatsächlich spürte er nichts als tiefe Erleichterung durch seine Adern strömen. Sie war immer schon diejenige der jüngsten Generation gewesen, die sich nicht im Ansatz für die Macht interessiert hatte, die von ihren Vätern ausging – diejenige, die ihren Kopf andauernd in den Wolken getragen hatte, sich in Drehbüchern und Schwarz-Weiß-Klassikern verlor, anstatt dem unterschwelligen Krieg ihrer Geschwister beizuwohnen.

Es erleichterte ihn zutiefst, dass sie entschieden hatte, diesem Leben, diesem bösen und verdorbenen Geschäft, den Rücken zuzukehren, um für das einzustehen, dass sie wirklich glücklich machte.

„Wahrer Mut, Sora", murmelte er ihr zu, während sie ihn mit bebender Unterlippe ansah, als könnte er alleine ihre zerrissene Seele wieder zusammenflicken, „besteht darin, für das einzustehen, woran man glaubt."

Sie blieb ihm eine Antwort schuldig, als sie ihre Arme ein erneutes Mal um ihn schlang und ihn an sich drückte, als hieße es, Abschied zu nehmen. Dann löste sie sich von ihm, und er erkannte, dass ihre Augen in perlmuttfarbenen Tränen schwammen. „Danke, Jeonggukkie. Ich... bring das Poster mal in Sicherheit, bevor es Schaden nimmt."

Ihre Essenz hatte sich noch nicht einmal verflüchtigt, als Jeongguk jemanden auf ihn zukommen sah, der sein Herz sinken ließ. Seokjins schwarze Augen bohrten sich erbarmungslos in seine; während er die Eingangshalle durchquerte, um zu ihm aufzuschließen und Jeongguk widerstand dem Drang, gegen den Notknopf zu seiner Rechten zu schlagen und sich im Chaos des Feueralarms aus dem Staub zu machen. Zumindest schien Seokjin alleine zu sein, was ihm den törichten Gedanken einbrachte, dass er der Situation vielleicht doch gewachsen war.

„Jeon", sagte Seokjin mit Sanftmut in der Stimme, der ihn ungefährlich so gut kleidete wie ein Häkelkleid eine Kobra. „Lang nicht gesehen."

Er antwortete nicht, sondern zählte langsam von dreißig rückwärts. Seokjin schien seine Stummheit nichts auszumachen und er fuhr fort: „Viel zu tun, nicht wahr? Die Domäne hält sich ja nicht von selbst sauber."

Es war eine alte Schmähung, dass Seokjin mit ihm immer nur auf Englisch sprach, während er seine Geschwister und Cousins auf Koreanisch adressierte. Jeongguk wusste, dass er damit ein krummes Spiel trieb; eine Art der Entsagung dessen, dass Jeongguk trotz seiner niederen Abstammung dieselbe Herkunft und Muttersprache besaß. Mit Jimin machte er es genauso.

Seokjin sprach weiter, aber das einzige, das Jeongguk hörte, war ein undeutliches Rauschen, aus dem alle paar Sekunden ein Wort schärfer herausstand. Meistens war es ‚Taehyung'.

Reiß dich zusammen, Jeongguk, zischte sein Unterbewusstsein ihn an. Willst du ihn weiter wie eine ausgestopfte Kuh anglotzen, oder langsam mal eine Konter loswerden?

Aber anstatt, dass er langsam wieder an die Oberfläche zurückkehrte, spürte er, wie er immer weiter abtrieb – als sei er in den Ozean gefallen und die Wellen drücken ihn erbarmungslos gegen den Grund des Meeres.

Er begegnete Seokjin niemals mit Freuden, aber diese heftige Reaktion der absoluten Gelähmtheit war neuartig. Er fühlte sich schrecklich hilflos, wie er Seokjins säuselnde, hypnotisierende Stimme am Rande seines Bewusstseins aufflackern hörte.

Als seine Sicht verschwamm, wäre er beinahe zusammengezuckt. Aus den undeutlichen Lichtschlieren seiner verlaufenden Selbstbeherrschung wuchs die Stadt, die er das letzte Mal über seine Schulter gesehen hatte, als er ihr im Alter von dreizehn Jahren in determinierter Endgültigkeit den Rücken zugewandt hatte.

Sie hatte sich kein Stückchen verändert; wie es einer Gedankenstadt nun einmal inhärent war – und das weiße Licht der Sonne, die er noch niemals als Scheibe auf dem Himmel gesehen hatte, glomm über den Dächern hervor, sodass er seine Hand geblendet über die Augen legen musste, während der Duft der weiten Wiese vor der Stadtmauer ihn jäh umfloss. Es war leise vor den Wällen der Stadt, die bisher jedem Angriff stattgehalten hatten, aber in der Ferne hörte er das hellen Lachen zweier Kinder, die offensichtlich atemlos durch die Straßen rannten und er bemerkte, wie der Wind ihre Stimmen zu ihm herantrug.

Warte auf mich, Jeongguk!", rief ein Taehyung aus der Ferne, den er nicht sehen konnte, wohl selbst nicht älter als elf. „Du bist zu schnell für mich."

Plötzlich stand er mitten in der Stadt; auf einem weiten Platz, der auf allen vier Seiten von hohen Wänden begrenzt war. Die Sonne schien nun unmittelbar auf ihn, sodass er selbst auf den weißen Pflasterstein keine Schatten warf.

Taehyung stand vor ihm; kaum sieben Jahre alt, aber seine braunen Augen bohrten sich unverändert forschend in seine. „Jeongguk?", fragte er.

Er kniete sich vorsichtig zu ihm herab, sodass der siebenjährige Taehyung seinen Kopf nicht in den Nacken legen musste. Die jüngere Version seines besten Freundes streckte seine Hand nach ihm aus und legte sie ihm auf die Stirn, genauso, wie er es in verschütteter Erinnerung. „Wieso hast du mir nie davon erzählt, Jeongguk?", fragte er dann traurig, während seine warme Hand auf seine Stirn lag, als wollte er ihm seine Zukunft voraussagen. „Was Seokjin dir angetan hat. Was... mein Clan... meine Familie dir angetan hat."

Ich wollte... dich nicht unglücklich machen", sagte er wahrheitsgemäß. „Ich wollte keinen Keil zwischen dich und deine Familie treiben. Meine Wunden heilen, Taehyung. Aber für dich... ist es das wichtigste, das du deinem Clan vertrauen kannst."

Wieso bist du wieder hier, Jeongguk?", fragte Taehyung schließlich traurig. „Bist du die Dunkelheit nicht losgeworden?"

Sein Gesicht verlief vor seinem Auge, Konturen und Farbgebung wichen dem Licht, das die Sonne über ihre Stadt verteilte, lösten sich auch in der immateriellen Bedeutung dessen, das Jeongguk noch nicht lesen konnte.

Es dauerte nur zwei weitere Atemzüge und er befand sich mit jeder Faser seines Daseins wieder in der Eingangshalle; ihm gegenüber Seokjin, der ihn mit schiefgelegten Kopf und offensichtlicher Verwirrung musterte. „Alles klar bei dir, Jeon? Du wirktest für einen Augenblick irgendwie... weggetreten."

Die Wut toste noch immer gegen die Unterseite seiner Haut und flehte ihn an, etwas gegen Seokjins spöttisches Grinsen zu unternehmen, gegen die Beiläufigkeit, mit der er Jeongguk musterte.

„Du hast keine Macht über mich, Seokjin", sagte er plötzlich und auf das Gesicht seines Gegenübers trat ein Ausdruck der bodenlosen Überraschung. „Du glaubst, dass deine kleinen Intrigen gegen Taehyung und mich verborgen bleiben, aber du bist nicht halb so gerissen, wie du glaubst."

„Wovon sprichst du?" Seokjin klang verächtlich, aber Jeongguk erkannte, wie ein rötlicher Schimmer sich auf seinen Wangen breitmachte; so, als habe er nicht erwartet, dass ihm ausgerechnet von Jeongguk solche Worte der Voraussicht entgegenschlagen würden. „Als ob ich jemals gegen jemanden intrigieren würde, der aus meinem Clan stammt. Blut ist immer noch dicker als Wasser, Jeon. Das sollte dir vielleicht noch mal jemand anhand einer kleinen Demonstration begreiflich machen."

Die unterschwellige Drohung war so offensichtlich, dass Jeongguks Herz nur schwach in seiner Brust zu stolpern begann. Doch bevor er Seokjin eine erneute Antwort liefern konnte, hatte dieser sich auf der Stelle umgewandt und war im Gewühl der Eingangshalle verschwunden.

Jeongguk gab sich keiner Illusion hin. Er wusste genau, dass er Seokjin nur in die Flucht geschlagen hatte, weil dieser von seiner plötzlichen Offensive so überrascht war, dass er ihn auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Dennoch konnte er nicht anders, als tiefe Zufriedenheit durch seine Adern pulsieren zu spüren und er versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, dass der Ältere zweifellos bald zurück sein würde, nachdem er seine Wunden geleckt hatte.

Erst, als er unter der Absperrung hindurch zum Treppenaufgang in den zweiten Stock geschlüpft war, wurde ihm mit voller Endgültigkeit bewusst, was gerade geschehen war.

Er hatte Slowtown schon so lange nicht mehr betreten, dass er beinahe vergessen hatte, wie imposant und beschützend die Stadt über ihm aufragen konnte. Es nahm ihm den Atem zu wissen, dass er tatsächlich in den Ort zurückgekehrt war, den Taehyung vor dreizehn Jahren in der kleinen, lichtlosen Wohnung in Brooklyn für ihn erschaffen hatte.

Er eilte die Treppen empor; ließ den ersten Stock, der in vollkommener Dunkelheit dalag, hinter sich zurück, bevor er schließlich den Treppenabsatz der Etage erreichte, in der Taehyungs Zimmer lag. Selbst in der vollkommenen Dunkelheit konnte er sich durch den Flur tasten, an der Büste von Botticelli vorbei, die ihm schon als Kind Angst eingejagt hatte – und er spürte die Kühle der Türklinke gegen seine Hand, ehe er sie vorsichtig herunterdrückte.

Ein goldener Lichtbogen fiel auf ihn, als er die Tür aufzog. Taehyung stand an seinem Schreibtisch und blätterte durch ein Buch, das obenauf lag – aber er wandte sich sofort in Richtung Zimmereingang um, als er das schleifende Geräusch der Tür über den Boden hörte.

Er trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich, während Taehyung vom Schreibtisch abließ und ihm ein schmales, müdes Lächeln schenkte.

„Woher weißt du das ich hier bin?"

„Ich hab' vom Pool aus Licht gesehen. Und der Vorhang hat sich bewegt."

Taehyung nickte langsam, als hätte er nichts anderes erwartet, und er warf sich auf das Bett, das trotz der Unbewohntheit des Zimmers nach wie vor mit einer schweren Überdecke bezogen war. Allgemein schien das Zimmer sich seit Taehyungs Auszug vor inzwischen drei Jahren kaum verändert zu haben. Jeongguk erkannte keinen Unterschied in den Möbeln, die hier gestanden hatten, als sie beide noch Kinder gewesen waren, und die dutzenden Lampen, die ihr goldenes Licht gleichmäßig über Taehyungs Habseligkeiten verteilten, leuchteten unvermindert. Da das Zimmer unter einer Dachschräge verlief und zur Seite in eine Gaube ausuferte, war die schräge Wand schon bald zu einem Hort all der Erinnerung, als der Persönlichkeiten geworden, die Taehyung als wertvoll empfand.

Eine Reihe von Postern zog sich über die Schräge, die Weltausstellungen aus den Neunzehnzwanzigern bewarben, und dazwischen die Fetzen der Erinnerung einer gesamten Kindheit; Theaterkarten, Flugtickets, Aufkleber, akademische Errungenschaften und natürlich, vorrangig, Fotos. Obwohl Jeongguk nie ein Teil dieser Familie gewesen war, so war sein Wirken in Taehyungs Leben dennoch unleugbar. Er sah sich hunderte Male wieder – immer und immer an Taehyungs Seite – und er fragte sich plötzlich, mit wie viel Glück er in seinem Leben gesegnet worden war, um solch eine Freundschaft erleben zu dürfen.

Er merkte, dass Taehyung ihn dabei beobachtete, wie er seinen Blick über die alten Fotos schweifen ließ und er drehte sich grinsend zu ihm um, seine Finger auf einer fast verblichenen Fotografie, die Jeongguk und Taehyung Arm in Arm zeigte; kaum zwei Jahre älter als sie bei Begründung ihrer Stadt gewesen waren. „Erinnerst du dich noch daran?", fragte er grinsend. „Wir waren am Meer, hier, hinterm Haus. Areum hatte dir am Abend davor ‚Der Weiße Hai' gezeigt und plötzlich warst du der festen Meinung, dass wir beide gefressen werden würden, wenn wir auch nur einen Fuß in den Ozean setzen."

„Kommt mir vage bekannt vor", erwiderte Taehyung mit einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. „Hast du mir nicht gesagt, dass wir nur langsam genug schwimmen müssen, damit der Hai uns nicht bemerkt?"

„Die Idee stammt von dir." Jeongguk strich ein letztes Mal über die beiden hoffnungsfrohen, strahlenden Gesichter, während er sich Taehyung zuwandte, der auf dem Bett saß und ihn anblickte. „Und aus Slowtown."

Die Zeit, in der das Foto aufgenommen worden war, markierte wohl den ungefähren Wendepunkt seiner Kindheit; als Kim Hyun-sik bemerkt hatte, dass sein ältester Sohn die Freundschaft eines verwahrlosten Jungen, dessen Mutter für seinen Clan arbeitete, gewonnen hatte. Er erinnerte sich noch genau an den Augenblick, als anstatt Taehyung zwei schwarz gekleidete Männer, die er nicht kannte, auf der Türschwelle gestanden hatten. Sie hatten ihn ohne Mitleid gepackt und vor die Tür geschleift, während er sich verzweifelt gegen sie gewehrt hatte. Die Fahrt nach Bayville auf der Rückbank eines schwarzen SUVs war ihm damals vorgekommen, wie das Ende seines kleinen Lebens.

Es war das erste Mal gewesen, dass er Taehyungs Vater gesehen hatte. In seiner Erinnerung wirkte Hyun-sik genau wie jetzt; streng, wortkarg und kalkulierend; so, als hätte er Jeongguks Leben abgewogen und wäre abschließend zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.

Er war von den beiden Handlangern in den Salon geschleift worden, in dem seine Mutter bereits mit angstvoll geweiteten Augen auf ihn gewartet hatte. Sie war in dasselbe Dienstkleid gekleidet, das Iseul nun trug, und hatte ihren Kopf zu Boden gewandt, während sie stumm versucht hatte, ihre Tränen zu unterdrücken.

Als Hyun-sik den Mund geöffnet hatte, war jedoch keine Verfluchung, Drohung oder Verdammnis hervorgekommen, vielmehr hatte er ihn mit ruhiger, nicht unhöflicher Stimme auf Koreanisch gefragt: „Dein Name ist Jeongguk, nicht wahr?"

Noch ehe Jeongguk auch nur hätte nicken können, hatte sich plötzlich eine kleine Gestalt aus dem Treppenaufgang gelöst und war an seinem Vater vorbeigerannt, um seine Arme in stummer Panik um Jeongguks Körper zu schlingen.

Taehyung schrie und tobte, verfluchte seinen Vater in hunderten Variationen und allen Sprachen, die er kannte, sollte er es wagen, auch nur zu erwägen, ihm Jeongguk zu entreißen. Hyun-sik hatte seine Hand erhoben, um Taehyungs zügelloses Mundwerk zu züchtigen – er schien dies nicht oft zu tun, denn Taehyung erstarrte wie gelähmt auf der Stelle; doch ehe die ausgestreckte Hand seines Vaters ihn treffen konnte, hatte Jeongguk sich mit einem Aufschrei vor ihn geworfen, um den Schlag abzufangen.

Durch Hyun-siks Augen waren in diesem Sekundenbruchteil mehr Emotionen gezuckt, als Jeongguk in der Spanne seines bisherigen Lebens gesehen hatte. Da war Wut in seinem Blick, Überraschung, mildes Erstaunen und, tief vergraben und fast kaum stark genug, um an die Oberfläche zu wogen; Rührung. Er hatte lange nicht verstanden, was Hyun-sik in diesem Augenblick dazu bewogen hatte, seine Hand zurückzuziehen und die beiden tief gedankenverloren zu mustern, als sähe er durch sie hindurch wie durch ein Fenster in ein verlorenes Geschehen.

Erst später, als er Jimin kennengelernt hatte, und von ihm die Geschichte seines Vaters erfahren hatte, war ihm bewusstgeworden, dass Hyun-sik sich an seine eigene, tiefe Freundschaft mit Jimins Vater erinnert gefühlt hatte – die darin geendet war, dass dieser sein Leben für ihn gegeben hatte.

Es war kristallklar, dass Hyun-sik für seinen Sohn, der eines Tages den Clan übernehmen würde, solch eine tiefe Freundschaft, eine derart selbstlose Verbindung vorsah und so kam es, dass Jeongguk und Taehyungs Freundschaft kein Riegel vorgeschoben wurde. Dass es zumindest im Clan keine Macht mehr geben würde, die sie auseinanderzwang.

„Woran denkst du?", fragte Taehyung ihn, während er vom Bett aufstand, die Vorhänge zurückschob und das Fenster öffnete. Unmittelbar legte sich das Rauschen des Meeres auf ihr Schweigen und Jeongguk löste sich von der Wand, um zu Taehyung aufzuschließen, der am Fenster stand und über den Ozean hinausblickte.

„An uns."

Taehyung hob überrascht seinen Blick und Jeongguk bemerkte, dass seine Finger sich einen Sekundenbruchteil fest um das Geländer schlangen, als versuchte er, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. „An uns? An was genau?"

Er zuckte mit den Schultern, plötzlich von den Worten verlassen. „Ich... weiß nicht. Vielleicht daran, wie viel Zeit verstrichen ist, seitdem diese Fotos aufgenommen wurden. Vielleicht an... Slowtown."

Jeongguk lehnte sich an das Geländer und Taehyung tat es ihm gleich. Während sein bester Freund auf das Meer hinausblickte, betrachtete Jeongguk ihn – seine seidigen Haare, die sein Gesicht umrahmten und sowohl das Gold der Zimmerbeleuchtung wie das Silber des Mondes aufsaugten und gleißend wiedergaben. Er war so schön, dass Jeongguks Herz sich vor Sehnsucht zusammenziehen wollte; vor anhaltender Ehrfurcht und pochender, brennender stummer Bewunderung. All die Stränge seines Lebens führten immer wieder zu Taehyung zurück; so, als trüge einzig er den roten Faden in der Hand, den Jeongguk benötigte, um aus dem Labyrinth zu finden.

„Wieso bist du eigentlich hier oben?", fragte Jeongguk.

„Ich hab' mit meinem Vater gesprochen."

„Oh." Das klang fürwahr nicht gut. Erst jetzt fiel Jeongguk auf, dass Taehyung ungemein wütend wirkte und dass er rachsüchtige Blicke auf die Partygesellschaft um den Pool herum feuerte, als hätten sie ihm irgendetwas zuleide getan. „Und?"

„Er hat soeben das Ende meines Lebens besiegelt. Will mir eine... Frau suchen." Es erschien ihm, als bereitete der bloße Gedanke Taehyung Übelkeit, denn er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und wich seinem Blick auf. „Er sagt, ich sei alt genug."

Jeongguk spürte, wie eine nie dagewesene Angst von ihm Besitz ergriff, die er nicht in Worte fassen konnte. Sein Puls jagte in die Höhe, während er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte nie daran gedacht, dass diese Freundschaft, die er mit Taehyung hatte, diesen Anspruchauf ihn, irgendwann ein Ende finden würde, aber jetzt, da die Möglichkeit im Raum stand, raubte es ihm beinahe den Verstand.

Es kostete ihn unendlich viel Überwindung, den Mund zu öffnen, und ihm so beruhigend wie möglich zu antworten: „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, Tae."

Doch Taehyung starrte ihn nur an, ein verratener Ausdruck in seinen Augen; und etwas viel mehr Verschüttetes, das er nicht im Ansatz zu lesen vermochte. Er gab ein ungläubiges Schnauben von sich und wandte sich ab. „Ich will nicht heiraten, Jeongguk. Ich sehe genau, wie unglücklich die Ehe zwischen meinen Eltern ist und bevor ich mir so etwas antue, spring ich mit einem Stein am Fußgelenk in den Ozean."

„Du hast immer... die Chance, es besser zu machen, als deine Eltern."

„Nicht mit einer Kandidatin, die mein Vater mir vorsetzt, dann nicht."

Darauf wusste Jeongguk keine Antwort und er sah hilflos zu, wie der sich anbahnende Sturm in Taehyungs Augen weiter anschwoll, als er sein Gesicht von ihm abwandte und mit den Fingern über das Geländer des kleinen unbedachten Vorsprungs strich, der sich nicht einmal als Balkon bezeichnen ließ.

Über das ferne Rauschen des Meeres und den fast unhörbaren Gesprächsfetzen, die vom Pool zu ihnen aufstiegen, erklang plötzlich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters, nur ein Stockwerk unter ihnen und zwei Fenster zur Seite.

„Ist das...?", fragte Jeongguk, aber Taehyung legte seinen Finger auf die Lippen und lehnte sich weiter in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„...das Arbeitszimmer von meinem Vater", sagte er dann leise. Tatsächlich war hinter dem geöffneten Fenster ebenfalls das Licht eingeschaltet worden und Jeongguk hörte, wie jemand die Vorhänge zuzog, was die Stimme, die nun erhoben wurde, jedoch nicht davon abhielt, zu ihnen nach oben zu dringen.

„...die Reise angenehm?" Es war Ahn Jong-suk, Hyun-siks vertrautester Berater, der offensichtlich in der Nähe des Fensters stand und mit jemanden sprach, der weiter im Raum stand.

„Ereignislos", antwortete die angesprochene Person auf Koreanisch; eine Stimme, die Jeongguk nicht kannte und auch Taehyung zuckte mit beiden Schultern, während er sich gegen den Rahmen des Fensters lehnte. „Vielen Dank für den Fahrer, den Sie geschickt haben, Hyun-sik."

„Nichts zu danken", antwortete Taehyungs Vater mit der gewohnten Kühle in der Stimme. „Auch, wenn wir Ihren Besuch nicht erwartet haben."

„Ich weiß, ich weiß", sagte der Fremde entschuldigend. „All das ist so kurzfristig geschehen und ich musste die Stadt fluchtartig verlassen."

„Wieso das?", fragte Samuel Kim, ein Rechtsanwalt, der schon länger in Hyun-siks Diensten war, als Jeongguk denken konnte. Neben Ahn Jong-suk und seinem Bruder Hyun-soo war Samuel derjenige, dem das Oberhaupt des Bayville-Kartells das größte Vertrauen entgegenbrachte. „Sind Sie nicht von Jeong Seung-han nach Bayville geschickt worden, um uns eine Nachricht zu überbringen?"

„Nicht auf seinen ausdrücklichen Befehl, nein."

Dies schien eine Welle der Überraschung bei Hyun-suk und seinen Beratern loszutreten. „Sie sind also auf eigene Faust hier?", wollte Hyun-soo nun wissen, der in der gesamten Konversation bisher nur eine schweigende Rolle innegehabt hatte.

„Nun, so kann man das auch ausdrücken", sagte der Fremde. „Ich bin mit einer Warnung hierhergekommen. Anders als der Großteil meiner Familie hege ich keinen Groll gegen das Kartell."

„Einer Warnung?", fragte Ahn scharf, während die Vorhänge unruhig raschelten, als lehnte er sich näher an das Fenster.

„Es geht um Seung-hee, die Schwester meines Vaters und Ihre... erste Frau, die zu Beginn der Neunziger von der Cosa Nostra getötet wurde."

„Ich weiß, wer Seung-hee ist", entgegnete Hyun-sik kalt und oben auf dem Balkon wechselten Taehyung und Jeongguk einen raschen Blick. Es kam nur einmal alle Jubeljahre vor, dass Taehyungs Vater den Namen seiner ersten Frau in den Mund nahm; üblicherweise wurde alles, das mit ihr zu tun hatte, in ein erstickendes Tuch des Schweigens gehüllt. „Was ist mit ihr?"

„Vor kaum zwei Wochen ist meine Tante überraschend an einem Herzschlag gestorben", sagte der Fremde, der sich von dem scharfen, brüsken Tonfall des Kartell-Oberhaupts nicht beirren ließ. „Sie war keine Blutverwandte; und hat den Jeong-Namen nur durch Heirat erlangt. Wie sich das so gehört, haben mein Vater und ich ihre Hinterlassenschaften nach einem Testament durchsucht und sind dabei auf etwas gestoßen, dass uns beide höchst alarmiert hat. Es erscheint so, als habe sie fernab unser aller Augen einen Jungen aufgezogen, der nicht ihr eigener war; den sie vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren, zu dem Zeitpunkt, an dem Seung-hee gestorben ist, aufgenommen hat und seitdem behütet aufzog."

„Ein Findelkind, zweifellos", warf Hyun-soo ein. „Ein Jeong?"

„Ja und nein", antwortete der Fremde. „Ein Jeong nur in der Theorie, denn unsere Nachforschungen haben weiterhin ergeben, dass dieser Junge wohl Sohn von Jeong Seung-hee sein muss. In der Geburtsurkunde, die zwar professionell gefälscht, aber dennoch in einer Hinsicht sehr ergiebig war, steht ein Datum, das auf denselben Tag fällt wie Seung-hees Todesdatum."

Taehyung schien etwas zu dämmern, noch ehe unten im Arbeitszimmer diesem Verdacht Luft machte, denn etwas glomm in seinen Augen auf, das Jeongguk nicht einordnen konnte.

„Seung-hee war mit Ihrem ungeborenen Sohn schwanger, als sie starb, nicht wahr, Hyun-sik?"

Es erfolgte lange keine Antwort, nur das Rascheln des Vorhangs am Fenster. Dann: „Ja. Wir hielten es für das Beste, nach ihrem Tod nichts davon an ihre Familie zu tragen, um den Verlust nicht noch schmerzhafter zu gestalten."

„Ihr Sohn ist am Leben, Hyun-sik", sagte der Fremde. „Er hat den Anschlag überlebt und ist bei meiner Tante aufgewachsen, die ihm sein gesamtes Leben nur eine Wahrheit verkündet hat; dass in New York City ein unbezwingbares Kartell herrscht, auf dessen Führung er einen Anspruch hat. Den Anspruch als ältester, legitimer Sohn seines derzeitigen Oberhaupts. Sie waren mit Seung-hee verheiratet, als Ihr Sohn zur Welt kam. Nach all den Gesetzen, die der Clan in Ehren hält, hat dieser junge Mann, wo auch immer er nun sein möge, ein Anrecht auf die Führung des Clans."

Das Schweigen war bleiern und wog schwer auf den Beteiligten und Taehyung wich Jeongguks Blick aus, als dieser ihn mit schreckgeweiteten Augen fixierte. Als Hyun-sik das nächste Mal das Wort ergriff, schien selbst der Ozean zu verharren, um ihm atemlos zuzuhören. „Ich habe bereits einen Erben. Mein ältester Sohn wird nach meinem Rückzug den Clan übernehmen."

„Natürlich." Der Fremde klang so, als habe er keine andere Antwort erwartet. „Aber Sie müssen wissen, irgendwo dort draußen gibt es einen jungen, vermutlich wütenden, zielstrebigen jungen Mann, dem seit seiner Geburt vorgesagt wurde, er sei mündig für ein Königreich nur so knapp außerhalb seiner Reichweite. Früher oder später wird zu euch kommen und seinen Platz einfordern. Seid bereit, wenn es so weit kommt."

Auf diese Worte folgte eine lange Stille, die lediglich von dem fernen Gelächter um den Pool herum durchbrochen wurde. Taehyung sagte kein Wort, während Jeongguks Gedanken wie wild in seinem Kopf zu kreisen begannen; mit jeder Sekunde, die er wortlos auf seinen besten Freund starrte, nahmen sie an Schwere zu, bis die Sorge gegen seinen Brustkorb zu hämmern begann.

„Vielen Dank für Ihren Besuch, Mr... ähm...", begann Samuel und der Fremde beeilte sich, die Stille zu durchbrechen.

„Hoseok. Jeong Hoseok."

„Wir sind Ihnen und Ihrem Vater zu ewigen Dank verpflichtet. Das Kartell wird nicht vergessen, was Sie für uns getan haben", brachte sich nun auch Ahn Jong-suk ein, der währenddessen vom Fenster wegtrat. Jeongguk hörte, wie seine Stimme graduell leiser wurde. Keine Sekunde später donnerte das Fenster zurück in den Rahmen und Jeongguk bildete sich ein, dass aus dem Stockwerk unter ihnen das Geräusch von quietschenden Stühlen auf dem Boden zu hören war.

Taehyung sagte nach wie vor kein Wort, und Jeongguk spürte, wie die brennende Sorge in ihm aufwallen wollte. Sein Gesicht war wie aus Stein und Jeongguk hatte seine Augen niemals so kalt und fern gesehen.

„Tae?", fragte er vorsichtig und sein bester Freund wandte den Blick von der Kulisse des Hintergartens ab, langsam und mechanisch, als würde nur ein ureigener Reflex ihn dazu veranlassen, Jeongguk anzusehen. „Tae, das... das ist nicht so schlimm, wie es klingt, du hast deinen Vater ja gehört. Er würde niemals–"

„Ich will nicht darüber reden", sagte Taehyung schneidend und löste sich von der Wand. Er durchquerte sein Zimmer, ohne sich zu Jeongguk umzuwenden. „Ich geh zurück zur Party. Mach das Licht aus, wenn du das Zimmer verlässt."

Jeongguk zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er brachte es nicht zustande, seine Position am Fenster aufzugeben, während er versuchte, sich mit dem Inhalt des eben Belauschten anzufreunden. Seit er denken konnte, seit er Taehyung kannte, war seine eventuelle Herrschaft über den Clan, über all diese Menschen, die Jeongguk besser kannte als seine eigene Familie, so... unverrückbar gewesen. Kim Taehyung würde das Oberhaupt des Bayville-Kartells werden, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Er war der älteste Sohn des Kartell-Bosses, er war clever, er war listenreich und vorausschauend – und, vor allem, gütig. Er wäre niemals ein Tyrann geworden, nicht in hunderttausend Jahren.

Während er noch tief in Gedanken versunken war, sah er unten, am Rande des Pools Taehyung auftauchen; einen Arm um seine Cousine Eunjin gelegt, die sich gegen ihn lehnte und glockenhell lachte. Seokjin folgte ihnen auf dem Fuß; offensichtlich wieder blendender Laune und er hielt ein halbleeres Glas in der Hand, das wohl einmal bis zum Rand mit irgendeiner Spirituose gefüllt gewesen war.

Die drei verschwanden außerhalb seines Blickfelds über das niedrige Holzgatter hinweg in Richtung Ozean und Jeongguk spürte einen leichten Stich in seinem Brustkorb, während er das Fenster schloss und von der Aussicht wegtrat.

Er verstand, dass Taehyung genauso erschüttert war wie er, aber dass er ihn deshalb so barsch abfertigte, bevor er lieber Seokjins Gesellschaft suchte, machte ihn wütend.

Als Jeongguk zum Schreibtisch trat, um das kleine Nachtlicht darauf zu löschen, fiel ihm das Buch ins Auge, in dem Taehyung zuvor noch abwesend geblättert hatte. Es war halb von einer alten Zeitschrift verdeckt und der gelbe Einband kam ihm überhaupt nicht bekannt vor. Als er die erste Seite aufschlug, erkannte er in Taehyungs feiner, spitzer Schrift eine Widmung, die sich in schwarzer Tinte über die gesamte Seite zog und trotz der darin inhärenten Unordnung ungemein ästhetisch wirkte. Einen kurzen Augenblick erwog er, das Buch wieder unter der Zeitschrift verschwinden zu lassen und Taehyung hinunter zu folgen, aber dann überwog die Neugierde und er hielt das Papier ans Licht.

Für Slowtown, stand dort in englischen Buchstaben. Und für seinen König.

Jeongguks Herz schlug ihm bis zum Hals, als er durch die einzelnen Seiten blätterte, die wohl schon lange nicht mehr gelesen worden waren, denn das Papier fühlte sich steif zwischen seinen Fingern an.

Der Anblick der Seiten raubte ihm den Atem. Jeder einzelne Abschnitt war mit Zeichnungen überseht; die meisten datierten in die Zeit zurück, in der sie getrennt gewesen war – Taehyung an einem Jungeninternat im Norden und Jeongguk alleine in der Stadt.

Es schien eine Ode an ihre Freundschaft zu sein; tausende Zeichnungen seines Gesichts, ihrer beiden Figuren zusammen auf der Mauer, die sie um Slowtown gezogen hatten, um sie vor bösem Willen zu beschützen, und einige Landschaftsstriche, von denen er sich so sicher gewesen war, dass nur er sie in seinem Kopf herumtrug.

Falls er jemals an der Echtheit ihrer Freundschaft gezweifelt hatte, auch nur einen winzigen Augenblick lang; so straften ihn die bemalten Seiten vor ihm nun auf ewig Lügen. Taehyung schien dieses Buch über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren für alles verwendet zu haben, das in seinem Kopf vonstattengegangen war. Auch, wenn sich kaum Wörter zwischen den Zeichnungen befanden, musste es sich hierbei um eine Art Tagebuch handeln – als eine Sammelstätte seiner Gedanken, seiner andauernden Wut und Missmutes, der sich wie ein Thema durch die Seiten zu ziehen schien.

Je weiter er vorstieß, desto dunkler wurde das Papier; desto wilder und zorniger die Striche, die aus dem schwarzen Filzstift gekommen waren. Die letzte Seite war eine einzige, riesige Skizze eines mittelalterlichen Thronsaals, an dessen hohen Säulenwänden die Banner eines royalen Hauses hingen – eine Schlange, die sich um den Hals eines Kranichs wand – und unmittelbar darunter, zu Fuße eines kantigen, unbequem wirkenden Throns lag eine Figur, dessen Gesicht Jeongguk nicht erkennen konnte. Darüber stand Taehyung mit einem blutbesudelten Schwert in der Hand, der mitleidlos auf die Gestalt auf dem Boden blickte.

Mit wütenden, kalten Strichen standen drei lateinische Wörter über die gesamte Seite gekritzelt: Sic semper tyrannis.

„So soll es immer den Tyrannen ergehen", murmelte Jeongguk. Auch wenn er kein Latein sprach, dieser Satz und seine Bedeutung hatte sich in seinem Gehirn eingefräst, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte.

Er klappte eilig das Buch zu und ließ es unter der Zeitschrift verschwinden, ehe er das Licht löschte und die Tür zu Taehyungs Zimmer hinter sich zuzog.

Er sollte dem, das er in Taehyungs Tagebuch gesehen hatte, wohl keine allzu große Bedeutung beimessen. Alles in allem war Taehyung damals gerade sechzehn, siebzehn gewesen, und wenn er seinen halbherzigen Berichten von damals Glauben schenkte, ohnehin nicht der umgänglichste Zeitgenosse.

Dennoch, die Gewaltdarstellungen erschreckten ihn. Nicht, weil er so etwas nicht gewohnt war, sondern, weil er diese Atrozitäten Tag für Tag auf sich nahm, damit Taehyung auf ewig davon verschont bliebe. Aber wie es aussah, war die Dunkelheit längst in seinen Gedanken.

Als er in der Eingangshalle zurückkam, fand er sie unverändert vor. Sora stand inmitten ihrer Freundinnen; Hyun-sik, sein Bruder und seine zwei Berater saßen in der Nähe des Kamins; auch, wenn eine tiefe Unruhe von ihnen auszugehen schien. Hyun-sik hatte sich zurückgelehnt und schwieg, während Ahn Jong-suk eine Verteidigungsstrategie nach der anderen vorzulegen schien.

Sogar Jimin begegnete Jeongguk; dieser schob sich mit einem müden Lächeln an ihm vorbei, während er ihm wie zur stummen Erkennung eine Sekunde lang die Hand auf die Schulter legte.

Jeongguk lehnte sich gegen die Wand und beobachtete, wie er es immer zu tun pflegte. Er ließ seinen wachsamen Blick über die Reihen von irrelevanten Kollateral schweifen, das tatsächlich nur wegen der achtzehnten Geburtstagsfeier eines schüchternen Teenagers zugegen war; die Nutznießer und Speicherlecker einer Welt, die sich mit Soras unbeschwerter kaum vermischen wollte und diejenigen, die Jeongguk nicht wirklich einzustufen vermochte.

Ein junger Mann, der ihm nicht im Ansatz bekannt vorkam, stand am Kamin und unterhielt sich mit Areum, die sich kokett gegen die Ablage lehnte und beizeiten ihren Kopf in den Nacken warf, um ein reizendes Lachen zu äußern. (Jeongguk ballte seine Fäuste in den Taschen.)

Wenn ihn nicht alles täuschte, dann musste der elegante, sportlich gebaute Mann der Bote sein, der dem Kartell die Hiobsbotschaft überbracht hatte – Jeong Hoseok, wenn er sich Recht erinnerte. Seine Stimme war samtig und angenehm gewesen und Jeongguk musste widerwillig einräumen, dass sein Äußeres es auch war. Er besaß ein paar stechender, aufmerksamer Augen und ein langes, elegantes Gesicht, das sich in geradezu fürstlicher Bleiche äußerte.

Zwei Meter von ihnen entfernt; schweigend und blass wie eh und je, saß Kim Hye-jin auf einem Sofa. Taehyungs Mutter schien jeden im Raum unter genauester Beobachtung zu haben; und Jeongguk bemühte sich, ihrem eiskalten Blick so gut wie möglich auszuweichen.

Es war fast halb zwölf, als Taehyung durch die Terrassentür brach, sichtlich schwankend. Er wurde von Seokjin gestützt, der bei weitem sicherer auf den Beinen schien, während Eunjin ihnen auf dem Fuß folgte. Jeongguk spürte eine Mischung aus Sorge und Unmut in sich aufsteigen, als er den Zustand seines besten Freundes registrierte. Taehyung war sturzbetrunken; und dabei einnehmender denn je. Sein blondes Haar fiel in wirren Strähnen über seine geröteten Wangen und fiebrig glänzenden Augen – eine Art des unumgänglichen Spottes schien ihm anzuhängen, der sein nüchternes Selbst üblicherweise mied.

Seokjin schubste ihn auf ein Sofa, während er selbst in der Küche verschwand, vermutlich, um seinen ebenfalls roten Kopf in der Abwasch zu ertränken.

Jeongguk war bei ihm, da hatte Seokjin den Raum noch nicht einmal wirklich verlassen. Sein bester Freund schien ihn sofort zu erkennen und Jeongguk musste ihn beinahe gewaltsam davon abhalten, dass er nicht seine Arme um seinen Hals schlang wie ein hilfsbedürftiges Kätzchen.

„Lass uns fahren, Guk'", lallte er in seine Halsbeuge hinein. „Ich will keine... Sek... Sekunde länger in diesem verfluchten Haus bleiben."

„Okay", sagte er leise und nahm Taehyungs Arm, indem er ihn über seine Schulter schlang. Er hievte ihn auf die Beine und Taehyungs heißer, feuchter Atem strich über sein Ohr. „Himmel, reiß dich ein bisschen zusammen."

Doch bevor sie den Raum verlassen konnten, hatte sich ein Hindernis in Form von Kim Hye-jin in ihren Weg geworfen, die ihren Sohn und seinen Sicario mit eiskalter Miene ins Auge fasste und sich mit verschränkten Armen vor ihnen aufstellte. „Du bleibst hier, Taehyung-ah. In diesem Zustand lass ich dich nicht mehr aus dem Haus."

„Oh, als ob dich mein Zustand interessiert", höhnte Taehyung und Jeongguk ging unter seinem Gewicht beinahe ein, als sein Freund sich nach vorne lehnte, offensichtlich im Versuch, seine Mutter zu fixieren. „Du willst nur nicht, dass ich eine Sze... Szene mache, oder, Mommy?"

„Okay, das reicht jetzt, Tae", sagte Jeongguk bestimmt und für einen Augenblick schien es tatsächlich so, als würde die Determination in seiner Stimme ihn zum Schweigen bringen, doch dann fand der nächste Schwall Worte seinen Weg aus Taehyungs benebelten Gedanken.

„Soll ja keiner wissen, wie sehr es hier im Argen liegt." Er wirkte erstaunlich klar, aber Jeongguk bemerkte mit Schrecken, dass Hyun-sik und seine Berater zu ihnen hinüberblickten. Er konnte nicht zulassen, dass Taehyung einen Auftritt hinlegte, der seiner Reputation schaden würde.

„Ich bring ihn nach Hause", sagte er überlaut und prophylaktisch, sodass er eine weitere eventuelle Tirade übertönen würde. „Entschuldigen Sie die Umstände, Mrs. Kim."

Taehyungs Mutter fixierte ihn hasserfüllt und machte einen Schritt zur Seite, sodass Jeongguk und Taehyung ungehindert passieren konnten. Als sie die Eingangshalle durchquerten, stand Sora dort und warf ihnen einen unglücklichen Blick zu, aber Jeongguk hatte kaum genug Zeit, ihr ein ermutigendes Lächeln zuzuwerfen, ehe er die Haustür schon aufgerissen hatte und Taehyung vor die Tür bugsiert.

„Du bist... echt nicht einfach."

Taehyung schien die Phase erreicht zu haben, in der er jeden Ort als Schlafstätte missbrauchen wollte und Jeongguk musste ihn gewaltsam davon abhalten, sich auf der Eingangstreppe zusammenzurollen.

„Wo ist dein Autoschlüssel, Tae?" Dieser klopfte nur auf seine rechte Hosentasche und Jeongguk blickte ihn unwillig an. „Soll ich dir jetzt an deinem Arsch rumfummeln, oder tust du uns den Gefallen?"

Einen kurzen Augenblick blitzte Unlesbares etwas in Taehyungs Augen auf, aber im nächsten Moment stöhnte er überdrüssig auf und fischte seinen Schlüssel hervor, den er Jeongguk in die Hand drückte.

„Danke", sagte er säuerlich und zog seinen torkelnden Freund über den Rasen in Richtung des Lamborghinis, den sie vor kaum drei Stunden an dieser Stelle abgestellt hatten. Taehyungs betrunkenes Selbst war außergewöhnlich körperbetont und so war Jeongguk damit beschäftigt, seine Arme immer und immer wegzuschieben, während er simultan versuchte, den Lamborghini aufzuschließen.

„Soll ich dich etwa huckepack nach Hause tragen?", schnaubte Jeongguk, als es ihm gelungen war, die Tür aufzuschließen.

„Jaah", gurrte Taehyung und er schlang seine Arme erneut um Jeongguks Hals.

„Das war sarkastisch, du witzlose Gurke." Er löste seinen erstaunlich festen Griff, ohne auf Taehyungs Proteste zu hören, und bugsierte ihn auf den Beifahrersitz. Die Unterlage schien Taehyung zu gefallen, denn er rollte sich sofort zur Seite und vergrub sein Gesicht in der Seitenlehne.

Die Anstrengung, Taehyung anzuschnallen, trieb ihm die Röte ins Gesicht und er machte sieben Kreuze, als er die Tür schließlich hinter Taehyung zuwerfen konnte und selbst auf der Fahrerseite des Lamborghinis einstieg. Ehe er den Motor anließ und somit die Stille gestört hätte, die sich über den Vordergarten gelegt hatte, warf einen raschen Blick in Taehyungs Richtung, um sich zu versichern, dass dieser nicht auf den Fußboden gerutscht war.

Jeonggoo", murmelte er im Schlaf und eine Steilfalte erschien auf seiner Stirn.

„Ich bin hier, Tae", murmelte er, ehe er den Schlüssel im Zündschloss herumdrehte.

Ich bin hier. Ganz gleich, was kommen mag.



author's note: this took me some time. es tut mir leid, aber ich hab's tatsächlich noch vor Beendigung dieses Jahrhunderts geschafft.

nun, tae und guk haben da wirklich beunruhigende Dinge erfahren, Dinge, die ihr leben wirklich vollkommen umkrempeln können.

wer glaubt ihr, ist der Tyrann, den Taehyung in seinen Zeichnungen immer und immer gemalt hat?

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