Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

319K 17.1K 4.7K

Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute

993 46 47
By MaraPaulie


Kapitel 80

...dann leben sie noch heute


~Sabrina~

Die Erinnerungen, wie es ihnen gelungen war, aus dem Palast zu kommen, waren nicht mehr als verschwommene Fetzen. Alles was nach Falk geschehen war, hatte der Adrenalinrausch, gekoppelt an das Höhegefühl, den Totgeglaubten wieder an ihrer Seite zu haben, beinahe restlos aus ihrem Gedächtnis gespült.
Sie hatten es nur mit vereinten Kräften aus der Schatzkammer geschafft, jeden mitgenommen, den sie auf ihrer Flucht getroffen hatten und waren die Treppen hinauf, hinauf, hinaus gejagt bis in Sabrinas Gemach, von wo aus sie an Bord der Jolly Roger geklettert waren. Trotz des Sturmes war es ihnen gelungen, das Luftschiff auf Ebene des Thronsaals zu steuern, um wenigstens den Senat - die neue Regierung und Hoffnung Arkans - vor dem Tod zu bewahren. Anschliessend waren sie bis in den späten Nachmittag über Tempus geflogen und hatten nach Überlebenden Ausschau gehalten. Doch auch die Toten hatten sie gerettet, jedenfalls die, die es nur auf Zeit waren. Wie durch ein Wunder hatte das Inkoleum standgehalten. Jeden einzelnen Sarg hatten sie aus dem Gewölbe geholt. Nun waren sie im Lagerraum verstaut. Was für ein unvorstellbares Glück an diesem schlimmsten aller Tage...
Und während dieses gesamten Alptraums hatte Sabrina Falks Hand nicht losgelassen. Nicht, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen war.
Auch jetzt waren sie so gut wie unzertrennlich, klebten jede freie Minute aneinander wie Fouling und Schiffsrumpf, und doch hatten sie noch kein ernstes Gespräch unter vier Augen führen können. Da waren keine freien Minuten mehr. Als gekrönte Herrscherin dieser Welt musste sie andere Prioritäten setzten. Es war keine Zeit zum Reden, geschweige denn zum Schlafen oder Essen.
Der Mix aus Schlafmangel, Hunger und dem Gefühlschaos - bestehend aus Angst, dass diese Welt, die zu ihrem Zuhause geworden war, der Wut auf den Teufel, der aus unerklärlichen Gründen all dies verursacht hatte, und die durch all diese Umstände gedämpfte und sie trotzdem überschlagenden Freude, dass Falk wieder an ihrer Seite war - machte es zu einem Kunststück ihre Konzentration aufrecht zu erhalten und der Katastrophensitzung des geretteten Senats zu folgen.
Jeremy Topper, der kein bisschen ausgeschlafener als sie selbst aussah, hatte sein Flipchart aus dem Hut gezogen und eben begonnen, darauf herumzukritzeln.
Abgesehen vom Hutmacher war niemand anwesend, der nicht zum Senat oder der Blutsverwandtschaft der Beltran-Familie gehörte. Zwar hatten sie auch die Monarchen und glücklicherweise auch alle Mitglieder des einstigen Kleinen Rats gerettet, doch sie hatten die Entscheidung gefällt, dass die Zukunft in den Händen der Regierung liegen sollte, die dafür - wenn auch vor der Katastrophe - gewählt worden war.
»Wir wissen, dass diese Katastrophe durch den wohl schwersten Bruch des Schicksals ausgelöst wurde, den diese Welt je erlebt hat«, plapperte der Hutmacher, während er auf seinem Flipchart ein kleines Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus vorführte und es mit ›Zeitpalast‹ betitelte. »Und da dieser Bruch im Palast geschehen ist, ist er auch das Epizentrum dieser Katastrophe.« Schwungvoll malte er ein paar Kreise um das Strich-Häuschen.
»Das Schicksal?«, fragte Lamia, die Senatorin der Vampire, mit hörbarem Spott. »Seit wann beginnt wegen irgendeinem Aberglauben die Erde zu beben und ein Sturm aufzuziehen?«
Der Hüter hob einen Finger und machte den Mund auf, um die bleiche Senatorin eines Besseren zu belehren, als ihm jemand zuvorkam: »Daran gibt es keinen Zweifel.« Miles Stimme war streng. So streng, dass er fremd klang und Sabrina sich überrascht nach ihm umdrehte.
Er war sehr blass, hatte rote Augen und einige üble Schrammen. Es ging ihm schlecht. Auch er wäre jetzt lieber wo anders oder bei jemand anderem, doch auch er hatte das hintenanstellen müssen. Jetzt war noch nicht die Zeit, den Verlust seines ungeborenen Kindes zu verarbeiten und Trost bei seiner Partnerin zu suchen.
Sabrina griff unterm Tisch nach der Hand ihres Bruders. Sie konnte sich nicht vorstellen, was in ihm vor sich ging. Was sollte sie zu ihm sagen?
»Schon gut, Mylord.« Der Paladin machte eine beschwichtigende Geste in Miles Richtung, ohne den Blick von der Vampirin zu lösen. »Was seid Ihr töricht, mich zu hinterfragen, Senatorin. Ihr wisst so gut wie alle anderen in diesem Raum, dass ich nicht ohne Grund Hüter der Prophezeiungen genannt werde. Das ist kein Geheimnis.«
»Und doch glaube ich nicht ans Schicksal.« Lamia verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in die Höhe.
»Ich bitte Euch. Wenn Ihr eine andere Erklärung für die Katastrophe dort draussen habt, dann nur zu! Teilt sie uns mit!«
Die bleiche Senatorin verengte die Augen zu schlitzen und rümpfte verachtend die Nase, sodass die Spitzen ihrer Eckzähne zum Vorschein kamen, doch sie schwieg.
»Na bitte«, seufzte der Hüter der Prophezeiungen und wollte sich wieder seinem Flipchart zuwenden, da wurde er erneut aufgehalten.
»Aber was ist denn passiert?« Eliza lächelte zuckersüss in Miles Richtung. »Lasst hören, Mylord. Woher habt Ihr die Gewissheit, die jeden Zweifel illegitimiert?«
Die Hand ihres Bruders wurde schlagartig so heiss, dass sie ihn loslassen musste. Miles Züge entglitten ihm, erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann wurde er so blass wie ein Laken. »I-ich...«, begann er zu stammeln doch Jeremy Topper kam ihm zuvor: »Für das haben wir jetzt keine Zeit!« Bestimmt pochte er mit seinem Kohlestift auf das Flipchart und zog ein paar Pfeile aus den Kreisen des gezeichneten Epizentrums. »Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal die Bevölkerung aus Tempus evakuieren und ein neues Kapitol für diese Regierung finden. Wir haben den Krieg gerade erst gewonnen, wir dürfen nicht zulassen, dass uns das entgleitet.«
»Für das erste Problem haben wir ja bereits eine Lösung«, stellte Ikarus mit Stolz fest. »Mein Vater, König Dädalus, hat uns bereits Truppen gesendet. Und auch König Orion hat Boten nach Kamen'strany ausgesandt, um Hilfe nach Tempus zu schicken. Die Truppen meines Vaters sollten vermutlich in ein paar Stunden eintreffen und die Überlebenden unter meinem Kommando aus der Stadt führen Und sobald die Zwerge Tempus erreichen, werden sie beginnen, in den Trümmern nach weiteren Überlebenden zu graben.«
»Und am besten führt ihr sie gleich aus dem ganzen Tal! Die Zerstörung begrenzt sich momentan noch auf das Tal, sie wird schon bald beginnen, sich auszubreiten. Ich schlage vor, wir nehmen Kontakt mit der machthabenden Instanz in Malakin auf, um-«
»Malakin?!« Empört sprang die Muhme Trude, die Senatorin, die im Namen des Coven sprach, auf. »Malakin ist eines der Reiche, das sich von Tempus losgesagt hat. Es steht in Verdacht, unseren Feinden Obdach zu gewähren, es ist abtrünnig! Wir würden die Überlebenden aus dem Regen in die Traufe schicken.«
»Ich weiss, ich weiss, ich weiss!« Topper nickte wild. »Aber wohin sollen wir sonst? Es ist wichtig, dass die Evakuierten soweit vom Tal der Ewigkeit wegkönnen. Von Malakin aus werden die Flüchtlinge durch die Grenzwälder Virid'agrus und weiter in den Süden ziehen.«
»Ich weiss nicht, ob mein Volk das gutheissen würde«, gab Sookie, die Abgesandte der Elfen, zu Bedenken. »Virid'agru ist neutrales Terrain. Selbst zu Kriegszeiten wurde diese Neutralität gewahrt. Nicht einmal die Rebellen haben durch die Wälder reisen dürfen...«
»Was ist mit den Zwergenlabyrinthen?«, schlug Mikusch Frihir, der Senator der Werwölfe, der von vielen nur Welpe genannt wurde, vor. »Die erstrecken sich doch unter ganz Arkan. Können die Flüchtlinge nicht unterirdisch in den Süden reisen?«
»Die meisten von den Tunneln sind schon seit der Nacht der roten Kronen nicht mehr begehbar oder so schwer beschädigt, dass man lebensmüde sein müsste, um sie zu betreten. Nach diesem Erdbeben, werden die meisten Eingänge in der Nähe der Stadt verschüttet sein. Und wenn stimmt, was der Hutmacher uns eben erzählt hat und das gestern war nur der Anfang... Einem solchen Beben wird kein Zwergentunnel standhalten«, antwortete ihm Tohock Beryn, der Senator der Zwerge und kämmte sich den filzigen Bart mit den wulstigen Fingern. Mit etwas feindseligem Blick blinzelte er in Sookies Richtung. »Ausserdem sind die Kriegszeiten vorbei. Noch nie gab es einen besseren Zeitpunkt für die Elfen, endlich über ihren Schatten zu springen und die feige Neutralität, hinter der sie sich schon so lange verstecken, für das Allgemeinwohl zu opfern.«
In Sookies Kopf ratterten sichtlich die Zahnräder. »Königin Amiéle wird das nicht zulassen.«
»Königin Amiéle hat nicht länger das Sagen, wenn es um Politik ausserhalb ihres Reiches geht. Die Länder der Elfen sind Vasallenstaaten der Herrscher.« Sabrina wusste nicht, woher ihr Mut auf einmal kam. Vielleicht war es das Bewusstsein, dass sie die Verantwortung über Leben und Sterben jedes einzelnen Bürgers Tempus' trug, vielleicht hatte sie aber auch einfach nur die Schnauze voll von der Arroganz der Elfen. Sie spürte ihn durch ihre Adern rauschen und sie wachsen lassen, als sich die Augen des Senats auf sie legten. Man nahm sie ernst. »Wenn mein Bruder und ich es verlangen, wird Virid'agru seine Tore öffnen.«
Sookie nickte. »Das Volk hat mich zur Senatorin gewählt. Ich unterstütze diese Entscheidung. Königin Amiéle wird sich den Entscheidungen der Herrscher beugen.«
»Was das neue Kapitol und den Regierungssitz angeht«, mischte sich nun auch Guenio, der zuvor nur stillschweigend über seinem Stuhl geschwebt war, in die Diskussion ein, »schlage ich unsere ehemalige Rebellenbasis vor. Turdidae war die Wiege der Rebellen, es gäbe keinen perfekteren Ort. Und dank LaRuh, das dort unterirdisch liegt, wird auch immer genug Platz für die Flüchtlinge sein.«
»Dann soll die gesamte Bevölkerung des Nordens nach LaRuh gehen? Ist das der Plan?«, fragte Agaue Fluc, die Senatorin der Aquaner scheu.
»Die Zwerge leben seit Anbeginn der Zeit im Ondorgebirge. Die meisten von ihnen werden Kamen'strany niemals aufgeben!«, brummte Tohock Beryn sofort und zuckte mit den breiten Schultern.
»Ich glaube auch nicht, dass es darum geht, irgendjemanden zu zwingen.« Des Herzkaspers sanfte Stimme passte so gar nicht zu seinen wie vor Schreck weit aufgerissenen Augen. »Es ist jedem selbst überlassen, ob er diese Gefahr ernst nimmt, aber die Option sollte mit Sicherheit offenstehen. Ich schlage vor, dass jeder Senator dafür sorgt, dass die ihm unterstellten Völker über alles unterrichtet und jedes einzelne Wesen wird daraufhin die Chance haben, seinen eigenen Weg zu gehen. Wir dürfen nicht zu aggressiv vorgehen, sonst lösen wir noch einen Bürgerkrieg aus. Die Welt vor dem Bösen zu retten ist vermutlich einfacher, als sie vor Dummheit zu bewahren.«
Topper kratzte sich hinterm Ohr. »Die meisten Völker werden die Gefahr erst ernst nehmen, wenn die Katastrophe sie schon erreicht hat. Wir sollten LaRuh also von Anfang an auf grössere Wellen an Flüchtlingen vorbereiten. Ich vermute, dass die Zerstörung sich vor allem zu Beginn eher langsam ausbreiten wird, doch wer weiss das schon genau? Wir sollten auf alles vorbereitet sein!«
Die Senatoren nickten. Das schien alle zufrieden zu stellen.
»Damit hätten wir jedoch noch immer das Problem mit Malakin«, warf Silas Vicini, Faun und Senator der Minderheiten unter all den Völkern Twos', ein. »Warum gehen wir anstatt nach Osten nach Westen und von dort aus nach Süden? Oder nach Norden ins Ondorgebirge?«
»Nach Norden zu gehen wäre keine längerfristige Lösung«, erklärte Jeremy Topper. »Das Ondorgebirge ist dem Tal der Ewigkeit zu nah, weshalb ich es auch den Zwergen dringendst anraten würde, sich mit dem Gedanken, Kamen'strany verlassen zu müssen, anzufreunden. Und Richtung Westen und von dort aus in den Süden zu fliehen macht auch keinen Sinn. Malakin ist ein Risiko, ja. Aber gingen wir nach Westen, müssten wir durch Wa'illa, Basilon, Ularsar, Apium und Palyas! Und die sind alle Staaten, die sich von Tempus abgewandt und als unabhängig erklärt haben. Malakin mag das gefährlichste all dieser Reiche sein, aber es erstreckt sich nicht über den halben Kontinent. Malakin ist nur ein Reich. Der Westen besteht praktisch nur aus Verrätern!« Topper blickte in die Runde, streckte ihr herausfordernd das Kinn entgegen. »Der Norden ist eine Sackgasse, im Westen lauern kilometerweit Feinde. Und südlich des Ezelwalds erstrecken sich die Waldgärten von Wyr, in die keiner von uns je wieder einen Fuss setzen würde. Es gibt keine andere Möglichkeit, als uns durch Malakin zu wagen und von dort aus durch Virid'agru zu fliehen. Wir müssen alle in den Süden fliehen, dort wird die Zerstörung zuletzt eintreffen...«
»Ihr sprecht ständig davon, dass sich die Zerstörung ausbreiten wird«, hakte Agaue Fluc, die schöne Nereide, nach. »Was meint Ihr damit?«
Niemand sagte etwas und doch ging ein stummes Raunen durch die Kabine, die zum Sitzungszimmer des Senats geworden war.
Der Hutmacher hob den Arm und deutete aus einem der Fenster, durch das verschwommen die Flammen der brennenden Stadt durch die Dunkelheit glommen. »Die Zerstörung ist das, was dort draussen vor sich geht. Die Erdbeben, die Stürme, die Katastrophen. Das alles geschieht, weil das Schicksalsnetzt, das unsere Welt beschützt hat, zerrissen wurde. Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird, ich weiss nicht, wie viel Zeit Twos noch bleibt, doch die Zerstörung wird sich ausweiten. Tempus ist nur der Anfang.«
»Der Anfang von was?«, fragte der Herzkasper. »Was beginnt, Hutmacher?«
Jeremy Topper fuhr sich übers Gesicht und blinzelte müde in die Runde. »Das Ende.«


~Mile~

Wie ferngesteuert verliess er den Sitzungsraum und lehnte sich an die Wand des schmalen Flurs, der von der Kabine in eine Richtung eine Treppe hinauf und in der anderen eine runter führte.
Sabrina, die ihm auf Schritt und Tritt gefolgt war, tat es ihm gleich.
Senatorinnen und Senatoren drückten sich an ihnen vorbei. Jeder von ihnen wusste nun, was zu tun war. Ihr Plan stand. Er konnte sich jedoch an die wenigsten ihrer Entschlüsse erinnern. Sein Kopf war zu voll...
»Bist du okay? Kann ich was tun?« Seine Schwester drückte seine Hand.
Er zwang sich zu lächeln. »Geh schon. Ich weiss doch, dass du zu Falk wirst. Ich gehe gleich und schaue nach Aruna. Wir brauchen nur etwas Zeit. Wir sollten die paar Stunden, bevor die Truppen des Wolkenvolks uns erreichen, nutzen, um uns etwas auszuruhen...«
Sie nickte. »Da hast du wohl recht.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich bin da, wenn du mich brauchst.«
Er nickte und lächelte. Dieses Mal ohne sich zwingen zu müssen.
Sabrina eilte den Flur runter und die Treppe aufs Oberdeck hinauf.
»Ich habe das von Cera gehört.«
Er zuckte zusammen und drehte sich um.
Eliza lächelte ihn zögerlich an. In scheinbar tröstender Absicht streckte sie die Hand aus und streichelte über seine Schulter. »Tut mir sehr leid. Für beide von euch.«
Mile starrte ihren Arm an, bis sie sich von ihm löste. Als er zu ihr aufblickte, schien sie beschämt und... ehrlich betrübt. Er hatte eigentlich vorgehabt ihr ein »Geht dich nichts an!« oder »Das kannst du dir sonst wohin stecken!« entgegenzuschleudern, doch er hatte nicht erwartet, dass sie die Wahrheit sagte. Es tat ihr leid. »Danke«, antwortete er deshalb und schluckte den wachsenden Kloss in seinem Hals runter.
Ihre angespannte Haltung lockerte sich ein wenig. »W-wie geht es ihr?«
Mile kratzte sich am Nacken. »Sie... will nicht reden.« Er schüttelte den Kopf. »Hör mal... Ich will zu ihr.«
»N-natürlich...« Sie trat zur Seite und machte den Weg frei. »Ihr werdet das schaffen!«
Er nickte. »Mhm...« Erleichtert ging er auf die Treppe zu, die hinunter zu den Kajüten führte. Zu Aruna...
»Cera ist stark. Wenn jemand das ein weiteres Mal durchstehen kann, dann ist es unser Mädchen von überall.«
Ihre Worte bohrten sich wie ein Dolch in seinen Rücken. Die Treppe wurde plötzlich zu einem gähnenden Schlund. »Ein weiteres Mal?«


~Sabrina~

Falk stand wie der Inbegriff seiner selbst am Steuer der fliegenden Galeone. Der Wind zerzauste sein Haar und liess seinen Mantel flattern wie das Cape eines Superhelden.
Sie eilte an seine Seite auf das Poopdeck.
»Hallo Prinzessin«, begrüsste er sie und schob die Fliegerbrille, die sie ihm vor über einem halben Jahr geschenkt hatte, mit dem Haken von den Augen auf die Stirn. Wie schön es war, in seinen Augen den Ozean leuchten zu sehen und nicht länger in gähnende Dunkelheit blicken zu müssen...
»Hallo Pirat«, grüsste sie zurück.
Er grinste, nahm ihre Hand, legte sie aufs Steuer und seine darüber.
Die Wolken hatten den Nachthimmel verschluckt, nur die Feuer, die noch immer vereinzelt in der Stadt brannten, erleuchteten die Nacht. Der Zeitpalast, der nun nicht mehr als eine Ruine war, dennoch weit über die Stadt ragte, brannte am hellsten von ihnen. Und doch war der Anfang des Endes nicht ganz so furchtbar, denn nun hatte sie Falk zurück.
»Wie war die Sitzung? Wisst ihr schon, wie ihr die Welt retten wollt?«, fragte der Pirat während er das Steuer leicht Richtung Backbord drehte, um eine weitere Runde über die Stadt zu ziehen, um, wann immer einer der Matrosen in den Marsen einen Überlebenden in den Ruinen entdeckte, das Schiff sinken und eines der Rettungsboote runter zu lassen.
Sabrina schmunzelte. »Schön wäre es. Aber wir haben immerhin schon so etwas wie einen Plan. Wir warten, bis die Hilfe aus Pandora oder Kamen'strany eingetroffen und die Evakuation Tempus' eingeleitet ist. König Orion, der Senator der Zwerge - also dieser Tohock Beryn - und Ikarus werden hierbleiben. Orion wird zurück ins Ondorgebirge reisen, der Sturkopf hat sich das nicht ausreden lassen, und die beiden Senatoren werden die Flüchtlinge in den Süden begleiten. Indessen wird die Jolly Roger mit uns allen nach Turdidae fliegen. Drosselbarts Schloss wird zum neuen Regierungssitz und LaRuh wird zur Flüchtlingsunterkunft.«
»Zurück unter die Erde, woher die Rebellen gekommen sind«, brummte er und fuhr die Narbe an seiner Unterlippe mit dem Eckzahn nach. Wie sehr sie diesen Anblick doch vermisst hatte...
»Jeremy Topper meint, dass der Rest der Welt nicht von diesen Katastrophen verschont bleiben wird. Die Zerstörung wird sich ausbreiten...« Sie schüttelte den Kopf. »Wie konnte das nur passieren?«
Falk zog das Sturmglas aus seiner Manteltasche und justierte die Stärke des Nordwinds. »Dein Bruder hat Schwäche gezeigt und der Teufel hat sich auf ihn gestürzt.«
»Psst! Das weiss kaum jemand! Ausserdem hatte er keine Wahl!«
Der Pirat hob skeptisch die Brauen. »Meiner Meinung hatte er eine.«
»Ach ja? Er hat ihm droht, Red zu töten. Und damit sein ungeborenes Kind!«
»Du bist vor einer ähnlichen Wahl gestanden. Ich oder die Welt. Du hast dich für die Welt entschieden.«
Fassungslos blickte sie ihn an. »W-was?«
»Natürlich! Ich habe mich geopfert und wurde zum Gefäss der Macht des Kupferkönigs. Aber du, Sabrina, hast mich machen lassen. Du hast mein Opfer akzeptiert. Du hast weitergemacht. Mile hingegen war dazu nicht stark genug. Er hat die Welt für die Menschen, die er liebt, geopfert. Ich weiss nicht, ob man ihm das wirklich vorwerfen kann, aber es zeigt, dass er schwächer war als du.«
Energisch schüttelte sie den Kopf. »Das ist nicht wahr. Ich habe monatelang an deinem Sarg gesessen und versucht, dich aus diesem Schlaf zu reissen, dich zu finden, zu wecken. Ich habe beinahe den Verstand verloren. Ich habe mir die Haare abgeschnitten, nur um irgendeine Veränderung in diese Ruine meines Lebens zu bringen. Das würde ich nicht als Stärke bezeichnen.«
»Aye, aber du hast Cernunnos nicht getötet.«
Sie schnaubte. »Ich wusste nicht, dass sein Tod deine Rettung war.«
»Aber selbst wenn du es gewusst hättest, hättest du ihm nichts getan.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiss es. So bist du.« Er lächelte sanft und senkte den Kopf um sie zu küssen. Kurz vor ihrem Mund hielt er inne und flüsterte: »Du versuchst immer alle zu retten.« Er legte seine Lippen auf ihre und Salz und Sehnsucht füllten ihren Verstand, doch mit einem Mal verdrängte etwas die schönen Gefühle und sie löste sich von ihm, drehte den Kopf weg.
Er schwieg, richtete sich auf, starrte in die Ferne. »Ich muss mich bei dir entschuldigen«, brummte er, nachdem sie eine Weile so dagestanden waren. »Ich weiss, ich habe dir wehgetan.«
Sabrina blieb stumm. Da waren zu viele Dinge, die sie sagen wollte, doch für die sie ausgerechnet jetzt keine Worte kannte.
»Ich habe das Richtige getan, das weiss ich. Und ich würde es wieder tun, denn-«
»Ein Teil von mir hasst dich dafür, weisst du das?« Also doch. Da waren sie wieder, die Worte. Und sie wollte sie ihm alle auf einmal ins Gesicht schreien. »Das war so schrecklich! Es war alles gut, endlich war alles gut und du bist ohne Vorwarnung losgezogen, um den scheiss Helden zu spielen! Du Blödmann! Das war... so gemein!« Nun heulte sie doch und es nervte sie. Es nervte sie, dass sie heulte, es nervte sie, dass sie stritten, es nervte sie, dass sie ihm nicht einfach verzeihen konnte. Es nervte sie, dass sie natürlich stinksauer auf ihn war, weil er ihr diese ganze Scheisse angetan hatte, dass sie ihn natürlich trotzdem liebte und nicht glücklicher sein konnte, ihn wieder zu haben, und es nervte sie, dass er natürlich Recht hatte. Der Arsch...
»Es tut mir leid, aber was hätte ich tun sollen? Es war mein Schicksal, ich musste es erfüllen!« Mit dem Haken deutete er auf Tempus und den Zeitpalast, der nicht länger das imposante architektonische Wunderwerk war, sondern nur noch eine Ruine. »Du siehst doch, was passiert, wenn man das Schicksal bricht!«
»Nein, du hättest mit mir reden müssen, du hättest zu mir kommen müssen und wir hätten geredet, eine Lösung gefunden und irgendwie... Scheisse!« Sie riss die Hand unter seiner weg und stiess eine Tirade übler Schimpfwörter aus, während sie gegen das Steuer trat. »Dieses Schicksal ist doch die reinste Hölle!«
»Dafür kann die Jolly Roger auch nichts«, brummte Falk und streichelte das Holz, als müsste er sein Schiff trösten.
Sabrina seufzte tief, lehnte sich gegen den Kreuzmast und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie, nachdem sie lang genug geschmollt hatte.
Er, der scheinbar auch lange genug grimmig in die Wolken gestiert hatte, blinzelte sie verwirrt an. »Wie meinst du das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Du weisst schon... Als du das Gefäss warst, als dein Körper die neue Büchse der Pandora geworden war. Warst du da... einfach nur weg? Ich bin oft bei dir gewesen. Naja, eigentlich jeden Tag... Und ich habe mit dir geredet. Ich habe versucht, zu dir durch zu dringen, ich habe sogar meine Gaben genutzt, obwohl ich ja weiss, dass du das nicht magst, aber... Jedes Mal, wenn ich versucht habe, dich zu finden, war da nur dieser schreckliche Fuchs und... Hast du den etwa die ganze Zeit gesehen?«
Er räusperte sich, schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Es... tut mir leid...«
»Hör auf dich zu entschuldigen! Antworte mir und mach nicht so ein betroffenes Gesicht!«
Er blinzelte erneut und nickte dann. »Ich war einfach nur weg.«
»Nur weg?« Sie schluckte. »Da war nichts?«
»Aye. Einfach nur nichts. Wie ein traumloser Schlaf.«
Wieder lauschten sie dem Wind und den neuen Arbeitern auf dem Schiff, die grösstenteils aus der Dienerschaft bestand, die sie aus dem Zeitpalast gerettet hatten.
»Ich hab dich fast zu Tode vermisst«, gab sie irgendwann zu und löste sich von dem Mast, um sich wieder an ihn zu schmiegen.
»Ende der Welt hin oder her, ich bin froh, wieder da zu sein.« Sein Lächeln wurde spöttisch. »Ausserdem mag ich die neue Frisur!«
Sie verdrehte die Augen. »Du Blödmann...«


~Mile~

Leise öffnete er die Tür zu ihrer gemeinsamen Kajüte und trat über die Schwelle, hinein in den Sirup abgestandener Luft. Er stieg über einen Haufen achtlos beiseite geworfener Klamotten, vorbei an einem kleinen Stapel dreckigen Geschirrs, um Platz auf der Kante des unteren der Etagenbetten zu nehmen.
»Aruna?« Er legte eine Hand auf das sich gleichmässig heben -und senkende Knäul aus Decken, unter dem er seine Partnerin vermutete.
Das Knäul gab ein müdes »Hmm?« von sich und drehte sich auf den Rücken. Arunas blasses Gesicht tauchte unter der Decke hervor und blinzelte ihn an. »Hallo«, begrüsste sie ihn und lächelte schmal.
Er suchte ihre Hand unter der Decke. »Wie geht es dir? Hast du noch Krämpfe?«
Sie schob sich etwas hoch, versuchte die Haare, die sich aus ihrem wirren Zopf gelöst hatten, etwas unter Kontrolle zu bringen und lehnte sich an die Wand. »Ja, kommt und geht. Es... es blutet auch noch, aber... So etwas geht höchstens eine Woche...«
Mile spürte, wie ihm seine Züge entglitten und er wandte das Gesicht ab, sodass sie es nicht sehen konnte. »Woher weisst du das?« Die Frage brannte auf der Zunge. Mehr als jedes Feuer.
»Valyn war vor einer halben Stunde oder so hier, er hat mich untersucht.«
Er schluckte. Nickte. »Okay.«
Sie seufzte. »Mile, ich-«
»Wir... wir müssen reden!« Er drehte sich zu ihr um, hatte Mühe, die Fassung nicht zu verlieren. »Bitte!«
Sie liess den Hinterkopf gegen die Wand sinken und starrte den Lattenrost des Betts über sich an. »Was gibt es denn zu sagen?«
Mile schnappte nach Luft. »So vieles!«
Sie rieb sich über die Augen. »Mile... Ich will eigentlich nicht reden, ich will einfach nur-«
»Was? Willst du einfach vergessen, was passiert ist? Was hätte sein können?«
»Was denn? Ich war drei Monate schwanger und wusste es gerade mal einen Tag lang. Dieses... Leben, das in mir herangewachsen war, das hatte noch nicht einmal wirklich gelebt! Es hatte noch gar nicht existiert!«
»So... so denkst du?« Nun verlor er doch jegliche Kontrolle über seine Züge. »Über das Kind? Unser Kind?«
Sie kroch an seine Seite, schlang ihn in ihre Umarmung. »Mile, jetzt hör mal. Es... war doch noch gar kein richtiges Kind. Und... wir waren noch keine Eltern. Warum nimmt dich das so mit?«
»Warum tut es das nicht mit dir?«
Sie löste sich von ihm und sah ihn streng an. »Weil das kein Kind war!«
»Aber es hätte unser Kind sein können...«
»Nein!« Sie schürzte die Lippen. Sie hatte geschrien. Mit einem Mal sah sie sehr verletzlich aus und im Normalfall hätte Mile es nun auf sich beruhen lassen, doch nicht heute. Nicht nachdem, was er erfahren hatte...
»Ich habe vorhin Eliza getroffen...« Er wusste, dass seine Worte etwas Lauerndes hatten. Er hatte nicht vor, sie anzulügen oder zu täuschen. Darum hielt er ihrem Blick stand. »Sie hat mir etwas erzählt.«
»Etwas... erzählt...«, echote Aruna gedehnt.
Er nickte. Ihm war zum Kotzen. »Eth'lugar.«
Sie wurde bleich wie ein Laken, schob jedoch bockig das Kinn vor. »Was hat sie gesagt?« Ihr Blick begann verdächtig zu glänzen.
»Dass du schon einmal ein Kind verloren hast.«
Tränen schossen ihr in die Augen, doch ihr Blick blieb trotzig. »Wie kann sie es wagen...«
»Dann stimmt es?« Als sie den Kopf abwandte, war das Antwort genug. Er nahm sie wieder an der Hand. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Weil das ein anderes Leben war. Eines von denen, vor dem ich davongelaufen bin und mir geschworen hatte, nie wieder zurückzublicken.« Sie rieb sich über das Gesicht.
»Ich will es wissen.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Vielleicht hilft es uns ja, darüber zu reden.«
»Wird es nicht.« Sie schüttelte ihn ab.
Mile war fertig mit den Nerven. »Woher willst du das wissen, Aruna? Warum weisst du immer alles besser?« Er sprang auf und zeigte mit dem Finger auf sie. »Wann hörst du endlich auf, wegzurennen?«
»Scheisse!« Sie sprang auf und klatschte ihm eine. »Du willst es wissen? Schön!« Sie stockte, versuchte zwischen ihren Schluchzern einen zusammenhängenden Satz zu bilden, doch alles was sie zustande brachte, waren kaum verständliche Wortfetzen. Nur einen davon gelang ihm zu verstehen, doch dieser traf ihn so unerwartet, dass er es nicht fassen konnte.
»Vergewaltigung.«
»Halt, halt, halt.« Er zog sie an sich und liess sie nicht mehr los. Sie weinte und zitterte, als das gesamte Leid, das sie in sich aufgestaut hatte, auf einmal aus ihr herausbrach. Er versuchte sie zu beruhigen, streichelte ihr über den Rücken und begann leise zu singen, bis sie wieder ruhig atmete. »Who wants to know? All that is gold, is rusted...«


~Sabrina~

Eigentlich sollte sie unter Deck gehen, sich in ihre Kajüte zurückziehen und etwas schlafen, doch sie wusste, dass sie kein Auge zubekommen würde. Zu viele Gedanken, zu viele Sorgen... Und sollten ihr die Augen trotzdem irgendwann zufallen, würden die Alpträume sie wieder aufschrecken lassen. Sie würde warten, bis die Müdigkeit sie in die Knie zwingen und sie in einen traumlosen Schlummer sinken liess.
Sie stand wieder auf dem Galion und blickte auf die Stadt nieder. Das, was davon übrig geblieben war... So wie sie es die letzten Monate immer getan hatte, hielt sie sich am Bugspriet fest, nur balancierte sie nicht mehr auf dem Scheitel der Meerjungfrauen-Galionsfigur. Jetzt, da das Schicksal zerstört war, gab es keinen Grund mehr, es herausfordern zu wollen...
Vor ein paar Minuten war Peter auf das Poopdeck gestiegen. Die beiden hatten einander nicht mehr gesehen, seit Falk zum Gefäss allen Übels geworden war. Sie hatte den Brüdern etwas Freiraum geben wollen, weshalb sie sie allein gelassen hatte.
Wie die Leute sie nennen würden? Die Wiedergeborenen? Die toten Brüder? Die Phönixe? Beide hatte man für tot gehalten, beide waren wiederauferstanden. Hoffentlich würde sich dieses Wunder nie wiederholen...
Hinter ihr räusperte sich jemand und als Sabrina sich umdrehte, fand sie ihren Gegenüber einen Kopf kleiner als sie.
»Verzeiht, Prinzessin«, murmelte der Zwerg und verbeugte sich so tief, dass sein Bart die Planken berührte und er eine riesige Beule an seinem kahlrasierten Hinterkopf entblösste.
»Ist okay...«, murmelte sie unschlüssig, ob sie diesen Kerl kannte oder nicht. Der zu Zöpfen geflochtene, rotblonde Bart und das grobschlächtige Gesicht kamen ihr irgendwie bekannt vor... Vielleicht war er ihr auch nur ein paarmal im Palast über den Weg gelaufen, denn er steckte in der schwarzen Rüstung der Garde.
»Ihr erinnert Euch nicht an mich, nicht wahr?« Der Zwerg hob zwar skeptisch eine Braue, schien es ihr jedoch nicht übel zu nehmen.
»Tut mir leid«, antwortete sie mit einem verlegenen Lächeln.
Er seufzte und lehnte sich an die Reling der Gallion. »Mein Name ist Koda Brond. Ich war der Zwerg, der gestern die Schatzkammer bewacht hatte, als... naja... die Welt unterging.«
»Oh...«, meinte Sabrina, die noch immer nicht recht verstand. »Oh!«, wiederholte sie und machte grosse Augen, als es endlich klick machte.
Koda Brond nickte grimmig. »Ich will Euch nicht beunruhigen, Mylady. Ich... kenne die Umstände der Geschehnisse nicht, doch ich weiss, was ich gesehen habe...« Er senkte die Stimme. »Euren Bruder, der den Teufel in die Schatzkammer schleuste.«
Sabrina wusste nicht, was sie antworten sollte. Dieser Zwerg hatte sie kalt erwischt. Bisher wusste niemand ausser jenen, die dabei gewesen waren, was in der Schatzkammer wirklich passiert war. Sie hatten nie vorgehabt, es zu vertuschen, doch bisher hatten sie es noch nicht öffentlich gemacht. Noch wusste niemand, dass Mile die Welt geopfert hatte...
»Ich weiss nicht, was da drinnen vor sich gegangen war, doch ich habe den Verdacht, dass es der Grund für diese Katastrophe ist«, erklärte er und deutete mit einer fahrigen Geste auf die Trümmer, die sie umgaben.
»Okay...«, meinte sie langsam. »Wir... haben nicht vor, das zu verheimlichen. Es war nur noch nicht der richtige Zeitpunkt, um-«
»Ihr solltet es dabei belassen«, kam er ihr zuvor. »Diese Welt braucht ihre Helden. Wenn man an die Herrscher der Gezeiten den Glauben verliert, gibt es keine Hoffnung mehr.« Er sah sie so ernst an, wie es nur ein vollbärtiger Zwerg tun konnte. »Ich werde für mich behalten, was ich gesehen habe. Und was auch immer es war, was Ihr in dieser verfluchten Kammer getan habt und diese Hölle auslöste, bringt es wieder in Ordnung!« Er schnaubte und stemmte die Arme in die Seiten. »Ich war den Herrschern immer treu, habe immer daran geglaubt, dass Ihr uns retten werdet. Auf mich könnt Ihr zählen, Prinzessin. Lasst es Euch nicht schuldig bleiben.« Erneut verbeugte er sich vor ihr, dann drehte er sich um und stapfte er ohne ein weiteres Wort die Treppe auf das Backdeck hoch.


~Mile~

»Es ist so lange her, dass ich mich an viele der Zusammenhänge nicht mehr richtig erinnern kann. Oskar hatte mich in Caraco aufgespürt. Er brachte mich nach Lexika in das Klinikum der Universität, was damals wie heute der Mittelpunkt des medizinischen Fortschritts und für viele von Krankheiten oder Flüchen geplagte Wesen die letzte Hoffnung ist. Ich war zu dieser Zeit weder verflucht noch krank; ich war in Caraco in schlechten Umgang geraten, hatte den falschen Leuten vertraut und war in eine fatale Drogensucht gerutscht. Hätte Oskar mich nicht früh genug gefunden, würde ich heute vielleicht nicht einmal in der Lage sein, dir das alles zu erzählen.«
»Normalerweise nimmt die Universitätsklinik keine Junkies auf, doch ich hatte Glück und sie machten bei mir eine Ausnahme. Vielleicht war es aber auch nur wieder das Schicksal, dass sich in mein Leben eingemischt hatte. Jedenfalls schaffte ich den Entzug.«
Er hatte sich immer gewünscht, mehr über diese geheimnisvolle Frau zu erfahren, in die er sich so Hals über Kopf verliebt hatte. Sie hingegen hatte es vorgezogen, ihm ein Mysterium zu bleiben.
»Ich blieb in Lexika. Ich hatte in der Stadt des Wissens Freunde gefunden und glaubte, meine Berufung in der Medizin gefunden zu haben. Ich nahm mir ein Zimmer in einem Wirtshaus am Stadtrand, das nicht weit von den Küstenwäldern lag, damit Oskar, wann immer die Stadt ihm zu viel wurde, in die Natur flüchten konnte. Ich begann Medizin zu studieren, träumte davon, eines Tages durch Arkan zu reisen, um als fahrende Medici den Kranken auf dem ganzen Kontinent zu helfen. Wenn man Arzt ist, interessiert es die Leute nicht, von welchem Volk man abstammt oder ob man reines Blut hat.«
Doch nun, da er mehr und mehr Teil ihres Lebens geworden war und die sorgfältig behüteten Geheimnisse ihr eines nach dem anderen entrannen, verstand er auf einmal, warum sie ihm ihre Vergangenheit vorenthalten hatte...
»Einer der Professoren sah Talent in mir und bot mir an, mich weiter zu fördern. So nahm er mich mit an Diskussionsrunden und Privatvorlesungen in der grossen Bibliothek. Ich lernte unglaublich viel unglaublich schnell und das nährte meine Leidenschaft für die Medizin. Ohne dass ich es bemerkte, verlor ich mehr und mehr den Kontakt zu all meinen Freunden, die ich in den vergangenen zwei Jahren in Lexika gefunden hatte und verbrachte praktisch jeden freien Moment mit dem Professor.«
Es war Aruna nicht darum gegangen, ihn in Unwissenheit zu halten. Sie hatte sich am Jetzt festgehalten, da ihre Vergangenheit zu schmerzlich war, um sie wieder und wieder in Erinnerungen durchleiden zu müssen.
»Nach einem Medici-Kongress zu dem er mich mitgenommen hatte, obwohl dieser eigentlich nur für bereits diplomierte Ohren bestimmt war, beschloss er, mich nach Hause zu begleiten. Er behauptete es nicht verantworten zu können, mich zu so später Stunde allein heimlaufen zu lassen.«
Und nun war dieses jüngste ihrer Leben erneut zum Alptraum geworden. Dabei hätte alles so anders ausgehen können... Er durfte nicht zulassen, dass es so endete. Kein neuer Name für Aruna!
»Als wir bei mir angekommen waren, begann er mir auf einmal Avancen zu machen und als ich ihn zurückwies, wurde er handgreiflich. Er drängte mich in mein Zimmer, ich habe mich geweht, doch damals wusste ich mich noch nicht zu verteidigen, er war stark und-« Aruna wand ihre Finger aus seinen und schlug die zitternden Hände vors Gesicht.
»Schon gut«, flüsterte er und strich ihr über das leicht strähnige Haar. »Schh, schh...« Er wusste nicht, wie er es schaffte, so ruhig zu bleiben.
»Ich habe mich geweht.« Bebend liess sie die Hände wieder unter der Decke verschwinden, wo sie sie zu Fäusten ballte. »Ich habe um mich geschlagen und gebissen, doch das hat ihn nur wütend gemacht. Er würgte mich bis zum Rande der Bewusstlosigkeit, schlug zu, wenn ich versuchte, mich ihm zu entwinden. Es war... als wäre ich mit einem Mal kein Mensch mehr. Er hat mir in dieser Nacht meine Würde genommen. Ich war nur ein Gegenstand... Als er fertig war, wollte er einfach gehen. ›Warum?‹, habe ich gefragt und er antwortete, ich dürfe mich nicht beschweren, schliesslich hätte seine Sonderbehandlung einen Preis, den ich zu bezahlen hätte.« Trotzig blinzelte sie die Tränen aus den Augen und wischte sie an der Decke ab. »Was danach passiert ist, weiss ich nicht mehr, da fehlen die Erinnerungen. Oskar hat gesagt, er habe mich nackt auf dem Boden liegend gefunden. Er hat sofort Hilfe geholt.« Sie zog die Nase hoch und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Die Erinnerungen an das traumatische Erlebnis wühlten sie mehr auf, als alles andere, was er bisher mit ihr erlebt hatte. »Die Wirtin kam und liess mir ein Bad ein. Sie wusch mich, brachte mir Essen und legte mich ins Bett. Als ich am nächsten Morgen erwachte, packte ich meine Sachen und verliess Lexika.« Ein böses Lächeln umspielte ihre Lippen. »Oskar hat den Professor noch in derselben Nacht aufgespürt und totgebissen.«
Schwach fühlte auch er grimmige Genugtuung. Gern wäre er in der Zeit gereist, um Oskar zu helfen...
»Wir nahmen das nächste Schiff ans Festland.« Ihre Stimme wurde leiser, monotoner. »Ich stellte fest, dass ich schwanger war...« Sie stiess ein frustriertes Fauche aus. »Ich wollte dieses Kind nicht, ich wollte einfach nur fliehen, vergessen, was passiert war, wollte, dass alles verschwindet, was er mir angetan hat... Also musste ich einen Weg finden-« Sie stockte, suchte nach Worten.
»Du wolltest es verlieren.« Die jähe Feststellung war ausgesprochen, bevor er sie aufhalten konnte. Doch Aruna nickte nur und flüsterte: »Es war kein Kind. Was noch nicht geboren wurde, lebt noch nicht.« Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Ihr silberner Blick stach ihn nieder. »Es lebte nicht, okay?«
»Ja«, sagte er. Er nickte, obwohl es falsch war. »Ja«, sagte er und nickte, obwohl er ihre Meinung nicht teilte, jedoch verstand, warum es in diesem Kontext zu einer unantastbaren Wahrheit werden musste.
Was noch nicht geboren war, durfte noch nicht leben. Denn wenn es gelebt hätte, hätte Aruna damals ihr Kind ermordet. Denn wenn es gelebt hätte, wäre der gestrige Verlust ihres Kindes nicht zu ertragen...
Sie schluckte. Ihr Blick flackerte und sie entspannte sich ein wenig. »Ich reiste in den Osten, nach Virid'agru. Während meines Studiums hatte ich von einem Elf gehört, der in Eth'lugar ungewöhnliche Praktiken betrieb. Er galt als Kastenloser, doch ungewöhnlicherweise tolerierten die Elfen ihn in ihrer Gesellschaft. Vermutlich gerade wegen seiner unkonventionellen Praktiken...« Sie fuhr mit der Hand durchs Haar. »Ich weiss nicht warum, aber jeder nannte ihn den Mottenmann oder Motte.« Sie kämmte die drei weissen Strähnen heraus und zwirbelte sie zwischen den Fingern. »Du hast mich einmal gefragt, warum ich diese drei weissen Strähnen habe und ich bin dir immer eine Antwort schuldig geblieben. Es war eine der Nebenerscheinungen von Mottes Behandlung. Es hatte geklappt, das Kind war fort, doch Motte erklärte mir, dass ich nun unfruchtbar wäre. Und kurz darauf wuchsen mir diese drei weissen Strähnen...« Sie schüttelte den Kopf und das helle Haar legte sich zu dem dunklen. »Ich bereue nicht, dass ich mich dafür entschied, die Schwangerschaft abzubrechen. Ich habe mein Schicksal selbst gewählt.« Sie setzte sich auf und sah ihn ernst an. »Für mich ist etwas, was noch nicht geboren wurde, noch kein Leben. Es ist nichts. Und wenn du das nicht akzeptieren kannst, Mile, haben wir ein Problem. Denn wenn du um etwas trauerst, das ich nicht verstehe, kann ich nicht für dich da sein. Ich werde nicht für dich da sein. Und ich will nicht für dich da sein.« Sie schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und hielt ihm eine Hand hin, damit er ihr folgte.
Wortlos gehorchte er der stummen Aufforderung und richtete sich auf.
»Sobald ich aufgehört habe zu bluten, werde ich keinen Gedanken mehr an das verschwenden, was hätte sein können, denn es ist nie gewesen.« Sie öffnete die Tür der Kajüte, zog und schob ihn grob aus dem Raum.
»Ich rate dir, dasselbe zu tun.« Mit diesen Worten warf sie die Tür zu, drehte den Schlüssel im Schoss und liess ihn allein im Flur stehen. Allein mit allem, was er erfahren hatte, allein allem, was ihm das Herz brach und allein mit der Meinung, die er nicht mit ihr teilen konnte.


~Sabrina~

Aus der Ferne sahen sie aus wie ein riesiger Schwarm Glühwürmchen. Die Lichter ihrer Laternen verteilten sich über Tempus, schwirrten über die rauchenden Trümmer. Sie bliesen in ihre Fanfaren, übertönten das stumme Klagelied der zerstörten Stadt und weckten die Hoffnung aus ihrem Schlummer.
Die Hilfe aus den Wolken erreichte den Ort, wo das Ende begonnen hatte, noch in derselben Nacht. Sie waren Engel, wie sie die Überlebenden anwiesen, sich im Osten zu sammeln, Verletzte aus den Trümmern bargen und Proviant, Kleidung und Waffen zur Basis vor dem Osttor brachten.
Ikarus war ihnen entgegengeflogen, um die Evakuation zu koordinieren. Man konnte von dem Mann halten, was man wollte, doch man musste ihm lassen, dass, wenn es hart auf hart kam, auf ihn Verlass war.
Als der Morgen graute, waren die ersten tausend Überlebenden evakuiert und vor dem Osttor versammelt. Das mochte nach viel klingen, doch wenn man bedachte, wie gross Tempus gewesen und wie sehr es vor Leben gestrotzt hatte, wurde einem bewusst, wie viele gestorben sein mussten...
Wie Mile wohl damit klarkommen würde? Ob er sich die Schuld gab? Sollte sie ihm die Schuld geben? Falk hatte nicht ganz Unrecht. Sie wusste nicht, ob sie Cernunnos wirklich verschont hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sein Tod Falks Erlösung gewesen wäre, doch sicher war sie: Dieses Wissen hätte sie in ein schreckliches Dilemma gebracht. Würde er jemals damit klarkommen?
Ein lautes Krächzten weckte Sabrina aus ihren trüben Gedanken und sie wandte den Kopf nach dem Geräusch.
Sechs schwarze Raben, flatterten an ihr vorbei und landeten hinter ihr auf dem Oberdeck. Keine Sekunde zu spät, denn schon tauchte die Sonne hinter dem Horizont auf und Tageslicht begann die Welt zu fluten. Aus den Raben wurden junge Männer. Olivfarbene Haut und Haar so dunkel wie das Federkleid, das sie eben noch getragen hatten. Einen Moment wirkten sie etwas orientierungslos, doch sie fingen sich schnell wieder.
»Nimmertiger?«, rief Sabrina den ältesten ihrer Cousins und Vasall. »Seid ihr in Ordnung?« Sie eilte zu Regenjäger, um ihm aufzuhelfen.
»Sabrina!« Der König der Streuner war völlig aus dem Häuschen. »Wir müssen reden!«
»Hol ihnen ein paar Decken! Am besten gleich zwei für jeden!«, wies sie einen Matrosen an, der gerade von der Takelage stieg.
»Sabrina!«, wiederholte er dieses Mal nachdrücklicher. »Ich habe eine Entscheidung gefällt.«
»Nimmertiger!« Der Herzkasper kam übers Deck geeilt. In einer Hand hielt er die Krone, die einst Amiéle gehört hatte.
»Hallo, Freund«, begrüsste der junge König seinen Senatoren. »Hatten wir recht mit unserer Vermutung?«
Der Namenlose nickte, während er sich reckte und Nimmertiger ihm die gestohlene Krone aufsetzte. »Die Truppen des Wolkenvolks sind eingetroffen. Die werden noch etwas Proviant einladen und dann geht es Richtung Süden.«
»Was? Wovon sprecht ihr?«, versuchte sie, an der Diskussion beteiligt zu werden.
»Turdidae. Sie wollen nach LaRuh zurückkehren, um dort den neuen Regierungssitz aus Schloss Turdus zu machen. Und wir sollen alle mitkommen«, erklärte Nimmertiger. »Das habe ich mir schon gedacht.«
»Okay...«, murmelte Sabrina unsicher. »Und das findest du nicht gut?«
»Es ist das Richtige. Tempus existiert nicht mehr. Es muss ein neues Kapitol geben. Nur werde ich nicht mitkommen.« Nimmertiger richtete die Krone auf seinem Kopf. »Ich habe meinem Volk ein Versprechen gegeben und das werde ich auch halten.«
Verwundert blinzelte sie ihn an. »Du wirst nach Aurea gehen? Du solltest vielleicht wissen, dass das, was mit Tempus passiert ist, sich bald ausbreiten wird. Der Hutmacher nennt es das Ende der Welt. Irgendwann wird es sich weiter in den Norden ausbreiten und auch Helios wird nicht verschont bleiben.«
»Wenn die Welt untergeht, ist ohnehin niemand mehr sicher. Ich muss nach Helios, ich muss diesen Staat errichten, für den die Hybriden gekämpft haben. Das Zuhause, das ihr Recht ist.«
Regenjäger, der sich noch immer auf Sabrina stützte und bisher nur schweigend der Konversation gelauscht hatte, schnaubte nun belustigt. »Ich kenne meinen Bruder, Cousine. Wenn er diesen Blick hat, wird er sich von nichts abbringen lassen. Es ist nur lange her, dass er ihn hatte. Das letzte Mal, als er davon besessen war, uns von diesem Rabenfluch zu erlösen...«
Tatsächlich hatte sie Nimmertiger noch nie dermassen entschlossen gesehen. »Wann wollt ihr los?«, fragte sie schliesslich.
»So bald wie möglich.«
»Am besten fragt ihr König Orion, ob er sich euch gleich mit anschliesst. Er wird seine Zwerge nach der Evakuation zurück ins Ondorgebirge begleiten«, schlug der Herzkasper vor.
Nimmertiger nahm den Vorschlag mit einem Nicken in Kenntnis. »In den wenigen klaren Momenten, die ich als Rabe hatte, sah ich die Überlebenden vor dem Osttor. Wir werden die Hybriden unter ihnen von unserem Plan erzählen und die, die mit uns kommen wollen, sollen sich uns anschliessen.«
Sabrina schluckte schwer. Zu Beginn hatte sie keinen ihrer Cousins, abgesehen von Nebelfinger natürlich, wirklich leiden können. Doch nun hatte sie sie ins Herz geschlossen. »Was ist mit Mondkind und Nebelfinger? Werdet ihr sie mitnehmen?«
Der Streunerkönig schüttelte den Kopf. »Bringt Nebelfinger nach LaRuh und verwahrt ihn sicher in einem Inkoleum. Dort ist er sicherer. Und Mondkind...« Sein Blick flackerte. »Keiner von uns war je ein guter Bruder für sie. Sie ist sicherer bei dem Hutmacher.«
»Dann weisst du, was sie ist?«
Die übrigen Rabenbrüder hatten sich unterdessen um sie versammelt. Allesamt in die Decken gehüllt, die Sabrina ihnen hatte bringen lassen, bildeten sie eine schützende Mauer um sie herum. Einer von ihnen, Sabrina glaubte ihn als Schwalbentänzer zu identifizieren, beantwortete die Frage, die alle anderen in betretenes Schweigen versetzt hatte: »Wir vermuten es.«
»Nach den jüngsten Ereignissen ist es wohl ziemlich eindeutig«, bestätigte Aschenauge bitter. »Und jetzt, da sie das Ende der Welt in ein Gemüse verwandelt-«
»Aschenauge!«, wies Nimmertiger seinen jüngeren Bruder zurecht. Sanfter erklärte er: »Es ist gut, wenn wir nicht alles wissen. Wir haben eine Ahnung, aber mehr ist auch gar nicht nötig. Wir wollen nur das Beste für sie und wir denken, dass das der Schutz des Hüters ist. Jedenfalls solange Nebelfinger nicht da ist.«
Sabrina nickte. »Ist okay, ich sorge dafür, dass es den beiden an nichts fehlen wird.« Sie nickte in Richtung des Herzkaspers. »Und du, Wechselbalg? Ich will schwer hoffen, dass wir uns keinen neuen Senator suchen müssen!«
Der Narr machte ein mürrisches Gesicht, was wohl ein Lächeln hätte sein müssen. »Aber nein. Dafür gibt es ja den Senat. Der Monarch kehrt in sein Reich zurück und der Senator ist stellvertretend für dieses im Senat vertreten. Ich werde mir Sero schnappen und mit ihm auf Schloss Turdus einziehen.«
Sie zwang sich zu lächeln. »Gut...« Sie wandte sich wieder an ihre Cousins. »Ihr meldet euch, bevor ihr geht. Um eine feste Umarmung kommt ihr nicht rum!«
Sie lachten und nickten.
»Dann lass uns die nötigen Vorbereitungen treffen und dann werden wir uns aufmachen«, bat Nimmertiger und verabschiedete sich mit einem nicken.
»Wer hätte gedacht, dass ich an den Blödmännern mal so hängen würde...«, seufzte sie, nachdem die Brüder unter Deck verschwunden waren, um ihren Kram zu holen.
Der Herzkasper lachte leise und machte ein grimmiges Gesicht. »So ist das mit der Familie. Manchmal mag man sie nicht, aber man liebt sie. Das wird sich nie ändern...«


~Mile~

Die sechs Brüder kamen ihm die Treppe entgegen. Aufgeregt plapperten sie durcheinander, die jüngeren unter ihnen schubsten einander durch den engen Raum - sie schienen alle ungewohnt heiter zu sein. Nur Nimmertiger ging mit ernster, nachdenklicher Miene voran. Erst als er Mile erkannte, hellte sie sich etwas auf. »Hallo Cousin.«
»Hey«, verwundert blieb er stehen. »Apocalypse-Aftershow-Party oder wo wollt ihr hin?« Ein schlechter Witz, den er von irgendeinem 2012-Facebook-Meme hatte.
Nimmertiger zog nur einen Moment skeptisch die Brauen zusammen, dann zuckte er nur mit den Schultern. »Wir gehen uns von Mondkind und Nebelfinger verabschieden, dann gehen wir.«
»Was? Wohin?«
»Zurück in die Wüste Aurea und nach Helios«, erklärte Schwalbentänzer mit sanftem Lächeln.
»Ach... Ihr verlasst uns?«
»Naja, so war das ja eigentlich auch geplant«, brummte Aschenauge. »Der Senat bildet die Regierung und die Monarchen ziehen zurück in ihre Reiche.«
»Das war aber der Plan, bevor die Welt untergegangen ist«, widersprach Mile ihm. »Warum kommt ihr nicht mit nach Turdidae?«
»Weisst du doch«, antwortete Nimmertiger mit einem verschmitzten Lächeln. »Du hast mich damals zum König der Streuner gekrönt. Du warst dabei, als ich meinem Volk mein Wort gegeben habe, ihnen ein Zuhause zu schaffen.«
»Was, wenn wir das nicht aufhalten können und alles was ihr erschaffen haben werdet, in Trümmern liegen wird wie Tempus? Was, wenn es euch verschlingen wird. Ist es das wert?«
Der Rabenmann nickte. »Absolut.« Er wandte den Kopf zu seinen Brüdern, die, ungeduldig wie sie waren, sich schon an ihnen vorbeigedrückt hatten. Mit einem freundlichen Schulterklopfen verabschiedete auch Nimmertiger sich fürs Erste. »Wir sehen uns gleich an Deck...«

Kurz darauf standen sie alle an Deck, ihr Gepäck in Seesäcken verstaut und voller Hoffnung auf das Gelingen ihrer Mission. Alle umarmten einander, wünschten sich Glück und Erfolg für die Zukunft und versprachen einander, sich nicht zu vergessen und einander schon bald wiederzusehen.
Nimmertiger, Schwalbentänzer, Lichterfänger, Regenjäger, Aschenauge und Federreiter stiegen in ihr Rettungsboot. König Orion und der Senator der Zwerge folgten ihnen, während Ikarus sich über die Reling warf, um im freien Fall die riesigen Schwingen zu öffnen und sich in der Luft abfing.
Die Mannschaft stellte sich der Reihe nach an den Tauen auf, mit denen sie das Boot hinablassen würden. Die Sicherungen wurden gelöst und mit lautem »Hauruck!«, begannen sie, die lebensmüden Patrioten abzuseilen.
Nachdem sie das leere Boot wieder hochzogen, bliess der Matrose im Krähennest in sein Horn und die Jolly Roger nahm Kurs Richtung Süden...


~Sabrina~

Falk schien nie wieder schlafen zu wollen. Gut, er hatte auch die letzten drei Monate in seiner schicksalshaften Inexistenz verbracht, von Besinnungslosigkeit und Ruhe hatte er verständlicherweise die Nase voll. Sabrina wollte nur keinen wachen Moment mit ihm verpassen. Doch als die Sonne hoch am Himmel stand und unter ihnen der Ezelwald vorbeizog, hatte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie musste ins Bett!
Also zog sie sich in die Kapitänskajüte zurück und warf sich erschöpft in die Federn.

Sie hatte erwartet, traumlos zu schlafen. Vermutlich war ihr Schlummer auch die meiste Zeit besinnungslos gewesen, bis auf einmal tausend Bilder auf sie einstürzten.
Cernunnos, Blut, Blitz und Donner, Feuer, Zerstörung und ein langer, gellender Kinderschrei. Mondkind.
Sie hörte den Schrei noch immer, als sie aufrecht und schweissgebadet im Bett sass, bis sie erkannte, dass es ihr eigener war.
Mondkind... Der Zustand der Kleinen hatte sich nicht verändert, seit sie in der Schatzkammer ins Koma gefallen war. Vielleicht war dieser Traum eine Botschaft von ihr gewesen. Ein Hilferuf oder so etwas...
Sie liess sich zurück ins Kissen sinken, doch der Gedanke an Mondkind liess ihr keine Ruhe. Schliesslich warf sie die Decke zur Seite, stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hose und ein dunkles Leinenhemd, das sie aus Falks Garderobe geklaut hatte und machte sich auf den Weg zur Kajüte des Hutmachers, in der mit Sicherheit auch Mondkind untergebracht war...

Das Kleinkind war auf bunten Kissen gebettet und unter wunderschön bestickten Decken begraben in einem Nest aus Samt. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmässig, sie schien ganz entspannt zu schlafen, doch immer wieder zuckte es hektisch unter ihren Lidern, als ihre Augen in der Dunkelheit nach etwas suchten.
Der Hutmacher sass neben ihr in einem Krater aus Stoffresten, die sich um seinen Stuhl anhäuften. Auf seinem Schoss lagen Nadelkissen, Garnrollen, Schere und Massband. Gerade war er dabei, ein weiteres Kissen zu nähen, auf das er vermutlich sein Orakel betten wollte. Am Nachttisch links lehnten griffbereit Schwert und Schild. Rechts stand das Flipchart, auf dem er eine Liste zu führen schien:
- In der grossen Bibliothek von Lexika recherchieren
- Zu den Göttern beten
- Schicksalsspinne suchen
- Massen-Weltenmigration
- Ori?
Wenn dies die Optionen waren, die ihnen blieben, um Twos zu retten, dann sollte niemand, der noch Hoffnung hatte, dieses Flipchart sehen. Was für ein Glück, dass sie ohnehin Pessimistin war... Nur dieser letzte Punkt schien irgendwie mehr Substanz zu haben. Zwar wusste sie nicht, was mit Ori? gemeint war und weshalb der Hutmacher ein Fragezeichen dahinter gesetzt hatte, doch dieses Unwissen war vielversprechender als das Wissen, dass zu den Göttern beten, ebenfalls als Möglichkeit in Betracht gezogen wurde.
»Hallo Hutmacher«, begrüsste sie Jeremy Topper.
Der Paladin sah auf und lächelte. »Sabrina, hallo. Schön, dass du vorbeikommst. Bist du hier, um Mondkind zu besuchen?«
Bevor sie ihm antworten konnte, fiel ihr etwas Kleines, Schwarzes um den Hals und quietschte ihr ins Ohr: »Hey, hehey! Na wie geht's? Uh, ich seh's dir an! Du siehst echt voll scheisse aus!«
»Oh, ich freue mich auch dich zu sehen, du Katze der Lüfte und Alpträume«, begrüsste sie Faritales, der charmant wie immer war. »Was machst du eigentlich hier?«
»Der da hat mich eingeladen«, antwortete der Nachtmahr und deutete hinter sich, wo der Hutmacher sich wieder dem Kissen gewidmet hatte. »Er dachte, ich könnte Mondkind vielleicht helfen.« Die grossen, gelben Augen nahmen einen trüben Ausdruck an. »Hat leider nicht geklappt...«
Sie traten an das mit Kissen überhäufte Bett heran und nahm auf der Kante Platz. »Wie geht es ihr?«, fragte sie und zog die Decke etwas runter, um Mondkinds Gesicht besser sehen zu können. Es war ihr zuvor nie aufgefallen, doch so still wie sie jetzt dalag, war die Ähnlichkeit zu ihren Brüdern, vor allem zu ihrem jüngsten, nicht zu leugnen.
»Sie liegt im Koma, liegt da und schläft. Man könnte es für einen Schlaffluch halten.« Jeremy Topper rieb sich die Stirn. »Ist keiner, hab's geprüft...«
»Wenn es kein Fluch ist, macht die Sache eigentlich schlimmer. Verfluchte müssen nicht essen oder trinken. Was ist mit ihr?« Der Nachtmahr kletterte auf Sabrinas Schulter und nahm Platz.
»Die Götter müssen meine Gebete erhört haben. Ich habe ihr vorhin etwas Milch einflössen können. Und als ich ihr etwas Apfelmousse auf einem Löffel an die Lippen gehalten habe, hat sie sich füttern lassen.«
»Zum Glück...«, murmelte Sabrina und Strich der Kleinen eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wird sie denn wieder?«
Der Hüter zuckte mit düsterer Miene die Schultern. »Vor einem Tag hätte ich gesagt: Wenn das Schicksal es so will. Heute ist das völlig dem Zufall überlassen...«
Sabrina schluckte schwer. Mondkinds Anblick fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Sie sah automatisch Falk vor sich, bleich und mit schwarzem Blick... Hastig wandte sie den Blick ab.
»Es muss zu viel für ihr kleines Köpfchen gewesen sein«, brummte der Hutmacher und rieb sich über das Gesicht. »Cernunnos' Tod hat nicht nur das Schicksal zerstört. Die Orakel haben ihren Willen bekommen und nun sind sie frei. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was das in der Kleinen ausgelöst haben muss.«
»Aber warum?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Wie konnte das alles geschehen? Das war doch nicht der Wille des Schicksals! Wie konnte der Teufel alles zerstören?«
Jeremy Topper wich ihrem Blick aus. Bildete sie es sich nur ein oder zitterte seine Unterlippe?
»Jeremy?« Sanft berührte sie ihn an der Schulter. »Du hast uns nie erzählt, was wirklich mit deinem Bruder geschehen ist. Vielleicht... ist es jetzt an der Zeit, diese Geschichte zu erzählen...«
Der Hutmacher nahm ihre Hand von seiner Schulter und bettete sie in seine. »Es ist eine lange Geschichte.«
»Bis nach Turdidae ist es eine lange Reise.«
Er nickte. »Also gut...« Er räusperte sich, liess sie los und faltete die Hände im Schoss. »Es begann vor ziemlich langer Zeit, vor rund 2000 Jahren, ein paar Jahre vor meiner Geburt. Doch schon damals machten die Toppers Hüte. Das Hutmachen ist eine Kunst, die seit Generationen von meiner Familie praktiziert wird. Unser Name war ein Qualitätssiegel, wir waren in ganz Arkan bekannt für unsere Hüte. Auch mein Vater, Arno Topper, war ein talentierter Hutmacher. Meine Mutter, Nalan Topper, geborene Tawny, stammte ebenfalls aus der Gilde.
Die beiden hatten nicht aus Liebe geheiratet. Es war eine Ehe zum Zweck gewesen. Um das Geschäft zu vergrössern, eine Art Hut-Monopol zu bilden, weiss der Kuckuck.
Tatsächlich hatte mein Vater seit seinen Jugendjahren eine Affäre mit dem Hausmädchen gehabt. Risha war ihr Name. Sie war als Säugling vor die Tür des Waisenhauses in Witzend gelegt worden und war mit sechzehn von meiner Familie als Hausmädchen eingestellt worden. Somit war sie ohne jeglichen Besitz und damit kam sie als Ehepartnerin meines Vaters nicht in Frage. Sie hatte keine Chance und als Arno sich dem Willen seiner Familie beugte und Nalan heiratete, brach es ihr das Herz. Doch auch mein Vater war in der Zwangsehe nicht glücklich gewesen und beinahe wären er und Risha miteinander durchgebrannt... wäre Nalan nicht schwanger gewesen. Mit mir.
Nalan und Arno zogen in ein eigenes Heim und so liefen sich Risha und er wenigstens nicht mehr täglich über den Weg. Ein paar Monate später wurde ich geboren und mein erster Atemzug war irgendwo in der Welt der letzte eines Paladins.«
»Du musst mir nicht deine ganze Lebensgeschichte erzählen, Hutmacher«, meinte sie, als er eine Pause machte, um sich den Zylinder vom Kopf zu ziehen und ihnen beiden etwas Tee herauszuzaubern.
»Uh, uh! Ich will auch eine Tasse! Fünf Würfel Zucker!«
»Fünf?« Der Hutmacher hob die Brauen. »Du musst noch wachsen. Ich mache sieben rein!«
»Hallo, Jeremy! Konzentrier dich!«
Er schmunzelte vor sich hin und warf so viele Würfel in die Tasse, dass der Tee überschwappte. » Mein Vater war ausser sich vor Freude und begann langsam, Risha zu vergessen. Diese hingegen hasste ihn dafür, dass er sie verschmäht hatte, hasste meine Mutter, denn diese hatte nun alles, was sie sich je gewünscht hatte und hasste mich aus dem simplen Grund, dass ich existierte. Ein Jahr nach meiner Geburt nahm sie Reissaus, bestahl meine Familie um Schmuck und Silberbesteck und verliess das Wunderland. Sie schwor Rache, doch das sollten wir erst viele Jahre später erfahren...
Risha reiste nach Lexika und versuchte dort, sich an der magischen Universität einzuschreiben, vermutlich hatte sie uns deshalb bestohlen. Man nahm sie an und liess sie studieren, doch nach nicht einmal einem Jahr wurde sie abgewiesen, da man sie des Interesses und der Affinität für schwarze Magie überführt hatte. Daraufhin musste Risha einen neuen Weg finden, um an ihre Rache zu kommen und somit gelangte sie in Kontakt mit einer bestimmten Schwarzmagierin. Damaris Malefizius
»Moment! Die Damaris? Die Dunkle, die nun unter den Trümmern des Zeitpalasts begraben im tiefsten aller Verliesse in einen Klumpen Obsidian verwandelt vergammelt?« Beinahe hätte sie sich an ihrem übersüssten Tee verschluckt. Vorsichtig stellte sie die Tasse auf das Nachttischchen.
»Genau die. Das Ganze fand Jahre vor dem Putsch statt, doch schon damals war mit der Hexe alles andere als zu spassen. Anders als ihre Schwester hatte sie sich nicht auf die wohl dreckigste Form der schwarzen Magie durch Kannibalismus und Lebensraub spezialisiert. Ihre Talente hatten sich in dem Vollstrecken von Flüchen und Verwünschungen gezeigt und das war genau das, wonach Risha gesucht hatte.
Damaris und Risha schlossen ein Geschäft ab. Risha sollte ihre Rache bekommen, im Gegenzug sollte sie Damaris dreizehn Jahre dienen. Somit verfluchte Damaris meinen Vater. Wenn er das nächste Mal grosse Freude empfinden sollte, würde dies der Grund für all das Unglück sein, dass meine Familie ab diesem Zeitpunkt verfolgen würde.« Die Düsternis war aus seinen Zügen verschwunden und hatte schwerem Bedauern das Feld geräumt. »Diesen Moment des Glücks erfuhr mein Vater, als sein Zweitgeborener das Licht der Welt erblickte. Till Topper kam in dem Moment zur Welt, als irgendwo sonst der Patron starb.
Mein Bruder war ein sehr kränkliches Kind. Dünn, klein und er schlief die meiste Zeit. Als Baby schrie er nicht und als Kind spielte er nicht. Wir verarmten, um all die Heilzauber -und Tränke bezahlen zu können, um ihn am Leben zu erhalten.
Nalan, meine Mutter, liebte ihr kleines, krankes Kind abgöttisch und sie trichterte auch mir Tag für Tag ein, ich müsse auf meinen kleinen Bruder aufpassen, ihn beschützen. Und ich tat, was ich konnte.
Mein Vater hingegen... er konnte mit der Situation nicht umgehen. Er schob das Problem von sich und... Ich glaube, er hat Till irgendwann einfach abgeschrieben. Er kümmerte sich nicht mehr um ihn und er beschimpfte meine Mutter, wenn sie ihre Sorgen aussprach oder gar vor Angst um den Kleinen weinte. Irgendwann war er kaum noch zu Hause, kam erst spät abends heim und war dann stets betrunken. Und es wurde immer schlimmer. Irgendeiner seiner Saufbrüder hatte ihm eingeredet, bei Till müsse es sich um einen Wechselbalg, ein Dämonenkind, handeln.«
»Was? Ehrlich?«, fragte Faritales und machte grosse Augen.
Der Hutmacher nickte. »Mein Vater war ein sehr abergläubischer Mann. Und unter dem Einfluss von Alkohol war er zu allem fähig. Das Ganze ging ein paar Jahre und eskalierte irgendwann. Im Dorf war eine schlimme Grippe herumgegangen und natürlich hatte auch Till sie erwischt. Mutter hatte viel Geld für einen Heilzauber für ihn ausgegeben, in dieser Woche war kaum noch genug zum Kaufen für Essen übrig. Als unser Vater an jenem Abend heimkam und nur etwas Brot auf dem Tisch fand, geriet er in Rage. Als er erfuhr, wofür meine Mutter das Geld benutzt hatte, raste er in Tills und mein Zimmer, zerrte ihn aus dem Bett und schleppte ihn in den Hof, um ihn im Brunnen zu ertränken.« Jeremys Blick hatte sich in weiter Ferne verloren, wo die traumatischen Erlebnisse sich erneut abspielten. Sein Gesicht war ein Spiegel dessen, was er sah. Er war ganz blass, seine Züge bitter und enttäuscht. »Mutter versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, ihn aufzuhalten, doch er war zu stark, stiess sie in den Dreck. Und ich... ich wusste nicht, wie mir geschah, ich wollte nur meinen Bruder retten, also zog ich einen Spaten aus dem Blumenbeet und schlug Vater bewusstlos...« Seine Stimme brach.
»Oh Jeremy...« Sie konnte nicht anders, als ihren Mentor und Freund an der grossen, mit Fingerhüten gespickten Hand zu nehmen und sie fest zu drücken.
»Mutter schnappte sich alles, was irgendwie von Wert war und was sie tragen konnte und wir hauten ab. Wir legten den Namen Topper ab und nahmen ihren Mädchennamen, Tawny, an. Sie reiste mit uns aufs Festland, genauer bis in die Stadt Sywarn, die südlich des Zwillingwalds Naïa am breiten Handelsfluss, der Hora, liegt und grösstenteils von Menschen und Zwergen bewohnt wurde. Nalan war mit ihren knapp fünfundzwanzig Jahren eine junge, hübsche Frau und die Leute hatten Mitleid mit ihr, als sie mit ihren beiden Kindern durch die Hafenstadt streunte und nach Arbeit und Obdach suchte.
Besonders das Herz einer Wirtin erwärmte sich und sie stellte Mutter als Schankmeid ein und gab uns auf unbefristete Zeit zwei Zimmer. Sie versprach uns so lange Obdach, wie Mutter ihre Arbeit gut machte.
Dort wuchsen wir auf. Die beiden Zimmer waren sehr klein, in je einem stand ein Bett. Till und ich teilten uns eines, doch das störte uns nicht. Wir standen uns als Kinder sehr nahe...«
Sabrina nickte. Sie dachte an die Zeit, als sie als Kind selbst oft ins Bett ihres Bruders gekrochen war, vor allem nach dem Verschwinden ihrer Eltern... Die Alpträume hatten damals nur ihr grosser Bruder vertreiben können... »Wie traurig, was aus eurem engen Verhältnis geworden ist.«
Der Hutmacher schnaubte. »Wenn du wüsstest...« Er löffelte den Zucker vom Grund seiner Teetasse. »Was mein Vater getan hatte, war unverzeihlich und erschreckend gewesen und doch habe ich ihn damals vermisst. Ich liebte Till, doch ich liebte auch meinen Vater. Mich hatte er nicht verschmäht wie meinen Bruder, mir hatte er immer das Gefühl gegeben, geliebt zu werden. Er hatte mich seit ich laufen konnte mit in die Hutwerkstatt genommen. Ich hatte das Talent unserer Vorfahren im Blut und war sehr geschickt mit Nadel und Faden. Dieses Geschick nutzte ich, indem ich ausserhalb der Schulzeit den Gästen der Wirtschaft Socken stopfte, Löcher flickte und Knöpfe annähte. Das brachte uns ab und an ein paar zusätzliche Groschen ein, die wir gut gebrauchen konnten.
Till machte sich auch gut. Er war immer kränklicher, kleiner, dünner und schwächer als die anderen Kinder in seinem Alter, doch es ging ihm sichtlich besser als früher. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass da nicht mehr sein Vater war, der ihm ständig seine Geburt vorwarf...
Es war alles gut, alles friedlich, bis während eines besonders schlimmen Winters die Wirtin an einer Lungenentzündung erkrankte und starb...«
»Oh«, stiess Sabrina aus.
»Oh...«, brummte Jeremy und machte ein düsteres Gesicht, während er seine Tasse erneut füllte. »Mutter fürchtete erst, der Wirt, der zwar ein freundlicher Mann, jedoch weniger grosszügig wie seine Frau war, würde uns rauswerfen, doch er liess uns bleiben. Er trauerte ein halbes Jahr, während dem er sich kaum noch in seiner Taverne blicken liess. In dieser Zeit schmiss meine Mutter den Laden, ohne sie wäre das Wirtshaus zugrunde gegangen.
In dieser Zeit begann ich schlecht zu schlafen. Alpträume plagten mich, ich sah immer diese Frau... Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, sie tauchte immer nur in meinen Träumen auf. Sie war mittleren Alters, recht dürr, hatte lange, braune Locken die zu ergrauen begonnen hatten. Sie sah völlig normal aus, hätte mir irgendwo auf den Strassen Sywarns begegnen können, wären da nicht ihre Augen gewesen... Violett.«. »Ein Orakel?« Faritales flatterte aufgeregt mit den Flügeln.
Der Hüter nickte. »Ich sah sie vor mir, wie sie sich wand unter Qualen und weinte und schrie...« Er schüttelte den Kopf, wie um den verstörenden Traum zu verscheuchen, der sich wieder in seinen Kopf geschlichen hatte. »Ich wusste damals noch nichts von meinem Schicksal, dass ich eines Tages ein Hüter sein würde, ich wusste nicht, was diese Träume wirklich waren: Hilferufe eines Orakels nach seinem Paladin...«
»Wo war sie denn, dass sie so gelitten hat?«
Jeremy Topper lachte freudlos. »Es ist schon lustig, wie das Schicksal alles miteinander vernetzt hat... Du erinnerst dich, dass Risha Damaris fand, um von ihr zu lernen?«
Sie nickte.
»Damaris war es gelungen, das Orakel und ihre Hüter in ihre Gewalt zu bekommen. Sie machte Experimente mit ihnen, versuchte, das Schicksal zu manipulieren doch stattdessen hatten ihre Versuche nur zum Tod des Paladins und später zu dem des Patrons geführt... Am Tage meiner und Tills Geburt. Das Orakel - ich fand heraus, dass ihr Name Jola gewesen war - hatte sie bisher verschont.«
»Es war Damaris, die das Orakel gequält hatte? Aber warum?«
»Aus demselben Grund wie sie alle Orakel jagten. Um etwas über ihre Zukunft zu erfahren, um sie zu verändern, um das zu bekommen, was sie wollen.«
»Und dafür musste sie diese Jola quälen?« Die Boshaftigkeit anderer, deren Rücksichtslosigkeit entsetzte sie immer wieder.
»Weil sie Experimente mit ihr machte. Über Jahre hinweg. Und als sie es irgendwann nicht mehr ertrug, begann sie Hilferufe auszusenden. Sie war ein Orakel, sie wusste, dass ihre zukünftigen Hüter erst Kinder waren. Ich vermute, dass sie es nur aus diesem Grund so lange ausgehalten hatte, bevor sie sich in meine Träume schlich...« Er räusperte sich. »Jedenfalls... Als ich eines Nachts wieder in Schweiss gebadet erwachte, hörte ich seltsame Geräusche aus dem Zimmer meiner Mutter. Ich stand auf, um nachzusehen, steckte den Kopf durch die Tür und sah...« Als wären ihm die eigenen Worte zuwider, stockte er und rümpfte er die Nase. »Ich sah den Wirt mit meiner Mutter...«
»Oh...«, sagte sie wieder, denn manchmal war das das einzige, was man sagen konnte.
»Mutter entdeckte mich und scheuchte mich mit Gesten weg. Als ich sie am nächsten Tag nach dem Wirt fragte, stritt sie alles ab und behauptete, ich hätte nur geträumt. Doch meine Kindheit war schon lange nicht mehr behütet gewesen, ich wusste, was ich gesehen hatte und ich zog meine Schlüsse. Der Wirt hatte wohl beschlossen, dass Nalans Arbeit in der Taverne nicht mehr genug war, um unsere Zimmer zu bezahlen und versuchte so die Leere, die seine Frau mit ihrem Tod hinterlassen hatte, mit den Nächten in Gesellschaft meiner Mutter zu füllen. Manchmal... hörte ich ihn den Namen seiner Frau rufen... Und meine Mutter... sie hatte zu grosse Angst, dass wir auf der Strasse landen würden.
Ich versuchte, sie zu überreden, mit uns fort zu gehen, doch sie wollte nicht. Der Sommer war beinahe um und die Winter sind hart. Und so ging dieser Alptraum weiter und als ich dachte, es könnte nicht noch schlimmer werden, als mein Vater auftauchte...«
»Arno? Er hat euch gefunden?«
»Hat er. Er kam in die Taverne wie ein Wirbelsturm und sobald er Nalan sah, brüllte er los, er würde sie umbringen und Till und mich ebenso. Wäre der Wirt nicht gewesen, hätte es böse enden können. Arno war stark, doch er war stärker, hielt ihn fest. Er versäumte jedoch, ihm das Maul zu stopfen. Mein Vater war wie von Sinnen, bezeichnete Nalan als Hure, die ihm seinen Erstgeborenen, sein liebstes Kind genommen und es vorgezogen hatte, ein verfluchtes Teufelsbalg grosszuziehen. Er nannte sie Ehebrecherin, Hure und eine Hexe.
Ich versuchte, die Situation zu entschärfen, ohne dass irgendjemand Schaden davontragen musste, also beschwichtigte ich meinen Vater und versprach ihm, ich würde mit ihm kommen, wenn er dafür Mutter und Till in Ruhe lassen würde.
Am nächsten Morgen reiste ich mit meinem Vater ab. Mein Name war nun wieder Topper...«
»Das ist ja schrecklich... Du bist sehr tapfer gewesen.«
»Mag sein, doch es war die falsche Entscheidung. Erst lange Zeit später erfuhr ich, dass Mutter nur ein halbes Jahr später in den Gassen Sywarns erfroren war. Der Wirt hatte sie vor die Tür gesetzt, weil er kein Wechselbalg beherbergen wollte.«
Sabrina konnte gar nicht glauben, was sie da hörte. Wie konnte die Welt so unfair sein?
»Vater brachte mich zurück nach Wunderland. Wir führten das Familiengeschäft fort und ich machte meine Ausbildung als Hutmacher. Arno hatte sich kaum verändert, war noch immer ein schlimmer Trinker. Der Ruf der Toppers als Meister des Behütens war längst nicht mehr derselbe.
Diese Zeit war schlimm. Ich vermisste meine Mutter und Till und meinen Vater zurückzuhaben war kaum ein Trost. Zu allem Überfluss wurden meine Träume immer schlimmer. Das Orakel aus meinen Träumen kam jede Nacht und sie schien von Mal zu Mal dem Tode näher. Und eines Nachts tauchte sie gar nicht mehr auf. An ihrer Stelle sah ich ein kleines Mädchen, kaum älter als acht Jahre alt.«
»Jola ist gestorben und-«
»Marie war die Erbin dieses Schicksals. Nun muss ich Rishas Geschichte jedoch noch ein wenig ergänzen... Sie war in den letzten Jahren Mutter geworden...«
Herrscherin und Dämon schnappten nach Luft. »Du willst doch nicht andeuten, dass...«
Der Hutmacher setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Risha hatte keine Ahnung, dass sie Damaris geholfen hatte, ihre Mutter zu ermorden. Jedenfalls bis zu dem Tag, als ihre kleine Tochter wenige Tage nach Jolas Tod über Schmerzen in den Augen zu klagen begann. Als sich das warme Braun ihrer Iriden mehr und mehr zu einem satten Violett verfärbte, wurde Risha klar, in welcher Gefahr sich ihr Kind in Gegenwart Damaris' befand. Sie konnte die Hexe jedoch auch nicht verlassen, sie hatte ihre Jahre bei ihr noch nicht abgearbeitet. Deshalb brachte sie die Kleine nach Ardie'tall, um sie dort einer Gruppe Zigeuner zu überlassen.«
»Zigeuner?«, wiederholte sie verwundert.
Der Paladin nickte. »Vor dem Putsch der Dunklen war das Gauklervolk des Nordens eine blühende Kultur. Zusammengesetzt aus Dieben, Trickbetrügern, Artisten, Taschenzauberern und Vagabunden. Sie akzeptierten ausschliesslich Menschen unter ihresgleichen. Bei manchen Hybriden mit Menschenblut drückten sie ab und an ein Auge zu, doch jedem anderen Volk zeigten sie die kalte Schulter.
Ihr Kapitol ist auch heute noch die Pfahlbautenstadt Caraco, die an der Grenze zwischen den Zwillingswäldern über die Hora gebaut wurde. Viele nennen sie auch die Stadt der Kinder, denn jedes Strassenkind, das vorhat zu überleben, wird versuchen, dorthin zu gelangen, denn die Gaukler nehmen die Kinder auf und erziehen sie zu ihresgleichen.
Und so geschah es, dass Marie und Till sich zum ersten Mal begegneten.«
»Till hat sich also auch dem Gauklervolk angeschlossen?«
Jeremy Topper nickte und schob den Teesatz in seiner Tasse herum. »Wo hätte er auch sonst hinsollen? Mich suchen und dabei Gefahr laufen, von meinem Vater empfangen zu werden? Und in Sywarn hatte er auch nicht bleiben können, sonst wäre er auf der Strasse erfroren wie unsere Mutter. Zum Glück war mein Bruder zwar kränklich, aber nicht dumm. Also suchte er sich eine Gruppe Gaukler und schloss sich ihnen an. Und als er Marie begegnete, hatte das Orakel seinen Patron.
Tatsächlich tauchte fortan auch Till in meinen Träumen auf. Nicht so regelmässig wie Marie, aber er war da und irgendwie tröstete mich das. Um ehrlich zu sein war es das einzige, was mich nicht verzagen liess, denn mit Vater war es immer schlimmer geworden. Er verprellte unser ganzes Einkommen in Kneipen für Fusel und ich hatte ihn immer wieder in später Nacht suchen gehen müssen, damit er nicht an seinem eigenen Erbrochenen erstickte oder erfror.« Er schnaubte. »In meinen dunkelsten Stunden bin ich Risha manchmal dankbar, dass sie, sobald sie ihre letzten Jahre in Diensten Damaris' verbracht hatte, loszog, um zu beenden, was sie begonnen hatte.« Achtlos warf er seine Tasse zurück in seinen Zylinder. Die Lust auf Tee schien ihm vergangen zu sein. »Es war eine jener Abende, als ich Arno aus einer seiner Sauforgien holen und aus der Kneipe zerren musste. Er war hackedicht. Ich stützte ihn und achtete mehr auf meine Füsse als auf das, was vor uns lag, darum kann ich nicht sagen, woher sie kam oder ob sie tatsächlich aus dem Nichts erschienen war. Eine Frau in einem dunklen Kleid, langen, braunen Locken und bösen, dunklen Augen. Instinktiv fürchtete ich mich vor ihr, doch wir konnten ihr nicht mehr entkommen... Sie zeigte auf meinen Vater und nannte ihn beim Namen. Erst dachte ich, das wäre etwas Gutes, da sie sich kennen würden, doch dann sagte sie Dinge...« Er rieb sich die Stirn, als hätte er Mühe, sich daran zu erinnern. »Sie behauptete, ich würde Arno hintergehen, ihm unser Vermögen stehlen und fliehen, um wieder bei Nalan und Till zu sein. Und mein Vater glaubte ihr alles, ohne mich anzuhören... Er war wie von Sinnen! Und... so stark...« Er griff sich an den Hals, als würde er dort noch immer Arnos Hand zudrücken fühlen. »Er würgte mich und ich glaubte, ich müsse sterben... Und auf einmal sah ich dieses Mädchen aus meinen Träumen wieder vor mir... und Till... Und irgendwie gab mir das die Kraft, die ich brauchte. Ich... bekam einen losen Pflasterstein zu fassen und schlug meinen Vater nieder...« Als ihm die Tränen über die Wangen zu kullern begannen, zupfte er hastig ein Taschentuch aus der Brusttasche und tupfte sich die Augen ab. »Er rutschte von mir runter und blieb im Schnee liegen. Sein Blut färbte alles rot. Er war... er war tot. Ich... habe meinen Vater getötet.« Er wandte den Kopf ab. »Vatermord. «
»Es war Notwehr, du hattest keine Wahl«, versuchte sie ihn unbeholfen zu trösten, doch der Hutmacher schüttelte sie ab.
»Ich weiss! Das ist nicht gestern geschehen, das war vor über tausend Jahren. Trotzdem wird man so etwas nie los...« Er seufzte tief und streckte den Rücken durch. »Wie auch immer...« Er schnäuzte sich die Nase und fuhr fort: »Als die Frau, bei der es sich natürlich um niemand anderes handelte als Risha, erkannte, dass der Hieb mit dem Stein Arno den Schädel eingeschlagen hatte, drehte völlig durch. Heulend und kreischend brach sie zusammen, begann wirre Zauber zu wirken, um Vater zu heilen, doch es war zu spät.
Ich war noch ziemlich benommen und alles drehte sich, doch irgendwie gelang es mir, mein Messer zu ziehen und die Frau, die mitverantwortlich am Tod meines Vaters war, zu überwältigen. Ich hielt ihr die Klinge an die Kehle und verlangte Antworten.« Jeremy Topper schauderte. »Sie lachte gellend und erzählte mir vom Hass auf meine Eltern und von dem Fluch, der dank ihr auf Till lag. Ich hätte sie am liebsten umgebracht, doch ich tat es nicht. Ich wollte sie zwingen, Till von dem Fluch zu erlösen, doch sie lachte nur noch mehr und sagte: ›Auf deinem Bruder liegt ein Fluch, Junge. Niemand kann das Unglückskind heilen. Das Pech ist nun sein Schicksal.‹ Dann verschwand sie und liess mich mit der Leiche meines Vaters zurück.«
»Warte...«, bat sie ihn, um ihre Gedanken zu ordnen. »Dann ist dieser Fluch schuld an dem, was aus Till wurde?«
Er wog den Kopf hin und her. »Es mag seinen Beitrag gehabt haben, doch meiner Meinung nach hatte mein Bruder eine Wahl. Aber dazu komme ich gleich.« Er runzelte die Stirn. »Diese Erinnerungen sind etwas verschwommen, denn alles was danach kam... Das war alles zu viel damals... Ich bin eine Weile neben meinem Vater im Schnee liegen geblieben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und als die ersten Passanten vorbeikamen und die Leute mich fragten, was passiert sei, gestand ich den Mord. Ich wurde vor Gericht geführt und du musst wissen, dass damals noch die Herzkönigin Wunderland regierte. Natürlich wurde ich für schuldig erklärt und die Königin wollte mir den Kopf abhacken lassen. Meine Rettung war tatsächlich mein Name. Topper war einst ein Synonym für Hutkunst gewesen und so durfte ich leben, um Hüte zu machen. Man sperrte mich in eine Zelle und liess mich schneidern. Nur wenn Hinrichtungen stattfanden, durfte ich aus der Zelle, denn es war der Wille der Königin, dass ihr Hofstaat jeder Köpfung beiwohnen musste. Das hat mich beinahe den Verstand gekostet...«
»Wie hast du es da wieder raus geschafft?«, erkundigte sie sich bedrückt von der Vorstellung, jahrelang Tag für Tag Köpfe rollen sehen zu müssen...
»Ich habe gar nichts geschafft. Till und Marie retteten mich aus meinem Elend, aber ich greife vor. Mein Bruder hatte in Caraco von dem Gauklervolk das Betrügen und Stehlen gelernt. Er macht seine Sache wirklich gut und wurde von ihren Banden gern mit auf ihre Raubzüge genommen. Marie hingegen tat sich schwer. Sie litt unter Anfällen, während denen sie wirres Zeug zu reden begann und nicht ansprechbar war. Die Medici des Dorfes hielten es für eine Form von Fallsucht. Heute wissen wir natürlich, dass dies erste Prophezeiungen gewesen sein müssen.«
»Fallsucht? Du meinst Epilepsie?«
Er zuckte mit den Schultern. »Risha war nach Arnos Tod losgezogen, um ihre Tochter zu suchen und tatsächlich fand sie sie in Caraco. Doch Marie traute ihr nicht über den Weg, sie erinnerte sich natürlich noch daran, wie ihre Mutter ihre Rachelust ihr vorgezogen hatte und sie wies sie zurück. Als Risha nicht lockerliess, schritt Till ein. Risha erkannte den Jungen, den sie einst verwünscht hatte, denn er sah als Kind meiner Mutter sehr ähnlich. Sie drohte, ihn umzubringen, sollte er sich nicht von ihrer Tochter fernhalten.«
»Das wird Marie und Till kaum auseinandergebracht haben«, vermutete sie mit einem sachten Lächeln. Sie kam nicht umhin, Sympathie für den jungen Teufel zu haben. Damals war er auch noch ein Kind gewesen...
»Natürlich nicht. Die beiden waren seit Jahren Strassenkinder gewesen. Sie packten ihre Sachen, stahlen ein Boot und liessen sich den Fluss hinab bis nach Sywarn treiben. Von dort aus flohen sie weiter bis nach Ardie'tall. Dort erinnerte sich Marie an die Burg etwas abseits der Stadt, wo sie mit ihrer Mutter und der Hexe Damaris die ersten sieben Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Tatsächlich fanden die beiden dort alte Aufzeichnungen Damaris'. Notizen ihrer Forschungen und Experimente. Und sie fanden Gladito und Clytia.« Er deutete auf Schild und Schwert der Hüter, die noch immer am Nachttisch lehnten. »Ich weiss nicht, ob sie es damals nur für ein Spiel hielten oder ob ihnen wirklich klar war, was sie da entdeckt hatten. Mein Bruder muss damals etwa sechzehn gewesen sein. Marie vielleicht vierzehn. Vielleicht war es auch das Schicksal, ach was rede ich, natürlich war es das Schicksal, das ihnen den Weg gezeigt hatte. Jedenfalls war mein Bruder mit seinem Schild nun tatsächlich ein Patron und er wusste um seine Pflicht. Nun fehlte nur noch der Paladin und Till war sich sicher, dass ich das sein musste. Von seiner neuen Bestimmung beflügelt hatte er es sich in den Kopf gesetzt, mich zu finden und mit Marie an seiner Seite machte er sich auf, um mich zu suchen.«
»Ich hatte immer gedacht, dass du der jüngere Bruder wärst. Aber da lag ich wohl falsch...«
Jeremy Topper lächelte sie an. »Es mag in deinem Fall stimmen, dass das jüngere Geschwister das weisere ist, aber bei Till und mir war es klassisch...« Er zwinkerte ihr zu und erzählte weiter: »Mir ging es damals um einiges schlechter als meinem kleinen, wilden Bruder. Ich hatte unterdessen völlig den Verstand verloren. Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute, dass die Herzkönigin, dieser Succubus, als den wir sie mittlerweile ja enttarnt haben, in meinem Kopf herumgespukt haben musste. Ich dachte immer, die Umstände meiner Jugend hätten mich verrückt gemacht, aber wahrscheinlich war es Corda, diese Dämonin... Sie hatte mich unterdessen aus meiner Zelle befreit und mir erlaubt, einen Laden in der Stadt auf zu machen. Dort hatte ich begonnen, Sitzungen stets mit Tee und Kuchen abzuhalten.« Er seufzte. »Manchmal vermisse ich sie schon, die verrückte Teegesellschaft. Ach, wir hatten immer irgendetwas Abwegiges zu bereden und Irrwitziges zu diskutieren und Unver-«
»Hutmacher!«
»Pardon! Wo waren wir? Ah ja...« Er kratzte sich verlegen unterm Kragen und fuhr fort: »Till und Marie fanden meinen Laden und ich fiel aus allen Wolken. Meinen Bruder hatte ich nie zu träumen gewagt, wiederzusehen und das Mädchen aus meinen Träumen eines Tages kennenzulernen, das hatte ich noch weniger geglaubt. Doch da standen sie in Fleisch und Blut und ich zögerte keine Sekunde, mit ihnen zu gehen. Dass ich nicht mehr in eine Zelle gesperrt war, erleichterte meine Flucht natürlich um einiges. Wir nahmen noch an demselben Tag eine Fähre ans Festland. Sie brachten mich nach Ardie'tall in die Burg und zeigten mir ihre Entdeckungen. Ich war damals zwanzig, wenn ich mich recht erinnere, und somit etwas reifer als die beiden. Mir wurde klar, was für eine Verantwortung wir in die Wiege gelegt bekommen hatten. Wir blieben in der Burg, ich verdiente uns als Schneider und Hutmacher unser Brot und Till lernte mit Marie, mit dem Chaos in ihrem Kopf umzugehen.« Jeremy Topper schüttelte gedankenverloren den Kopf, sein Blick lag auf Mondkind. »Dieses vierjährige Mädchen hat es irgendwie geschafft, mit all diesen wahnsinniggewordenen, toten Orakeln in ihrem Kopf klar zu kommen. Das grenzt an ein Wunder. Marie hat das nie so in den Griff bekommen wie sie.«
»Aber wie kann das sein? Marie war doch dazu geboren worden, ein Orakel zu sein. Mondkind da nur irgendwie hineingeraten.«
»Vermutlich hatte das wirklich mit Rishas Fluch zu tun. Wer weiss, was Damaris damals mit Jola angestellt hatte. Es wird ihr gelungen sein, am Schicksal zu pfuschen, ansonsten hätte es gar nicht möglich sein können, Till mit diesem Unglücksfluch zu belegen. Vielleicht hätte er sich ohne diesen Fluch nie in Marie verliebt, wer kann das schon sagen...«
»Dann hat Till sie mit seinem Unglück... angesteckt?«
»Glücksmarie, Pechmarie, Cecily, die Göttin über Glück und Unglück war nie auf ihrer Seite. Ich weiss es nicht, es ist eine Theorie.«
»Also gut. Und was ist dann passiert?«
»Nun... wir blieben ein paar Jahre dort, bis uns die Leute aus dem Dorf davonjagten. Wir reisten durch ganz Arkan, wurden Zeugen von Wundern und Katastrophen, sahen Leben gedeihen und den Tod, meist in Form der Pestilenz, durch das Land ziehen. Und es geschah, was sich seit langem angebahnt hatte. Till und Marie verliebten sich. Sie liebten einander vermutlich schon seit sie sich das erste Mal gesehen hatten, doch nun erkannten sie es selbst.« Traurig betrachtete er seine Handflächen. »Ich habe meinem Bruder immer alle Liebe, alles Glück der Welt gewünscht, nur dieses eine Mädchen, diese eine Frau, sie hätte er nicht lieben dürfen... Ich habe es in den Texten der Burg gelesen, dieses Verbot, doch ich brachte es nicht übers Herz, die beiden zu warnen. Zu spät wurde mir mein Fehler bewusst.
Marie ging es immer schlechter. Die Orakel in ihrem Kopf setzten ihr schlimm zu. Ich versuchte ihr zu helfen, suchte nach Zaubern, um ihr Leiden zu lindern, doch nichts wollte helfen.
Was ich übersehen hatte, war, dass Marie mindestens so stur war wie mein Bruder. Sie wusste genau, warum die Orakel sie in den Wahnsinn trieben.
Irgendwann schienen die alten Orakel so verzweifelt, dass sie sich auch in meinen Kopf zu schleichen begannen. Sie besuchten mich in meinen Träumen und erklärten mir das Problem: Ein Orakel und ein Hüter dürfen einander nicht lieben.« Er seufzte tief und starrte an die Decke. »Diese dummen Verliebten. Wie sie alle glauben, ihre Liebe sei wichtiger als die ganze Welt.«
»Nicht alle«, flüsterte sie und dachte an den zertrümmerten Glassarg in dem Falk gelegen hatte.
Fari tätschelte ihr tröstend die Schulter.
»Ich versuchte die beiden zur Vernunft zu bringen, ich wollte ihnen erklären, warum es diese Regel gab, doch sie wollten nicht hören. So kam es, dass Marie nicht mehr blutete. Ihr wurde immer wieder aus unerfindlichen Gründen schlecht und nach und nach begann ihr Bauch zu wachsen. Bei den Göttern, als mir das auffiel, wurde ich so, so wütend. All die Warnungen, all das Bitten und Betteln und sie hatten es doch nicht lassen können. So unverantwortlich, sie waren doch selbst noch halbe Kinder!
Dieses Leben, das in Marie heranwuchs, war nicht erlaubt, es hätte nie gezeugt werden dürfen. Ein Kind, das die Macht eines Hüters und eines Orakels in sich trug, das durfte es nicht geben. Das wäre zu viel Macht, selbst das Schicksal würde es nicht mehr unter Kontrolle halten können!«
»Ein Trickster...«
»Ja, es... es musste weg, es... es-« Die Stimme versagte ihm und er vergrub das Gesicht in Händen. Selbst als ihm der Zylinder vom Haupt rutschte und in den Stoffhaufen landete, machte er keinen Wank.
»Du wolltest, dass sie es abtreibt?« Die Frage ging ihr nur schwerlich über die Lippen. Es fühlte sich falsch an, es nur auszusprechen.
»Du wirst mich für ein Monster halten, aber ja. Ich war davon überzeugt, dass es der einzige Weg wäre. Ein solches Kind durfte niemals geboren werden. Es durfte keine Trickster geben!« Traurig schüttelte er den Kopf. »Manchmal bin ich mir nicht sicher, wer von uns der Böse war...«
Sie schluckte. »Ich... ich halte dich nicht für ein Monster. Und du bist nicht böse. Es... waren die Umstände...«
Er seufzte. »Es war ein moralisches Dilemma. Egal was ich getan hätte, es wäre falsch gewesen. Mein Bruder, der hielt mich für ein Monster. Und ich verstehe ihn ja. Aber wie kann das Leben eines Kindes eine ganze Welt aufwiegen?«
»Aber das Kind wurde doch schlussendlich geboren, nicht wahr? Und die Welt ist trotzdem nicht unter gegangen.«
Der Hutmacher wog den Kopf hin und her. »Schlussendlich ist sie es ja doch.« Müde rieb er sich die Augen. Seine Geschichte zu erzählen, erschöpfte ihn sichtlich. »Till und Marie liefen vor mir davon. Mein Bruder ging so weit, dass er ein weiteres Gesetz der Hüter brach und schwarze Magie nutzte, um ihre Spuren zu verwischen. So waren sie mir immer einen Schritt voraus. Ich habe sie durch halb Arkan gejagt, monatelang. Bis ich sie in Caraco aufspürte.«
»Soll das heissen, sie sind zu Risha gegangen?«
»Marie hatte ihrer Mutter nicht verziehen, doch in ihrer Furcht vor mir nahm sie das Risiko in Kauf. Sie wusste, dass nur Risha mächtig genug wäre, ihr Kind zu beschützen.
Risha war entsetzt, als sie hörte, dass ihre Tochter schwanger von Till war. Vom Sohn eines Toppers. Doch es war auch Maries Kind und somit ihr Enkel. Sie willigte ein, ihnen zu helfen, aber nur unter der Voraussetzung, dass Till Caraco verliess.«
»Und das tat er«, vermutete der Dämon.
»Um seine geliebte Marie zu retten«, bestätigte der Hutmacher. »Um seiner kleinen, verbotenen Familie zu helfen, reiste er mir entgegen. Als wir uns trafen forderte er mich zum Kampf heraus. Ich wollte aber nicht gegen meinen Bruder kämpfen. Von klein auf hatte ich immer nur alles getan, um ihn zu beschützen, selbst wenn das hiess, ihn vor dieser dümmsten aller Entscheidungen zu bewahren. Dieses Kind war verboten! Es wäre ein Trickster, vom Schicksal nicht zu kontrollieren. Doch Till wollte nicht hören, er war überzeugt, dass es einen anderen Weg gäbe... Also kämpften wir. Patron gegen Paladin. Schild gegen Schwert. Und das Schwert gewann...« Seine Stimme war leise geworden. Und ruhig. Als hätte er mit diesem Teil der Geschichte seinen Frieden gemacht. »Ich überwältigte meinen Bruder, schlug ihn mit dem Knauf Gladitos nieder und liess ihn liegen. Ich ritt nach Caraco und fand Rishas Haus...« Erneut begann er zu weinen, doch dieses Mal liess er es geschehen. »Marie war im Kindbett verstorben...« Er schniefte. »Auch ich habe Marie geliebt. Jeder Hüter liebt sein Orakel, egal ob Patron oder Paladin. Doch es gibt Regeln, Grenzen und die müssen eingehalten werden! Sie so daliegen zu sehen...« Er konnte den Satz nicht beenden. Mit zitternden Fingern strich er den Stoff in seinem Schoss glatt. »Risha hielt das Kind in Armen. Es... hat geschrien wie am Spiess... Ich wollte es ihr wegnehmen und meine grausame Pflicht erfüllen, es... in die Hora werfen, doch... ich sah ihre Augen. Ihre Augen...«
»Violett«, hauchte Sabrina.
»Ja.« Auch er wagte nur zu flüstern. »Und kein Hüter kann einem Orakel etwas antun.« Zitternd holte er Luft. »Ich sah, wie Risha um ihre Tochter weinte. Und trotz alledem, was sie uns angetan hatte, tat sie mir leid. Sie mochte kein guter Mensch sein, doch sie war Maries Mutter gewesen. Und sie war mächtig. Ich wusste, sie würde das Kind beschützen können. Also wies ich sie an, zu fliehen. Sie sollte das Kind mitnehmen und weit weglaufen, so weit wie sie nur konnte. Und das tat sie.«
»Und Till?«
Sein Blick flackerte. »Mein Bruder durfte nicht erfahren, dass sein Kind überlebt hatte. Risha hatte in Caraco als Heilerin gearbeitet, deshalb hatte sie gewusst, dass am Tag zuvor eine Frau eine Totgeburt gehabt hatte. Der Leichnam des Kindes war noch nicht bestattet worden. Jenen toten Säugling stahl ich von seinem Totenbett und legte ihn Marie in die Arme. Als Till am nächsten Morgen in die Stadt kam, fand er die beiden Toten. Es hat ihn zerbrochen. Es hat ihn verändert.
Seither ist er davon besessen, es dem Schicksal, das er dafür verantwortlich macht, heimzuzahlen.« Seine Stimme wurde bitter. »Ich weiss nicht mehr, ob ich das Richtige getan habe oder nicht. Ich mag es geglaubt haben. Vielleicht war ich es, der aus dem kränklichen kleinen Jungen den Teufel gemacht hat. Vielleicht fing es schon damit an, dass ich ihn mit Mutter allein gelassen hatte und mit Arno gegangen war. Ich weiss es nicht. Es ist alles nur so traurig.«
Eine Weile schwiegen sie und dachten an das grausame Schicksal, das es nun nicht mehr gab und die Liebe, die einen dazu bringen konnte, die Welt zu verraten.
Betrübt wandte Sabrina sich nun doch wieder Mondkind zu. Wenn doch nur Nebelfinger da wäre... Da fiel ihr ein, dass sie noch immer den Anhänger, den Mondkind ihr vor der Schlacht um Tempus geschenkt hatte, bei sich trug. Sie langte an ihre Brust, fasste die Perle mit den Federn daran und zog sie sich über den Kopf. Sie suchte Mondkinds kleine Hand unter der Decke und drückte ihn ihr in die Hand. Und als die Federn über die weiche Kinderhaut strichten, sass das Kinderorakel auf einmal aufrecht.
»Hu-Hutmacher!«, stammelte sie fassungslos und blickte in Mondkinds weit aufgerissene, strahlend violette Augen.
Die Kleine liess ihnen keine Zeit zum Staunen. Sie packte Sabrina am Arm und begann zu dichten: »Diese Zeilen - ein letztes Gedicht, es ist die Spinne, die zu euch spricht.
Das Schicksalsnetz, es hängt in Fetzen, alle Fäden reissen, bis zum letzten.
Des Weltenbaumes morscher Ast, zu schwer für ihn ist diese Last.
Nun ist nichts mehr vorherbestimmt, es ist das Ende, das beginnt, doch was beginnt, ist nicht vollbracht und mit grosser Hoffnung ungeschehen gemacht.
Lange Zeit der Herrscher zwei, diese Ära ist vorbei. Kehrt dorthin, wo ihr geboren wart, sie zu finden, die Leben bewahrt. Lange Zeit ohne Gleichgewicht, das älteste Rätsel, die älteste Geschicht'. Die Unerzählten, immer verschwiegen, schreibt sie zu Ende und bringt ihnen Frieden.
Des Schicksals Stimme nun verhallt, der Zufall herrscht jetzt mit Gewalt. Verliert den Mut nicht, schützt, was ihr liebt, vertraut eurem Herzen, denn das Gute obsiegt.
« Dann verstummte sie und blinzelte einige Male. Sie schien Sabrina zu erkennen, lächelte kurz, doch dann rollten ihre Augen nach hinten und Mondkind sackte zurück ins Kissen.
»Hey... hey... hey!« Sabrina stürzte vor und begann die Kleine zu schütteln, doch sie rührte sich nicht mehr. »W-was war das? Mondkind? Wach auf!« Hilfesuchend sah sie sich nach dem Hutmacher um, doch der hockte nur starr vor Schreck in seinem Stuhl, blass wie ein Laken und mit einem so erschrockenen Gesicht, als hätte er einen Geist gesehen. »Mondkind!« Sie wandte sich wieder dem Kleinkind zu. »Komm schon, komm zurück!«
»Ich glaube, du... solltest aufhören«, meinte Faritales irgendwann sanft und flatterte auf ihren Arm. »Sie... scheint dich nicht mehr zu hören.«
Langsam liess Sabrina von ihrer leblosen Cousine ab. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte. »Scheisse!«, fluchte sie und rieb sich die Augen.
»Das-« Der Hutmacher stockte und suchte nach seiner Stimme. »Das ist eine Prophezeiung...« Hastig schnappte er seinen Zylinder vom Boden, griff tief hinein, zog sein Notizbuch daraus hervor, riss eine Seite heraus und begann hastig, etwas darauf niederzuschreiben. »Diese Zeilen - ein letztes Gedicht... doch was beginnt, ist nicht vollbracht... das älteste Rätsel... denn das Gute ob... siegt...« Schwungvoll setzte er einen Punkt und überflog die Zeilen. »Das ist eine Prophezeiung!«, wiederholte er und vor Aufregung begannen seine Hände zu zittern. »Hoffnung! Es gibt Hoffnung!« Er stand auf, jubelte und lachte. Er sprang an Mondkinds Bett und küsste der Kleinen die Stirn. »Danke, meine Kleine, mein tapferes Orakel, danke!« Als er Sabrinas verwirrten und auch etwas verstörten Blick sah, beruhigte er sich etwas und erklärte: »Das ist eine Botschaft Sabrina. Von der Schicksals-Spinne. Wie wir die Welt retten können, wir haben etwas, mit dem wir anfangen können. Einen Anhaltspunkt. Vielleicht wird die Welt doch nicht untergehen!«


~Mile~

Ihre Reise war lange und frustrierend. Die Stimmung auf dem Schiff war drückend. Jeder an Bord der Jolly Roger hatte den Untergang Tempus' miterlebt. Jeder hatte es gesehen. - Der Beginn vom Ende.
Noch schlechter war die Stimmung, seit der Hüter die jüngste Prophezeiung publik gemacht hatte. Vor allem die Zeile ›Lange Zeit ist der Herrscher zwei, diese Ära ist vorbei. Kehrt dorthin, wo ihr geboren wart, sie zu finden, die das Leben bewahrt.‹, denn die schien ganz eindeutig an die Geschwister Beltran gerichtet zu sein und verlangte, dass sie zurück nach Modo reisten. Darum hatten sie bereits alles geplant und vorbereitet, um die Geschwister zurück zu schicken. Pünktlich, auf den 365. Tag genau...
In vielen liess das böse Erinnerungen aufkommen. An damals, vor 240 Jahre, als die letzten Herrscher während der Nacht der roten Kronen wie vom Erdboden verschwunden waren und Twos im Stich gelassen hatten. Dabei ging es damals wie heute darum, Twos zu retten! Und Modo gleich mit.
Wenigstens die Feindseligkeiten, die Königin Amiéle samt ihrer zwar etwas ausgedünnten Gefolgschaft an Bord eröffnet hatte, hatten irgendwann aufgehört.
Monarch für Monarch hatte sich in den letzten Wochen abgemeldet. Boot für Boot hatten sie runtergelassen, um die Kronenträger wieder in ihre Heimaten und Reiche zu entlassen. König Orion war nur der erste gewesen. Alle anderen folgten ihm nun. Und als sie in Turdidae angekommen waren, wo Schloss Turdus in den Himmel aufragte, war auch der Senat von Bord gegangen, um dort den neuen Regierungssitz zu bilden.
Und dann verschwand Turdus auch schon in der Ferne, denn die Jolly Roger nahm sofort wieder Kurs Richtung Westen. Westen, wo die damals verschneite Lichtung lag. Die Lichtung, in deren Mitte ein Fels mit einer Höhle stand. Eine Höhle, die in eine andere Welt führte. Nach Modo, die sterbliche Welt...

Zusammen stiegen die Geschwister in den Lagerraum der Jolly Roger, wo hinter Kisten voller Schiffszwieback, Reis, eingelegtem Obst, Pökelfleisch und Krüge voller Wasser die Glassärge standen. Sie verabschiedeten sich von ihren toten Freunden. Von Drosselbar, von Hänsel und Gretel, Katmo, selbst von Geppetto. Und natürlich von Nebelfinger.

Im Sommer sah es auf der Lichtung zum Portal ganz anders aus. Hier war bei ihrer Ankunft alles weiss gewesen, nur die Tannen und Fichten hatten Grün getragen. Nun blühte hier alles. Der Wald war in ein leuchtendes Blätterkleid gehüllt, die Luft summte, der süsse Duft von Blumen lag in der Luft und der Fels schwamm in einer satten Wildwiese.
Der Anblick liess die Erinnerung an das brennende Tempus ein wenig verblassen... und schürte ihre Sorge um diese Welt, die sie als ihre Heimat zu lieben gelernt hatten. Sie und die Menschen, die ihre Familie geworden waren.
Ihr Rettungsboot sank in die Wiese. Ein paar Heuschrecken suchten eilig das Weite.
Sie stiegen aus und liefen zu neunt auf den Fels zu. Ein paar Meter davor blieben sie stehen und sahen einander an. Keiner von ihnen konnte sich die Zukunft ohne einander vorstellen. Sie umarmten sich, drückten einander so fest sie konnten.
»Vor einem Jahr haben wir euch beide hier im Schnee liegend vorgefunden«, brummte Oskar und verzog die Lefzen zu so etwas wie einem Lächeln.
»Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, du würdest mich fressen«, antwortete Sabrina und grinste. »Hat sich herausgestellt, dass du doch voll okay bist.«
Der Wolf hechelte ein tiefes Lachen. »An dir wäre ohnehin nicht genug dran gewesen.« Er stupste ihr mit der Nase die Hand.
»Was für ein Glück, dass wir euch damals im Wald begegnet sind«, antwortete er. Er legte die Arme um den breiten Hals des Wolfes und drückte ihn zum Abschied. »Wäre eine Schande gewesen...«
»Aye, das wäre es wahrhaftig«, meinte Falk und trat an ihn heran. Zögernd streckte der Pirat ihm seine Hand entgegen.
»Ach, komm her!« Mile zog ihn an sich ran und klopfte ihm auf den Rücken. »Dass ich damals versucht hab, dich aus der Stadt zu jagen, tut mir übrigens leid.«
Falk lachte auf. »Schon gut. Und mir tut es leid, dass ich dich abgefüllt habe.«
»Schon vergessen!«
Als die Elfe Bree sich zum Abschied vor ihm verbeugte, tat er es ihr gleich. »Danke, dass du auf meine Schwester aufgepasst hast.«
»Gern geschehen. Obwohl sie sehr gut auf sich selbst aufpassen kann.« Mit mehr Schalk, als er ihr je zugetraut hätte, zwinkerte sie ihm zu.
»Wiedersehen Mylord.« Peter umarmte ihn fest. »Und danke, dass du mir gesagt hast, wer ich bin und dass du mir eine Rolle in der Rettung Tempus' gegeben hast.«
»Danke dir für deine Gedanken!«
Nun wandte er sich endlich Aruna zu, deren helle, klare Augen bereits verräterisch funkelten.
»Ich werde dich so vermissen!« Sie fiel ihm um den Hals.
»Warum kommst du nicht mit mir? Unser Onkel würde dich bestimmt bei sich aufnehmen und wir-«
»Du weisst, dass das nicht geht, Mile.« Sie deutete auf die lange Stecknadel, die sie an ihren Kragen geheftet hatte. Eine Nadel, die gleichzeitig ein Schwert war. Gladito...
»Du und Falk könntet mitkommen und Mondkind mitbringen. Dort wäre sie sicherer als hier...«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben es Jeremy versprochen. Mondkind muss in Twos bleiben, in der Nähe des Senats. Falls sie noch weitere Weissagungen macht. Das Schicksal mag es nicht mehr geben, doch eine Zukunft gibt es weiterhin.«
»Was ist mit Bree?« Er nickte in Richtung der Elfe, die gerade von Sabrina umarmt wurde. »Sie könnte Mondkind doch auch beschützen.«
Sie lächelte traurig und strich ihm über das Kinn, wo hier und da rote Bartstoppeln zu spriessen begannen. »Er hat mich gefragt, das Schwert des Paladins zu führen. Er vertraut mir.«
Er wollte etwas sagen, holte Luft, um ihr zu wiedersprechen, doch plötzlich waren da ihre Lippen auf seinen, mit denen sie ihn zum Schweigen brachte. »Bis in ein paar Monaten«, hauchte sie.
»Bis in ein paar Jahren«, antwortete er.


~Sabrina~

»Weisst du eigentlich, dass ich dich anfangs echt gehasst habe?«
Die Rote ohne Umhang grinste. »Wäre mir beinahe nicht aufgefallen.«
Sabrina legte die Arme um sie. »Heute tut mir das leid. Ich bin froh, dass Mile dich hat.«
»Und ich bin froh, dass er so eine wundervolle Schwester hat.«
Sie lösten sich voneinander. »Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft. Ich freue mich schon darauf, dich wiederzusehen!«
Red lächelte. »Möge Jeremy Topper schnell finden, was er sucht und die Zeit bis dahin noch schneller verstreichen.«
Sabrina schluckte den Kloss in ihrem Hals runter und nickte.
Als nächstes schlang Peter Pan sie in eine feste Umarmung. »Es wäre schön gewesen, mehr Zeit zu haben, um dich besser kennen zu lernen.«
»Gleichfalls.« Sie boxte ihm scherzhaft in den Arm. »Und pass mir bloss auf deinen Bruder auf. Ich habe keine Lust, ihn ein drittes Mal von den Toten wiederauferstehen zu lassen.«
Er grinste, zwinkerte Falk zu und trat beiseite, um Bree Platz zu machen.
»Halt die spitzen Ohren steif«, schniefte sie, als sie sich wieder voneinander lösten.
Die Elfe lächelte verhalten und verbeugte sich tief. »Werde ich.«
»Weisst du denn schon, was du jetzt tun wirst?«, fragte Falk und deutete auf ihr schwarzes Gambeson - die Rüstung der Palastwache - die sie noch immer trug. »Die Garde gibt es nicht mehr. Wenn du Interesse hast, kannst du dich meiner und Peters Crew anschliessen. Wir fliegen wieder Richtung Norden und werden den Senat ständig über die Ausbreitung des Endes informieren und uns an den Rettungen der Zivilisten beteiligen. Red ist auch dabei. Du wärst bestimmt eine klasse Aufklärerin.«
»Vielleicht«, antwortete die Elfe mit einem nicken. »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.« Sie verbeugte sich erneut und trabte zu Mile, um sich auch von ihm zu verabschieden.
»Prinzessin...« Seine Hände verharrten an ihrer Taille. Er senkte den Kopf, ihre Stirn lag an seiner.
»Wie soll ich dich jetzt nennen?«, fragte sie mit einem traurigen lächeln. »Pirat oder Aufklärer?«
Er gluckste. »Aufklärer im Namen des Senats von Arkan.«
Sie nestelte an der Nadel, die er durch das Leder seines Mantels getrieben hatte. »Oder sollte ich dich Patron nennen?«
Er nahm ihre Hand. »Ich will mit dir kommen. Mehr als alles auf der Welt. Aber... Jeremy Topper bat mich darum.«
»Ich weiss«, seufzte sie. »Der Hutmacher und seine Geheimnisse...« Traurig sah sie zu ihm auf. »Ich werde dich in deinen Träumen besuchen. So oft ich dich durch die Starre finden kann!«
»Frau meiner Träume... Wie soll ich das nur überleben?«
»Wag es nicht, es nicht zu tun.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, doch er drehte den Kopf weg. »Hey!«, murrte sie. Sie hatte jetzt keine Lust auf Geblödel. Dafür war sie jetzt viel zu melancholisch.
»Warte kurz, ich muss dir noch was sagen.« Seine Ozeanaugen leuchteten. »Kannst du dich an meinen Abschiedsbrief erinnern? Der in meinem Logbuch, den ich dir hinterliess, als ich-«
»Ja«, unterbrach sie ihn. »An jedes einzelne Wort...« Sie hatte ihn tausendmal gelesen...
Er nickte. »Da habe ich dir das mit der Ewigkeit zu erklären versucht. Dass man... wenn man ein Märchen wird und dein Blut beginnt, zu Tinte zu werden, dann... fühlt man das. Dieses Gefühl von Ewigkeit.« Er machte eine Kunstpause, grinste noch breiter. »Es ist wieder da!«
»W-was?« Sie blinzelte ihn verwundert an. »Heisst das... du bist wieder...«
»Aye!«
Sie lachte und küsste ihn nun doch. »Aber wie?«, fragte sie aufgeregt. »Wie?«
»Ich scheine wieder Teil einer Geschichte zu sein.«
Sie sah hinüber zum Rettungsboot, wo Bree sich mit Peter und Oskar unterhielt. »Peter Pan?«
Falk schüttelte den Kopf.
»Diesen Peter Pan gibt es nicht mehr, nein. Es ist eine neue Geschichte.«
Sie runzelte die Stirn. »Was für eine?«
»Weiss ich nicht. Vielleicht... hat jemand in Modo eine Geschichte geschrieben. Eine über meine Vergangenheit, über meine Zukunft... oder gerade jetzt.« Er lächelte sein spöttisches Lächeln. »Vielleicht liest das hier gerade jemand. Wie du und ich hier stehen, um uns voneinander für unbestimmte Zeit zu verabschieden.«
Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab, doch sie lächelte. »Wir haben wieder die Ewigkeit...«
»Niemals und immer.«
Erneut stellte sie sich auf die Zehenspitzen...


~Mile~

Jeremy Topper, Mile und Sabrina mit dem Nachtmahr auf der Schulter, der sich fest in den Kopf gesetzt hatte, mit ihnen zu kommen, marschierten durch die Höhle. Tiefer und tiefer ging es. Es wurde kälter, von den Wänden tropfte Wasser, ihre Schritte hallten durch den schmalen Tunnel, begleitet vom Echo ihres Atems.
Es war genau wie damals, nur waren sie damals Kinder gewesen.
Twos hatte sie erwachsen gemacht, Twos hatte sie zu denen gemacht, die sie nun waren.
Sie wussten nicht, was sie in Modo zu finden hofften. Sie hatten keine Ahnung, was mit der neuen Prophezeiung gemeint war. Nur der Hutmacher wusste mehr und doch verriet er ihnen nichts. Nicht, warum er mit ihnen nach Modo ging, nicht, wie lange sie in Modo bleiben mussten, nicht, was sein Plan war. Verfluchter Heimlichtuer!
Irgendwann war da endlich die Treppe, die sie tiefer unter die Erde führen würde. Stufe und Stufe kletterten sie ins Dunkel, das selbst von seinen Flammen nicht erhellt werden konnte.
Ob ihre Eltern auch durch dieses Portal geflohen waren? Er rief sich das Bild von ihnen in Erinnerung, als sie ihm während der Krönung erschienen waren. Sie so noch einmal zu sehen... es hatte ihm alles bedeutet... Und doch war da etwas Hässliches an der Erinnerung. Eiras ›Es tut mir leid...‹. Nun wusste er, was es bedeutet hatte. Der Teufel hatte gesagt, er wäre in dieser Hinsicht genau wie sie: Für die, die er liebte, war er fähig, die Welt zu opfern.
Die Schuldgefühle kamen in ihm auf und er griff nach der Hand seiner Schwester. »Es tut mir leid.«
Sie sah zu ihm auf. »Was?«
»Das ist alles nur wegen mir. Hätte ich Cernunnos...« Er brach ab, wollte die mahnenden Augen des toten Hirschs nur vergessen.
Sabrina nickte. Sie schien nach Worten zu suchen. Klar, was sollte man bei so was auch antworten? Es war nicht voll okay, dass man die Welt auf dem Gewissen hatte. Doch Sabrina überraschte ihn: »Ich habe dich trotzdem lieb. Ausserdem schaffen wir das. Zusammen schaffen wir doch alles!«
Und plötzlich war die Treppe weg...


~Sabrina~

Sie lagen in nassem Laub. Die Bäume über ihnen reckten sich mit ihren kahlen Zweigen nach dem blendend weissen Mondlicht...
»Willkommen zurück!«
Sabrina riss sich Pfeil und Bogen vom Rücken, während Mile Kayat aus der Scheide an seinem Gürtel riss. Quietschend brachte sich Faritales hinter Jeremy Topper in Sicherheit.
Tobias Tallos Lachen schallte durch den Wald. »Oh Kinder, wie ich sehe, habt ihr viel gelernt!«
»Onkel Tobi?« Die Zweideutigkeit, die das Wort Onkel besass, nun, da sie wussten, wer er wirklich war, löste ein flaues Gefühl in ihr aus.
Der alte Mann sass ein paar Meter vom Schrein entfernt in seinem Rollstuhl und lächelte sie an. Hinter ihm, etwas weiter weg standen drei weitere Personen, die nun näher herantraten.
»P-Pater?« Hastig steckte Mile sein Schwert zurück und rannte auf den Pastor zu, der ihn mit offenen Armen empfing. Auch Sabrina konnte Ellon'da und ihren Pfeil gar nicht schnell genug auf ihren Rücken packen, um dem Mann, der die Geschwister davor bewahrt hatte, im Pflegekindersystem voneinander getrennt zu werden.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie aufgeregt und tätschelte ihm die kahle Stelle an seinem Hinterkopf.
»Ich muss doch sehen, wie es meinen beiden Helden geht!«, lachte der Pater und legte die Arme um die beiden. »Herrjeh, Mile, kann es sein, dass du noch mehr gewachsen bist?«
»Der Hüter hat uns wissen lassen, dass ihr heute zurückkommen würdet«, erklärte eine der Personen, die Sabrina noch gar nicht genauer beachtet hatte. Erst jetzt erkannte sie sie.
»Tanja?!«
Die Frau, die sie nur als die Gärtnerin der Tallos gekannt hatte, zog sich das Stirnband, ohne dass sie sie noch nie gesehen hatte, vom Kopf und liess darunter zwei spitze Ohren zum Vorschein kommen. »Mein eigentlicher Name ist Tanjël Payam. Es... ist mir eine Ehre.« Sie legte sich die Faust aufs Herz.
»Okay...«, fasste Mile die absolut unfassbare Situation zusammen.
»Wir sind alle Mitglieder des Ordens«, erklärte der Pater ihnen. »Seitdem eure Eltern verschwanden, haben wir uns darum gekümmert, alles für eure Rückkehr nach Twos vorzubereiten.«
»Und ich«, verkündete die letzte von Tobias' Begleitungen, bei der es sich um niemand anderes als die bissige Mrs Tallo handelte, »bin die Vorsitzende dieses Ordens. Und als diese will ich nun sofort eine Erklärung für all dies haben! Von einer Rückkehr der Herrscher der Gezeiten war nie die Rede gewesen!«
»Um das zu klären, haben wir noch genug Zeit«, meinte Tobias Tallo, der Sonnenkönig über die Wüste Aurea und versuchte seinen Rollstuhl durch das Laub zu schieben, um sich dem Hutmacher zu nähern. »Jeremy Topper, alter Freund, schön dich zu sehen. Siehst älter aus!«
Der Hutmacher prustete. »Dafür bist du noch ganz der Alte, du vermaledeiter Unruhestifter!« Er machte ein paar grosse Schritte auf Tobias zu und umarmte ihn vorsichtig.
Faritales, der es sich unterdessen wieder auf Sabrinas Schulter bequem gemacht hatte, schnaubte. »Kein Wunder sind die Freunde. Haben beide nicht mehr alle Tassen im Schrank!«
Tobias klatschte in die Hände. »Komm mit uns, bis zu meinem Anwesen ist es nicht weit.«
Doch der Hutmacher schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit, es tut mir leid.«
Auf Mrs Tallos Stirn bildeten sich ein paar bedrohlich aussehende Falten. »Ich verlange eine Erklärung!«
»Tut mir leid, Vorsitzende.« Der Hutmacher zupfte entschlossen seine Fliege zurecht, während er dem Blick der alten Dame trotzte. »Ich darf Euch nicht mehr verraten, bis ich meine Aufgabe erfüllt habe.« Und als würde es alles erklären, fügte er hinzu: »Es geht um Projekt Amnesia.«
Tatsächlich weiteten sich die Augen der Vorsitzenden des Ordens des Azoth und sie nickte hastig.
»Was? Um was geht es?«, wollte Mile wissen und Sabrina unterstützte ihren Bruder mit aufgeregtem Nicken.
»Das weiss selbst ich nicht«, brummte der Pater. »Scheint über meiner Sicherheitsfreigabe zu liegen.«
»Wir werden ein andermal darüber streiten!« Entschlossen packte der Hutmacher den Rollstuhl des Sonnenkönigs an den Griffen und schob ihn zurück zu den andern. »Ich muss los, wenn ich es rechtzeitig schaffen will!« Er überliess Tanja oder Tanjël den Rolli und trat vor die Geschwister. »Mile und Sabrina Beltran«, verkündete er und breitete die Arme aus, in die sie sich beide schliessen liessen. »Eure Eltern wären stolz auf euch. Ich bin es jedenfalls ganz sicher!«
»Das klingt wie ein Abschied. Kommen wir nicht mit dir mit, Jeremy?«, fragte Mile sofort und sah zu ihrem Mentor auf.
»Das geht nicht. Ich muss das alleine machen.«
»Und was sollen wir machen?« Sabrina blickte sich zu den restlichen vier Ordensmitgliedern um. »Du erwartest doch nicht, dass wir hierbleiben und Däumchen drehen. Ich dachte, wir mussten zurück nach Modo, um hier diese zweite Prophezeiung zu erfüllen!«
Der Hutmacher nickte und die Schellen an seinem Mantel klimperten leise. »So ist es auch. Doch erst müsst ihr hierbleiben und euch von dem Orden lehren lassen, was ihr wissen müsst. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir weitersehen. Aber jetzt müsst ihr tun, was euch gesagt wird.« Er küsste ihnen beiden die Stirn. »Vertraut mir!«
Zögernd nickten sie.
»Gut.« Er löste sich von ihnen, nickte stolz, trat er zur Seite und verbeugte sich vor den Tallos, dem Pater und der Elfe. Dann ging er, kletterte behände den Hang hinaus, schob sich zwischen die Bäume und war verschwunden...
»Nun lasst uns gehen, Kinder. Diese Kälte ist nicht gut für meine Knochen«, meinte der Pater und schob die Geschwister an, damit sie loszutraben begannen.
»Ab nach Hause«, bestätigte Tobias Tallo und kniff Tanjël in den Arm, damit sie ihn durch das Laub schob.
»Das ist nicht mehr unser Zuhause«, widersprach Mile und lächelte seine Schwester an.
Sie nahm ihren grossen Bruder an der Hand. »Unser Zuhause ist da, wo Märchen keine Geschichten sind.«


------------------------


Liebe Leser

Dies war das letzte Kapitel Twos. Es folgt noch ein Epilog, aber dann ist dieses Buch zu Ende.
Was für eine Reise...

Wie fandet ihr dieses Kapitel? War es würdig, das letzte zu sein? Erzählt mir davon :)
Was denkt ihr über Reds/ Arunas Vergangenheit? Und Tills? Seht ihr ihn noch immer als Schurke oder könnt ihr ihn verstehen? Hat sich euer Bild von Jeremy Topper verändert?
Was glaubt ihr, könnte die neue Prophezeiung bedeuten?

Danke fürs Lesen, ich melde mich gleich wieder, nachdem ich den Epilog geschrieben habe, um dann endgültig zu einem überemotionalen Häuflein zu werden, der vor lauter Nostalgie in Tränen ausbrechen wird...

Im Anhang findet ihr das wunderschöne Lied Soldier On von The Temper Trap, das Mile Aruna vorsingt und das nicht besser zu diesem Kapitel passen könnte.

Danke euch!
Mara

Continue Reading

You'll Also Like

1M 27.4K 33
„Ich möchte dir nicht weh tun, doch wenn du mir keine andere Wahl lässt.." Den Rest des Satzes ließ er im Raum stehen.. Ich schluckte schwer und sah...
1.3M 36K 57
"Eine Million! Ich gebe dir eine Million für sie." "Was?" - "Sie ist doch nicht mal so viel wert. Sie ist unerfahren, eine Jungfrau! Sie kann dir n...
65.2K 4.4K 46
Die Versklavung ihrer gesamten Nachkommenschaft. Dies waren die Konsequenzen für Briana Henotellos mitwirken beim Aufbau eines totalitären Regimes. I...