Lavýrinthos

By Roiben

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"Ängstigt euch nicht vor dem Tod, denn seine Bitterkeit liegt in der Furcht vor ihm." - Sokrates Viellei... More

Vorwort
Prólogos
1.1 Moíra - Schicksal
2.1 Tragoúdi - Gesang
2.2 Tragoúdi - Gesang
3.1 Dóry - Speer
3.2 Dóry - Speer
4.1 Neró - Wasser
4.2 Neró - Wasser
5.1 Psalída - Ranke
5.2 Psalída - Ranke
6.1 Óneiro - Traum
6.2 Óneiro - Traum
7.1 Ámmos - Sand
7.2 Ámmos - Sand
8.1 Aínigma - Enigma
8.2 Aínigma - Enigma
9.1 Aetós - Adler
9.2 Aetós - Adler
10.1 Trélla - Wahnsinn
10.2 Trélla - Wahnsinn
11.1 Thermótita - Hitze
11.2 Thermótita - Hitze
12.1 Skotádi - Dunkelheit
12.2 Skotádi - Dunkelheit
13.1 Fóvos - Angst
13.2 Fóvos - Angst
14.1 Apóleia - Verlust
14. 2 Apóleia - Verlust
15.1 Diamáchi - Streit
15.2 Diamáchi - Streit
16.1 Skiá - Schatten
16.2 Skiá - Schatten
17.1 Ékstasi - Trance
17.2 Ékstasi - Trance
18.1 Kynigós - Jäger
18.2 - Kynigós - Jäger
19.1 Ypéfthynos - Schuld
19.2 Ypéftyhos - Schuld
20.1 Archí - Anfang
20.2 Archí - Anfang
20.3 Archí - Anfang
21.1 Stagónes - Tropfen
21.2 Stagónes - Tropfen
22.1 Dexiá - Recht
22.2 Dexiá - Recht
23.1 Mystikó - Geheimnis
23.2 Mystikó - Geheimnis
24.1 Ptósi - Sturz
24.2 Ptósi - Sturz
25.1 Ktíni - Bestien
25.2 Ktíni - Bestien
26.1 Pónos - Schmerz
26.2 Pónos - Schmerz
27.1 Elpída - Hoffnung
27.2 Elpída - Hoffnung
28.1 Asfáleia - Sicherheit
28.2 Asfáleia - Sicherheit
29. Omorfiá - Schönheit
30. Epílogos
Danksagung & Nachwort

1.2 Moíra - Schicksal

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By Roiben


Stunden vergingen, ehe sie einen weiteren Raum fanden. Zumindest kam es Taras so vor, als wären es Stunden gewesen. Genau konnte er es nicht sagen. Wie sollten sie nur feststellen, dass die sieben Tage vorbei sein würden, wenn er jetzt schon sein Zeitgefühl verlor? Dieser Raum glich dem anderen bis auf den letzten Stein, doch an seinem anderen Ende ging es nicht weiter in den selbstleuchtenden Gang, sondern eine bronzene Tür, wie die, durch die sie gekommen waren, verwehrte ihnen ein Weiterkommen.

Taras hielt sein Schwert umklammert und bedachte alle Ecken mit Argusaugen. Kein feindseliges Wesen regte sich in den Schatten, bereit, ihnen die Gedärme herauszureißen. Nichts in diesem Raum sah so aus, als wolle es sie töten. Taras' Puls raste in die Höhe und ein schwaches Kribbeln löste den Kloß, der seinen Hals ausgefüllt hatte. Mit hoffnungsvollen, leuchtenden Augen wandte er sich an seinen Bruder. „Das muss der Ausgang sein!"

Ohne darauf zu achten, dass sie in einer fremden Umgebung waren, rannte er los. Die Schritte seines Bruders hallten hinter ihm, als er ihm folgte, doch er drehte sich nicht um, um nachzuschauen, ob das Mädchen mit dem Namen Aigis ihnen ebenfalls hinterherlief.

„Ja!", rief nun auch Orion und wollte die Bronzetür, die er vor Taras erreicht hatte, aufreißen, aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Es schien beinahe so, als wäre sie Teil der Wand und wäre gar nicht dafür geschaffen, aufgestoßen zu werden, wären dort nicht die Abnutzungsspuren im Stein, die ganz deutlich zeigten, dass dieses Tor oft genug auf- und wieder zugestoßen worden war. „Was, bei den Göttern, soll das?!"

Die Tür ließ sich nicht bewegen, egal, wie sehr Orion und Taras auch daran zogen. Selbst ihre kombinierte Kraft reichte nicht aus, um das massive Tor auch nur eine Elle über den Stein zu ziehen. „Soll es das sein?", fragte Taras. „Müssen wir jetzt mit der schwächsten Hoffnung hierbleiben und warten, ob diese Tür am Abend des siebten Tages geöffnet wird?" Seine Stimme zitterte vor verzweifelter Wut. Jede Euphorie und Aufregung war seinem Körper entwichen und ließ nichts als bodenlosen Ärger, Furcht und Hoffnungslosigkeit zurück.

„Nein", ertönte eine Antwort, doch die Stimme kam nicht von seinem Bruder. Auch Aigis hatte nicht gesprochen.

„Wer da?", fragte Orion und erhob sein Schwert in Angriffshaltung.

„Euer Weg wird sich öffnen", sprach die Stimme, die die einer Frau war, tief und doch melodisch. „Doch zuerst müsst ihr eine Prüfung bestehen."

„Zeigt euch!", rief der Älteste nun lauter und schwang sein Schwert, wahrscheinlich in der Hoffnung, einen unsichtbaren Feind damit zu erschlagen. „Ich reiße euch den Kopf mit meinen bloßen Händen ab!"

„Zügelt eure Wut, junger Held", sprach die Frauenstimme. „Dies ist keine Prüfung der Stärke oder des Herzens."

Ein strahlendes Licht erschien in der Mitte des Raumes. Es hatte die Form einer hochgewachsenen Menschenfrau mit wallenden Haaren.

Mit der Hand musste Taras seine Augen abschirmen, als das Licht so hell strahlte, dass es den ganzen Raum ausfüllte.

„Seht zu mir, junge Helden", sagte sie, nur einen Moment später. „Ich möchte eure Gesichter sehen."

Zögerlich sah Taras auf und erkannte eine wunderschöne Frau mit schwarzen Haaren in einem weißen Chiton, wie ihn die vornehmen Damen trugen, sehen. Sie hatte ein Füllhorn mit kleinen Flügeln in der Hand, die sich leicht, wie bei einer Frühlingsbrise, bewegten, als würden sie sich in die Luft erheben, wenn die Frau das Horn loslassen würde. Er konnte die Gestalt nicht lange ansehen. Je länger Taras die Augen auf ihrem Gesicht ließ, desto verschwommener wurden ihre Konturen, als würde sie langsam wieder eins mit dem Licht werden. Ihm verging der Atem, als er bildhübsches Gesicht sah, welches so aussah, als hätte es Dädalus persönlich in Marmor gehauen. Jedwede Verzweiflung schien ihn wieder zu verlassen, als er sie anblickte.

„Mein Name ist Tyche", sagte die Frau und Taras' ganzer Körper fühlte sich beim Klang ihrer Stimme an, als begänne er zu vibrieren.

„Die Göttin des Glücks", hauchte Aigis leise, doch er konnte sie so klar vernehmen, als würde sie direkt in sein Ohr sprechen.

„Richtig." Unglaube machte sich in ihm breit und obwohl er die Augen nicht von ihrem wunderschönen Äußeren wenden konnte, obwohl diese Frau eine Ausstrahlung besaß, die er sich keinesfalls erklären konnte und obwohl sie noch einen Moment zuvor aus purem Licht vor ihm erschienen war, hatte er noch nicht das Gefühl, dass diese Frau eine Gottheit war.

„Es ist gut, dass du nicht glaubst, was sein könnte", sprach sie und wandte ihm das hübsche Gesicht zu. „Aber du kannst die Wahrheit sehen, wenn du nur genau hinsiehst, mein junger Held."

„Was - ", fing Orion an, doch er brach ab, den Mund offenstehend.

Tatsächlich war auch Taras sprachlos.

Die angebliche Göttin Tyche war auf eine wahnsinnige Größe gewachsen. Ihr Kopf war in den Schatten verschwunden und ihre Füße, die in weißen, sauberen Sandalen steckten, waren größer als er selber. Hitze umgab die Frau mit einem Mal, der Schweiß stand ihm sofort auf der Stirn. Er wich zurück, atmete erschrocken ein, als sein Rücken die Bronzetür berührte. Ohne es festzustellen, war er am Ende des Raumes angelangt. Der Fluchtweg war ihm versperrt und das kalte Metall fraß sich durch sein dünnes, schweißgetränktes Hemd. Doch wohin sollte er schon flüchten, mit einer Göttin vor seinen Augen? Der Kloß kehrte in seinen Hals zurück und er krallte die freie Hand in seinen Oberschenkel, den brennenden Schmerz seiner Fingernägel im Fleisch ignorierend.

„Wirst du mir nun glauben, junger Held?" Tyche war nach einem Wimpernschlag wieder auf ihre ursprüngliche Größe geschrumpft. Sie lächelte und blickte zufrieden drein. „Verzage aber nicht. Die größten Helden glauben nicht alles, was sie mit ihrem sterblichen Auge sehen."

„Was macht Ihr hier?", fragte Aigis und trat einen zögerlichen Schritt nach vorne. Trotz der Angst, die auf ihrem Gesicht abzulesen war, schien ihre Neugier und ihre Achtung vor der Göttin stärker zu sein.

„Ob ich es schon verraten sollte?", fragte die Göttin sich selbst und blickte auf ihr Füllhorn mit den zappelnden Flügeln. „Du musst eines wissen, mein Kind: Wir Götter mischen uns nicht oft in die Belange der Menschen ein. Ihr lebt euer Leben und wir das unsere, aber wenn ich eines sagen kann, dann, dass wir manchmal dennoch mit euch interferieren. Nicht immer wisst ihr Sterblichen allerdings, dass es die Götter sind, die eure Wege kreuzen."

„I-ich verstehe das nicht", sagte Aigis und trat sogar noch einen Schritt vor.

Taras bewunderte sie für ihren Mut, dass sie der Göttin so direkt ins Gesicht blickte und sie direkt ansprach, als wäre sie nichts Besonderes. Aber vielleicht handelte es sich nicht um Mut, sondern um einfache Dummheit.

„Das musst du nicht, mein Kind."

Taras fiel auf, dass sie sie nicht wie ihn und Orion als 'Held' ansprach.

„Du musst nur wissen, dass Götter nicht immer nur auf dem Olymp sitzen. Auch wir haben einige Dinge, die wir in der Welt der Sterblichen verrichten. Ich kann nicht für alle sprechen", fügte Tyche hinzu und ihr Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen, „aber die meisten unseres Geschlechts lechzen nach aller Art von Unterhaltung, die wir bekommen können."

„Also sind wir nicht mehr als ein Unterhaltungsprogramm?", fragte Taras mit vor Angst zitternder Stimme und dennoch hatte sich Wut in seinem Magen aufgestaut. Seine Hände wurden schwitzig und er musste seinen Griff um das kaputte Schwert noch einmal festigen, damit es ihm nicht aus den Fingern rutschte.

„Gewiss nicht, junger Held", antwortete Tyche ihm lächelnd, aber er glaubte ihr nicht. „Wenn ihr das wärt, dann würden wir dem Sterblichen mit Namen Minos nicht so einfach gewähren lassen. Doch lasst uns nicht darüber reden."

Ihre Worte ergaben keinen Sinn, fand Taras, was die Wut in seinem Magen nur noch mehr nährte. Brennend heiß fraß sie sich durch seine Venen und die Spitzen seiner Finger zuckten bedrohlich.

Orion neben ihm wirkte auch so, als würde er jeden Moment sein Schwert auf die Göttin werfen oder ihr den Schild über die Kehle ziehen, damit ihr goldenes Blut den Boden tränken würde.

Tyche dagegen war ganz ruhig, fast schon gelangweilt. Ihr Blick allerdings brannte sich in seine Brust.

Er konnte nicht einmal sagen, welche Farbe ihre Augen hatten. Den einen Moment wirkten sie goldgelb, wie die Sonne. Nach dem nächsten Wimpernschlag waren sie kobaltblau. Danach wieder waldgrün. Tyche schien sich nicht entscheiden zu können, welche Farbe sie lieber mochte.

„Ich kenne den Mann, der dieses Bauwerk erschaffen hat", sagte die Göttin Tyche und erhob ihr Füllhorn. Irgendwas schien darin hin und her zu schwappen, doch Taras konnte keine Flüssigkeit erkennen. „Ja, Dädalus. Ein beeindruckender Baumeister." Tyche begann im Raum zu wandern, ließ ihren Blick schweifen, als würde sie all die glatten Steinbrocken einzeln betrachten wollen. „Er hat viele Bauwerke erschaffen, aber dieses Labyrinth ist wohl sein größter Erfolg, muss ich sagen. Mich faszinieren die unzähligen Gänge und all die Räume, die er erbaut hat. Auch ohne eine Funktion haben all die Räume ihre Berechtigung. Wisst ihr, junge Helden", ihr Blick war nun wieder auf Orion und Taras gerichtet, „der Minotaurus mag ein abscheuliches Wesen sein, aber die Menschen sind es auch."

Sie hob ihr Füllhorn noch höher in die Luft. Die Flügel flatterten nun wild darauf los und zappelten so sehr, dass das Horn zur Seite kippte, als sie es losließ. Einen Moment lang flatterte es in der Luft, dann schoss es bis zur Decke und eine Flüssigkeit, die weiß wie Schnee war, schwappte daraus auf den steinernen Boden. Aus den hellen Pfützen wuchs ein marmorner Tisch hervor und wäre Taras sich nicht sicher gewesen, dass er hellwach war, dann hätte er geglaubt, dass sein Geist ihm einen Streich während des Träumens spielte.

Der Marmortisch war so schön, als wäre er aus einem Königssaal des Königs von Athen hergetragen worden. Tyche beachtete ihn allerdings nicht. Sie schien nicht einmal daran interessiert zu sein, dass dort soeben ein Gegenstand aus dem Nichts erschienen war. Stattdessen betrachtete sie die Wand und fuhr mit ihren langen Fingern über die Steine, die trotz ihrer Perfektion nichts Besonderes boten.

Nach einem weiteren Schlenker des Füllhorns in der Luft fielen einige Tropfen der weißen Flüssigkeit auf den Tisch.

Vor Schreck wich Taras zurück, als es zu zischen begann, so, als wenn kaltes Wasser auf heißen Stein gegossen worden wäre.

Sein Bruder schob sich langsam vor ihn, als wolle er ihn vor dem Tisch beschützen, oder als hätte er Sorge, Tyche könnte jeden Moment lange Krallen ausfahren und sie angreifen.

Aigis allerdings schien viel zu fasziniert von dem Geschehen zu sein, als dass sie Angst haben könnte, von der Göttin in kleine Stücke zerrissen zu werden.

„So einfach und doch so schön", sagte Tyche und blieb bei einer Fuge zwischen den Steinen hängen. Das Fauchen der rätselhaften Flüssigkeit auf dem Tisch hatte aufgehört und die weißen Tropfen hatten sich in Platten voll mit Speisen verwandelt. Fleisch, Obst, Brot, Amphoren voller Getränke – so reichhaltig, dass es sich in Bergen auf dem Tisch auftürmte und drohte hinunterzufallen.

Taras bemerkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief und wie er, ohne es gewollt zu haben, einen halben Schritt auf den Akt der Magie zugelaufen war. Jeder dieser Braten sah saftiger als der andere aus, jedes Obst reifer und jedes Getränk noch süßer, als dass es je ein Sterblicher herstellen konnte. Dies mussten die Speisen der Götter sein, dachte Taras. Etwas in ihm wollte einfach nach vorne laufen und sich den Bauch vollschlagen und nie wieder aufhören zu essen.

„Junge Helden", sprach die Göttin wieder und dieses Mal bohrte sich ihre Stimme tief in Taras' Kopf. „Ich biete euch etwas an." Sie drehte sich wieder zu den Kindern um und obwohl ihr Gesicht den beiden Brüdern zugewandt war, war Taras sich sicher, dass sie auch Aigis direkt ansah. „All diese Speisen sind euer, wenn ihr eines meiner Spiele besteht."

Eine unheimliche Stille legte sich über sie. Nur sein eigener Atem dröhnte in seinen Ohren.

Aigis trat einen zittrigen Schritt nach vorne, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um der Göttin ins Gesicht zu blicken und fragte ehrfürchtig aber neugierig: „Was für Spiele?"

„Du hast es richtig gesagt, mein Kind. Ich bin die Göttin des Glücks. Aber auch die des Zufalls und der Fügung. Glücklich wie auch unglücklich. Ich kann euch all diese Speisen und Getränke überlassen und dafür muss euer Proviant nicht angebrochen werden. Oder aber ich nehme euch all euren Proviant, solltet ihr verlieren." Tyche lächelte sie an, als würde sie ihnen zuckrigen Saft versprechen, wenn sie die Hausarbeit erledigt hätten, doch keinesfalls schien in ihren Augen angekommen zu sein, dass sie ihnen jede Chance auf Überleben nehmen würde.

„Was für ein Spiel müssen wir gewinnen?", fragte Orion mit tiefer Stimme. Er war kampfbereit und wenn es sein müsste, würde er sicherlich gegen die Göttin mit seinem Schwert antreten.

Tyche wischte mit ihrer Hand durch die Luft und all ihre Waffen verschwanden.

„Hey!"

„Beruhige dich, mein Held", sprach sie. „Ich habe nicht vor, gegen euch zu kämpfen. Meine Spiele sind nicht gefährlich. Sie können den Sterblichen hohen Reichtum geben, sie aber auch sehr tief in ihr Verderben fallen lassen. Entscheidet weise, junge Helden. Ich gebe euch Zeit." Mit diesen Worten verschwand sie und ließ die drei Kinder alleine in dem Raum zurück. Ihr Füllhorn schwebte weiterhin um den Tisch herum, wie ein stummer Wächter mit weißen Flügeln.

Taras vermutete, dass es sie angreifen würde, sobald sie sich dem Marmortisch nähern würden. Er wägte ab, ob es sich nicht lohnen würde, entschied sich aber dazu, dass er keine unüberlegten Aktionen wagen sollte, solange sie unter der Beobachtung der Göttin standen. Sie konnten sie zwar nicht mehr sehen, aber das bedeutete keinesfalls, dass sie wirklich weit weg war. Wahrscheinlich hatte sie sich nur ihrer Sichtbarkeit entledigt und lauerte nun im Verborgenen.

Aigis ging vorsichtig auf die beiden Jungs zu.

Taras' Hand fühlte sich seltsam leicht an, ohne das Gewicht des kaputten Schwertes. Seine andere befreite er vorsichtig aus dem festen Griff in sein Fleisch.

„Wir sollten es wagen", sagte sie, blickte sie aber nicht an. „Wenn wir gewinnen, dann sind unsere Chancen hoch, dass wir mehr Tage überleben."

Sie sagte das so, als wäre sie sich vollkommen sicher, dass sie gewinnen würden. Sowohl Tyches Spiel als auch den Goldpreis nach den sieben Tagen in diesem Labyrinth.

„Aber, wenn wir verlieren - ", fing Orion an, doch Aigis unterbrach ihn.

„Werden wir nicht", sagte sie mit fester Stimme und blickte ihn an.

Seine Augen funkelten voller Wut und Taras legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen. Er wollte nicht, dass sein Bruder diesem Mädchen einen Schlag verpasste.

„Ich weiß, dass wir nicht verlieren."

„Vertraust du etwa dieser zwiegesichtigen Göttin?", fragte Taras, aber Aigis schüttelte den Kopf.

„Nein. Das tue ich nicht. Aber ich möchte ihr Spiel spielen. Und ich weiß, dass wir gewinnen werden."

Orion kniff seine Augen zusammen und die Muskeln in seinen Schultern spannten sich sichtbar an, sodass sein Bruder seinen Griff verstärkte. Er vertraute darauf, dass der Ältere dem Mädchen keine Gewalt antun würde, ging aber dennoch auf Nummer sicher.

„Wenn wir verlieren, ist all unser Proviant dahin", sagte er leise.

Aigis schluckte. „Aber, wenn wir gewinnen..."

Orions Blick glitt zu dem Marmortisch und Taras sah, wie auch ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Noch nie hatten die Brüder die Chance auf ein solches Mahl gehabt.

„Das werden wir. Ihr müsst mir vertrauen." Aigis ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und ihr Gesicht wurde rot.

„Wir kennen dich nicht", entgegnete Taras langsam, doch er konnte nicht umhin, Aigis zu bewundern. Obwohl sie schon Stunden im Labyrinth verbracht hatten, hatte sie noch immer den Mut gefunden, sich einem Spiel der Schicksalsgöttin zu stellen. Ihr Gesicht war erfüllt von Zuversicht und jede Spur von Angst war ich gewichen. „Ich vertraue dir."

Orion gab ein knurrendes Geräusch von sich und presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Gut. Ich vertraue darauf, dass du gewinnen wirst."

„Ihr habt euch entschieden", hallte Tyches Stimme von den Wänden wider und im nächsten Augenblick erschien sie vor ihnen. Sie sah noch immer so schön aus, wie vor wenigen Minuten, vielleicht sogar noch schöner. „Sehr wohl." Sie lächelte Aigis an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Das Mädchen zuckte sichtbar zusammen, doch die Göttin verzog keine Miene. „Komm, mein Kind. Du darfst mein Spiel bestreiten."

Viel Glück, dachte Taras mit zusammengebissenen Zähnen. Aigis wurde von Tyche zum Tisch gezogen, doch sie hielt an, bevor sie sich in Griffweite des Essens befand. Die Göttin lächelte.

„Mein Spiel ist einfach. Jeder Sterbliche versteht es. Jeder Sterbliche spielt es." Aus ihrem Füllhorn tropfte noch etwas mehr der weißen Flüssigkeit und zwischen den beiden wuchs ein weiterer Tisch hervor. Dieser war ebenso aus Marmor, allerdings wesentlich kleiner und kreisrund. Drei kleine Tropfen fielen auf die Oberfläche und wuchsen dann zu kleinen, hellbraunen Lederhütchen heran. Obschon es das zweite Mal binnen weniger Momente war, dass Taras die pure Magie der Götter erblickte, so fühlte er, wie sich ein kleiner Gedanke in seinem Kopf festsetzte. Was können wir gegen solch eine Macht ausrichten?

Aigis ließ sich nichts anmerken. Tyche allerdings schien das nicht zu interessieren. Sie nahm die drei Lederhütchen in ihre Hand und zeigte ihren Inhalt. „Nichts", sagte sie. „Früher sahen so die Seelen der Menschen aus." Eine Sekunde wartete sie auf eine Reaktion. Das Mädchen biss sich auf die Lippe, blieb aber weiterhin stumm. „Es ist einfach. Das einfachste meiner Spiele, um genau zu sein."

Taras und Orion waren – ohne es zu merken – ein paar Schritte auf die beiden zugekommen, verharrten aber in sicherer Entfernung. Schweiß war auf seiner Stirn ausgebrochen und seine Hände zitterte vor Aufregung. Er konnte seinen Bruder neben sich spüren, der so wenig Raum zwischen ihnen ließ, wie ihm möglich war, ohne dass sie sich dabei berührten. Orions Hände waren zu Fäusten geballt, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. „Kennst du die Regeln, mein Kind?"

„Ja", antwortete Aigis ruhig und blickte stur auf die Hütchen. „Ich bin bereit." Taras schluckte.

„Oh." Tyche blickte lächelnd auf Aigis herab. „Sehr wohl. Dann pass gut auf."

Aus ihrer Fingerspitze quoll eine bronzene Kugel die sie auf den Tisch legte. Sie gab kein Geräusch von sich, als das Metall auf den Marmor traf. Aigis wirkte weiterhin ruhig und vollkommen zuversichtlich. Nicht einmal ihre Hände zitterten. Ihre rehbraunen Augen folgten jeder noch so kleinen Bewegung Tyches.

Die Göttin bedeckte die Kugel mit einem der Hütchen und stellte die anderen daneben. Dann begannen die Lederhüte die Plätze zu tauschen. Erst langsam und einfach, sodass Taras ihnen noch folgen konnte, dann immer schneller. Obwohl sie nur zwei Hände besaß, wechselten alle drei Hütchen immer zur gleichen Zeit. Sie wirbelten über den Tisch, vertauschten ihre Plätze, sprangen umher und ihre Formen verschwammen, so schnell bewegte Tyche sie über den Tisch.

Als sie die Lederhütchen anhielt, schwirrte Taras der Kopf und er unterdrückte den Drang, seine Augen zu schließen. Nie im Leben konnte Aigis die Kugel noch im Blick gehabt haben. Alle drei Hütchen sahen komplett gleich aus. Die Kugel hatte kein Geräusch von sich gegeben. Es hatte sich so schnell bewegte, dass ihm schwindelig geworden war...

Und dennoch, als Aigis ohne nachzudenken auf das Hütchen links von ihr zeigte und Tyche dieses hoch hob, war dort drunter die kleine Bronzekugel zu sehen. Tyche lächelte Aigis an. „Du hast gewonnen, mein Kind."

„Unglaublich", flüsterte Orion und schnappte nach Luft. Taras konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie hatte Aigis das geschafft? Wie hatte sie der Kugel folgen können? Wie hatte sie es geschafft, ein Glücksspiel der Göttin des Glücks zu gewinnen? Seine Gedanken rasten und kreisten, seine Hände schwitzten und zitterten und sein Herz sprang ihm bis in die Kehle.

„Glückwünsch, mein Kind. Dieses Mahl soll euer sein." Die Göttin Tyche wischte erneut mit ihrer Hand durch die Luft und sowohl der kleine, runde Spieltisch als auch die Gegenstände darauf verschwanden. Mit einem weiteren Schlenker legten sich all ihre Waffen und Schilde wieder neben sie auf den Boden. „Ich halte stets meine Versprechen ein, junge Helden. Genießt diese Speisen. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht. Erst nach dem Beenden eures Mahls wird sich das Tor öffnen und eurer Weg wird weitergehen."

Tyche blickte noch einmal Aigis an und nickte lächelnd. „Vielleicht sehen wir uns wieder. Gehabt euch wohl, meine jungen Helden." Sie verschwand erneut in einem gleißenden Ball aus Licht, ihr fliegendes Füllhorn flatterte noch eine Runde unter der Decke, dann war auch dieses verschwunden.

Taras, Orion und Aigis waren wieder alleine im Raum, doch er war nicht mehr leer.

Der Marmortisch voller Köstlichkeiten war noch da.

„Wie hast du das nur geschafft?", fragte Taras beeindruckt, als er seine Stimme wiedergefunden hatte, doch die kleine Aigis lächelte nur schwächlich.

„Das war ich nicht. Ich hatte Hilfe."

„Von wem?", fragte Orion, stürzte sich sofort auf das Festmahl, welches dort auf sie wartete und griff sich ein saftiges Stück Kalbsfleisch. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe darauf zu achten, ob die fettige Soße sein sandfarbenes Gewand bekleckerte.

„Ich habe gebetet. Noch bevor wir das Labyrinth betreten haben. Und sie hat mir geantwortet und meine Hand geleitet. Vielleicht..." Sie ließ ihren Satz unbeendet, folgte Orion zum Tisch und befüllte einen goldenen Teller mit all den Speisen, die sie essen mochte.

„Und an wen hast du gebetet?", fragte Taras und gesellte sich zu den beiden. Er blieb bei seinem Bruder und aß mit ihm. Es dauerte einige Zeit, bis Aigis antwortete, bis dahin hatte er schon fast seine Frage vergessen. Er verschluckte sich beinahe, als er den Namen vernahm.

„Ich habe zu Hera gebetet. Der Schutzgöttin meiner Familie."

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