Mythen aus Silber und Licht

De Limayeel

234 9 2

Mythen sind aus vielen Stoffen geformt und muten häufig ganz verschieden an, doch letztendlich sind sie alle... Mais

Stille Nacht
Der letzte Ritt des schwarzen Herzogs
Begegnung im Licht des Todes
Die Lichter Moskaus
Kirschblüten
Kein stilles Lächeln

Spuren im Schnee

43 2 2
De Limayeel


Es schneite. Dicke weiße Flocken legten sich über die Welt und die Kälte der einbrechenden Dunkelheit vertrieb die Menschen in  ihre Häuser vor den warmen Kamin.

Nur eine einzelne Gestalt stapfte stolpernd und leise fluchend durch die verlassenen Straßen.

Indem sie sich an einem Laternenpfahl festhielt, fing sie im letzten Moment einen Sturz ab.

Raisa schüttelte den Schnee von ihrer Jacke, zog sich die Kapuze tiefer in die Stirn und hauchte ihre erkalteten Hände an, bevor sie diese wieder in den Jackentaschen verschwinden ließ.

Einen Moment blickte sie in das ihr gegenüberliegende Fenster, wo ein Mann zwei Kindern aus einem Buch vorlas. Zärtlich küsste er den Schopf des Mädchens und tauschte ein strahlendes Lächeln mit dem Jungen aus, bevor er sich erneut über das Buch beugte.

Wie vertraut ihr der Titel vorkam. Ronja Räubertochter. Beinahe hörte sie den Donner und sah die Blitze, die am Tag von Ronjas Geburt in die Mattisburg einschlugen, sie roch die frische Stutenmilch und sah vor ihrem inneren Auge Ronja und Birk über den Höllenschlund springen. Woher kamen nur die Tränen auf einmal? Hatte sie nicht geglaubt, über das Vergangene hinweg zu sein?

Ärgerlich wischte sie die Zeichen der Schwäche fort und wandte sich von dieser Familienszene, wie sie es jedes Kind erleben sollte, ab

Sie trieb durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin sie wollte. Ihre Finger formten Blumen aus Eis und Schnee auf Mauern und Zäunen, die sie von den glücklichen Paaren trennten, die sich hinter den Fenstern küssten und sich lachend unterhielten.

Doch Raisa blieb eine stumme und unbemerkte Beobachterin. Niemand sah ihr hinterher, niemand bemerkte sie und wenn doch, wandte er sich sogleich wieder ab.

Einzig die Schneeflocken bedeckten ihren Körper mit sanften Küssen und der Wind allein zog sie in seine feste, unausweichliche Umarmung.

Doch lag keine Wärme in diesen Zärtlichkeiten, so dass die einsame Gestalt erbärmlich fror.

Was hatte sie am heutigen Abend nur in diese Kälte hinausgetrieben? War es allein der Gedanke gewesen, dass es der heutige Tag war? Heute.

Sie ließ sich die Klänge auf der Zunge zergehen, bis ein bitterer Nachgeschmack verblieb. Heute.

Dennoch kehrte sie nicht um zu der Wohnung, in der nur Aufgaben auf sie warteten, sondern lenkte ihre Schritte vorwärts.

Der Schnee dagegen bedeckte die noch frische Fußspur hinter ihr, so dass schon in wenigen Minuten niemand mehr den Menschen, der eben noch hier geatmet und gestanden hatte, erahnen können würde.

Ihre Füße trieben sie vorwärts, als ob sie alleine die tiefsten Wünsche ihres Herzens kannten und trugen sie zuverlässig, und doch unbemerkt von ihr selber, bis vor die Tore des Friedhofs.

Raisa blickte zu der hübschen Backsteinkirche hinüber. Die großen, glänzenden Messingbuchstaben „Gloria in excelsis deo"  konnte sie selbst von hier erkennen.

Doch griffen ihre Hände nur zögernd nach dem Gitter, das sie von den Toten trennte. Einen Moment umfasste sie die kunstvolle Schmiedearbeit nur, dann stieß sie es zurück, als ob sie sich an ihr verbrannt hatte.

Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, aber Vögel und Blüten schwangen bereitwillig zur Seite und gaben den Blick auf die Reihen der Toten frei.

Endlose Reihen von Daten und Namen, deren Geschichten bald vergessen sein würden. Dazwischen die vereinzelten Farbtupfer der bunten Blumensträuße, die fürsorgliche Seelen auf die Gräber gelegt hatten.

Raisa blieb, sich für einen Moment umsehend, stehen, dann ging sie über schneebedeckte Kieswege zu den frisch angelegten Gräbern.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie doch nicht die Einzige gewesen war, die sich an diesem kalten Abend vor die Tür gewagt hatte.

Eine Person hockte vor einem Grabstein, der so dunkel war wie ihre Kleidung.

Raisa trat näher, denn glaubte sie zu wissen, wer es war.

„Du warst nicht bei der Beerdigung.", stellte die Frau fest und klopfte Schnee und Erde von ihrer Kleidung, ehe sie sich aufrichtete.

„Nein.", erwiderte Raisa leise. 

Drei Jahre. Im Nachhinein fragte sie sich, wie sie diese Zeit alleine hatte leben können.

Sie schwiegen.

„Du hast deine Haare geschnitten.", bemerkte die Jüngere schließlich.

Denn das lange, hellblonde Haar, das ihre Mutter einst mit Inbrunst gepflegt hatte und das schon so gewesen war, seitdem Raisa sich erinnern konnte, war nun kurz und von grauen Strähnen durchzogen.

„Als Erinnerung", erklärte ihr Gegenüber schließlich, „Als du acht warst, hast du dich entschlossen, dass du kurze Haare wolltest und sie abgeschnitten. Ich wollte es nicht vergessen.".

Seltsam, was man alles über die Jahre vergaß und was einem in Erinnerung blieb.

All der Schmerz der Vergangenheit kam für einen Moment erneut über sie, doch schob Raisa es beiseite und versuchte sich die schönen Erinnerungen vor Augen zu halten.

Sie wollte etwas sagen, die Stille überbrücken, doch die Worte kamen nicht. Der Grabstein bildete einen allzu unüberwindbaren Wall zwischen Mutter und Tochter, so wie es der Lebende auch getan hatte. 

Sie blickte darauf.

Walter Wendt

1961-2017

Der dunkle Grabstein war schmucklos und bis auf diese wenigen Zeichen leer, doch hätte sich ihr Vater auch zu Lebzeiten nicht daran gestört.

„Raya". Anisja wisperte die Worte nur noch, als fürchtete sie, dass ihr Mann sie auch als Toter noch hören konnte, „Es tut mir leid, dass ich meine Pflichten als Mutter nicht erfüllen und dir nicht den Schutz und die Liebe geben konnte, die dir zugestanden hätten.".

Erst jetzt bemerkte die Tochter, wie sehr sie die Stimme ihrer Mutter vermisst hatte. Der russische Akzent, den selbst all die Jahre in der neuen Heimat nicht hatten vertreiben können, die einzigartige Art wie nur sie ihren Namen aussprach.

„Ich weiß.", erwiderte sie schließlich und blickte ihrer Mutter zum ersten Mal seit drei Jahren in die Augen.

Sie wusste selbst nicht, was sie dort erwarten hatte. Doch fand sie dort eben denselben Schmerz, den sie auch in ihren Augen sah, wenn sie in den Spiegel blickte. Es war derselbe traurige Schatten, der jegliches Lachen zur Farce machte.

„Und ich habe dir vergeben.".

Tränen liefen über das Gesicht der Frau, die ihr unter Schmerzen das Leben geschenkt hatte, sie aufgezogen und genährt hatte und ihr in den letzten drei Jahren eine Fremde geworden war.

„Ich musste einfach weg.", hörte Raisa sich selbst wie aus weiter Ferne sagen, „Ich brauchte Abstand zu alldem und musste mir über meine eigenen Ziele und Wünsche bewusst werden.".

„Und weißt du jetzt, was du willst?". Die Stimme ihrer Mutter war schon immer leise gewesen, erinnerte sie sich, aber die Heiserkeit war ihr neu.

„Ja.", entgegnete sie schlicht.

„Das ist gut.".

Für einen Moment schwiegen Mutter und Tochter erneut und blickten sich einfach nur an.

Schließlich war es Raisa, die zuerst die Hand ausstreckte. Die Hände ihrer Mutter waren rau, doch hielten sie die Kleineren mit Kraft fest und boten die Sicherheit, der sie seit Jahren entsagt hatte und die sie so sehr vermisst hatte, dass auch ihr vereinzelte Tränen über die Wangen liefen.

Der Strom der Tränen jedoch wollte schier nicht enden und schließlich löste die Tochter eine Hand und legte sie auf die Wange ihrer Mutter.

Ihr Körper kribbelte ob dieser einfachen und zugleich allzu schwierigen Bewegung, doch spürte sie wie sich Anisja entspannte.

„Es ist alles gut.", flüsterte sie und konnte kaum begreifen, dass sie es auf einmal war, die ihre Mutter tröstete. „Ich habe dir vergeben.".

Doch die Tränen versiegten erst, als die beiden Frauen sich über dem Grab des Ehemannes und Vaters in die Arme schlossen.

Raisa musste lächeln, denn erst jetzt begriff sie, wie sehr sie unter dem Kontaktabbruch gelitten hatte.

„Meinst du, dass wir es gemeinsam schaffen?", fragte ihre Mutter zögernd.

Nach einer Weile nickte sie.

„Ja. Ich denke schon.".

Anisja löste sich aus ihren Armen und kniete auf dem Grab nieder.

„Sieh nur, Raya", meinte sie, als sie sich wieder erhob. Und auf einmal waren alte Freude und Zuversicht in ihre Stimme zurückgekehrt.

Raisas Hände schlossen sich um das Schneeglöckchen, als wolle sie so die Hoffnung auf den Frühling bewahren und schützen, weil es auch die Hoffnung auf einen Neuanfang war, die in ihrem Herzen kostbar wie ein Schatz genährt wurde und beständig wuchs.

Vielleicht war jetzt nach dem Tod ihres Vaters wirklich ein Neuanfang zwischen Mutter und Tochter möglich und – wer wusste – möglicherweise würde sie eines Tages sogar vermögen, ihrem Vater zu vergeben, der ihr doch so viel Leid angetan hatte. Gemeinsam mit ihrer Mutter würde es einfacher sein, den gemeinsamen Schmerz zu bewältigen und für sie beide einen neuen Weg der Zuversicht und der Liebe zu finden.

Gemeinsam. Wie gut sich dieses Wort auf ihrer Zunge anhörte. Sprach es doch von all der Liebe und Gemeinschaft, die sie in all den Jahren nur durch einen dunklen Schleier erlebt hatte. Doch jetzt wo dieser Schleier gelüftet worden war, schien auf einmal alles möglich und die Welt lag ihr offen.

Und dieses Mal schob sich Raisas Hand wie von selbst in die von Anisja und so waren es zwei Paar Fußspuren, die den Friedhof Seite an Seite verließen.

Continue lendo

Você também vai gostar

25.2K 905 79
• |Ganz viel Drama • |Ganz viel Liebe • |Und viele verwirrende Gefühle Lasst euch von den Titeln nicht abschrecken, bin bloß unkreativ was die Ausw...
322K 1.2K 9
16+ Oneshots Ohne Namen, nehme gerne Wünsche oder Ideen in den Komentaren an. Very spicy, have fun <3
2.5K 4 3
hey, in meiner geschichte geht es um zwei klassenkameraden die eine sex beziehung haben, diese muss geheim bleiben, da er eine freundin hat, die frag...
183K 4.3K 55
One Shots über alle erdenklichen Fußballer. Wünsche in das neue Anfragen Kapitel. Cove by @sarahbinkle