Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 50 - Der Herzkasper

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By MaraPaulie





Kapitel 50

Der Herzkasper


~Sabrina~

Sie hatte einen Bruder. Mile. Er war ihre einzige Familie gewesen, ihr einziger Halt in der Welt. Sechs Jahre waren ihr mit ihren Eltern geblieben. Sechs Jahre voller Glück, Liebe und Familie.
Sabrina war schon immer anders gewesen. So still, verschlossen und irgendwie... zurückgezogen. Sie hatte nie mit Gleichaltrigen gespielt, immer versucht sich so unsichtbar wie möglich zu machen und hatte kaum gesprochen. Bestimmt hatten sich die anderen Kinder vor ihr gefürchtet, sie als komische Einzelgängerin abgestempelt, doch eigentlich war ihr das egal gewesen. Sie hatte es ja auch so gewollt. Freunde hatte sie nicht gebraucht.
Nur zu Hause war sie aufgetaut. Nicht in der Spielgruppe, nicht im Kindergarten oder sonst wo. Nur bei ihrer Familie war sie gerne gewesen...
Bei Mom, Dad und Mile hatte sie glücklich sein können. Natürlich war sie auch dort noch immer still, verschlossen und einzelgängerisch gewesen. Trotzdem hatte Sabrina bei ihrer Familie ihr wahres Gesicht, die stille, aber auch glückliche, schlaue und offenherzige Sabrina, die sie nur bei ihrer Familie sein konnte, zeigen können.
Ja, zu Hause war sie sie selbst gewesen. Dort hatte sie glücklich sein können...
Dann waren sie verschwunden.
Von einem Tag auf den anderen waren sie alleine gewesen. Sie und ihr Bruder. Mile und Sabrina. Alleine.
Das hatte sie verändert. Sie war noch stiller geworden, hatte sich vollkommen zurückgezogen. Ihre Verschlossenheit hatte sich in ein latentes und kaltes Misstrauen verwandelt. Aus der Vorliebe, alleine zu sein, hatte sich in eine Hassliebe entwickelt. Einerseits hatte sie niemanden an sich heranlassen wollen, andererseits hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als jemanden zu haben, mit dem sie... dieses Chaos, diesen Schutthaufen, der sich ihr Leben genannt hatte, zu bewältigen.
Mile hatte schon immer auf sie aufgepasst. Er war mit viel Empathie gesegnet und das schon als Kind. Als Sabrina sich immer tiefer in ihr Schneckenhaus zurückgezogen hatte, immer tiefer in der Einsamkeit versunken war, wie in einem dickflüssigen, grausamen und schwarzen See aus Trauer, Misstrauen und Hilflosigkeit, hatte Mile Himmel und Hölle in Gang gesetzt um sie zu retten. Mehr als jemals zuvor hatte er sich um sie gekümmert. Wie ein Vogel, der aus dem Nest geflogen war, hatte er sie wieder aufgepäppelt. Irgendwann hatte sie wieder lächeln können, doch niemals wieder hatte sie das Gefühl gehabt, Boden unter den Füssen zu haben. Von jeher hatte sie der Wunsch, die Sucht nach Familie geplagt. Mile war der unglaublichste Bruder, den man sich wünschen konnte, selbst wenn er des Öfteren etwas übertrieb mit seinem Beschützerinstinkt, doch er konnte ihre Eltern nicht ersetzen. Sie und Mile gegen den Rest der Welt. Trotzdem hatte sie auf ewig der Gedanke geplagt, niemals wieder eine richtige Familie zu haben.
Tja, bis sie in dieser Welt gelandet war.
Hier hatte sie gefunden, was sie sich so lange ersehnt, gewünscht und gesucht hatte. Liebe, die ihr zugleich Boden unter den Füssen und Flügel zum Fliegen gab. Freunde, mit denen sie lachen und weinen konnte. Eine Familie, die zwar unglaublich verdreht, verrückt, aber auch genial, wundersam und liebevoll auf ihre eigene Art war.
Sie hatte sie sich so sehr gewünscht und hatte sie bekommen, ihre Familie.
Eine Tante, haufenweise Cousins und eine Cousine.
Die Cousins bestanden aus einem Haufen verstossener, krimineller Raben. Ihre Tante war eine verrückte, eiskalte und mit Sicherheit psychotische Massenmörderin und ihre Cousine hatte nichts Besseres zu tun, als sie dieser kranken Frau und ihren fünf Killerfreunden auf dem Servierteller zu präsentieren.
Tolle Familie!
Nur warum? Wieso hatte Mondkind das getan?
Mit ihrer Cousine stimmte etwas nicht, das war Sabrina von dem Moment, als sie sie das erste Mal gesehen hatte, klar gewesen. Mondkind bewegte, sprach und verhielt sich nicht wie ein vierjähriges Mädchen. Manchmal schien sie tatsächlich wie ein Kind zu sein, kicherte und redete wirres Zeug, doch dann sah man ihr in die Augen. Eine Iris, die die Farbe von Amethyst hatte. In Mondkinds Blick lag eine fantastische Intelligenz und uralte Weisheit. Ihr Verstand schien der einer weisen alten Frau und zugleich eines kleinen Kindes zu sein.
Mondkind war verrückt und schuld daran war Königin Damaris. Hätte diese Königin doch nur keinen Fluch auf die sieben Jungs gelegt...
Sabrina dachte an das Gespräch zurück, das sie damals mit Nebelfinger im Baum der Verstossenen geführt hatte. Ihr Cousin hatte ihr zu erklären versucht, wieso Mondkind, seine Brüder und er ihr leben bei den Verstossenen hatte leben müssen. Selbst ihr hatte er nicht verraten können, was diese Hexe, die irgendeinen schrecklichen Preis von Mondkind verlangt hatte. Dieser Preis, der ihre Cousine für immer verändert hatte und sie zu dieser Verrückten hatte werden lassen, nur weil die Kleine ihre Brüder von diesem Raben-Fluch hatte retten wollen! Aber wieso machte Nebelfinger so ein Geheimnis aus dieser Geschichte? Wieso verriet er niemandem, was das für ein Preis gewesen war? Na gut, Nebelfinger hatte ihr auch geraten, Mondkind immer zu vertrauen, komme was da wolle. Vielleicht hatte der Albinojunge auch nur übertrieben?
»Unsinn, Blutkralle. Rumpel hat schon immer irgendwas im Schilde geführt. Von Anfang an!«, rief eine neue Stimme durch den Saal. Es war eine Frau. Allein an der Art wie sie sprach, war herauszuhören, dass sie extrem arrogant sein musste.
»Woher willst du das wissen, Königin? Er war es schliesslich, der uns die Prophezeiung über die Rückkehr der Herrscher offenbart hat«, antwortete eine neue Stimme. Sie war männlich und hatte eine vornehme Art, dafür einen unheimlichen Klang.
Sabrina versuchte die Stimmen den Dunklen zuzuordnen. Eril hatte ihr vor langer Zeit, als sie auf dem Weg durch das Labyrinth nach LaRuh gewesen waren, von ihnen erzählt. Da waren die böse Königin Damaris, ihre Schwester die Hexe Hedwig, der Werwolfhäuptling Blutkralle, der Vampir Graf Dracula, ihre Tante Nevis die Eiskönigin und Corda die Herzkönigin.
»Denkt doch bitte mal nach. Er hat uns zwar die Prophezeiung gegeben, doch er hat sie nicht übersetzt«, antwortete die arrogante Frauenstimme, deren Besitzerin zuvor mit ‚Königin' angesprochen worden war, worauf Sabrina schloss, dass dies Königin Damaris sein musste.
»Vielleicht hat er selbst nicht gewusst, was die Prophezeiung bedeutet«, knurrte nun eine tiefe, männliche, kratzige Stimme, die dem Werwolf Blutkralle gehören musste.
Die vornehme Männerstimme antwortete: »Wieder einmal typisch Werwolf. Manchmal frage ich mich wirklich, wie ein solcher Intelligenzallergiker wie du zum Häuptling eines so mächtigen Clans gewählt werden konnte. Oh stimmt ja, ich vergass: Bei deiner rückständigen Spezies wird der Anführer ja nicht gewählt. Der Anwärter muss ja erst seinen Vorgänger umbringen, um selbst Häuptling zu werden...«
Das schien Blutkralle gar nicht zu gefallen, denn er knurrte und ein Knacken und Poltern war zu hören.
»Runter vom Tisch, du Hund!«, rief die Königin. »Und verwandle dich gefälligst wieder zurück in deine menschliche Gestalt. Und du, Dracula, wirst endlich mit diesen Sticheleien aufhören! Dies hier ist der Zeitpalast und kein Kindergarten.«
Doch Dracula dachte nicht daran aufzuhören. Er lachte, wie die Axtmörder es in Horrorfilmen tun, und rief: »Rumpelstilzchen war, bevor er den Verstand verloren hat, weil er seine Frau und das ungeborene Kind umgebracht hatte, zusammen mit seinem Bruder der Hüter der Prophezeiungen. Glaube mir, du dummer Köter, Rumpelstilzchen weiss ganz genau, was diese Prophezeiung zu bedeuten hat.«
Sabrina runzelte die Stirn. Rumpelstilzchen war ein Hüter der Prophezeiungen gewesen? Ihr Vater hatte ihr damals in der Starre erzählt, der Hutmacher würde dieses Amt momentan innehaben. Der Kerl war verrückt geworden, nachdem er Frau und Kind gekillt hatte? Um so was zu tun, musste man doch eigentlich bereits schon verrückt sein oder etwa nicht? Nur gut, dass dieser schreckliche Kerl jetzt nicht mehr der Hüter war und der Hutmacher nun alleine diese Stellung innehatte.
So viele Rätsel. So unglaublich viele Fragen, die sie ihren Freunden stellen würde, wenn sie wieder Aramesia aufwachen würde. Falls sie jemals wieder zurückkäme.
»Aber er hat uns doch die Prophezeiung übersetzt«, meinte nun eine neue Stimme. Es war diese verrückte Frauenstimme vom Anfang. Jene, die die ganze Zeit davon gesprochen hatte, alle umzubringen.
»Nur kleiner, unnützer Teile davon«, antwortete eine neue Person. Die Stimme war ebenfalls weiblich und war sehr klar und irgendwie harmonisch, wie bei einer Radiomoderatorin oder so. Andererseits war sie auch streng und kalt, wirkte beinahe emotionslos.
Sabrina wusste wer das war. Instinktiv wusste sie es.
Nevis. Ihre Tante. Die Schwester ihrer Mutter- Die Blutsverräterin. Die Dunkle.
Die verrückte Stimme widersprach Sabrinas Tante: »Aber er hatte mit dem, was er gesagt hatte, immer absolut Recht. Er sagte, die Kinder der Herrscher werden zurückkehren und das taten sie. Er sagte uns, wie wir unseren Maulwurf einschleusen können und es hat funktioniert. Er sagte, wir müssten den Schlüssel auf dem Schiff des einhändigen Piraten bringen, an den die Eisprinzessin schliesslich wirklich ihr dummes, kleines, aber schmackhaftes Herz verschenkt hat.«
»Reden diese Bekloppten etwa von dir?!«, zischte Faritales und bohrte seine Krallen in ihre Schulter.
Sabrina konnte es selbst kaum fassen. Die Dunklen hatten gewusst, dass sie und ihr Bruder in diese Welt kommen würden? Sie hatten Spione bei den Rebellen eingeschleust? Aber das Schlimmste war natürlich: Die Dunklen hatten sie irgendwie absichtlich zu Hooks Schiff geschickt? Und warum zum Teufel sollte ihr Herz bitteschön lecker sein?! Aus welchem Grund? Wieso nur?
»Corda hat Recht. Ohne Rumpel wären wir vollkommen unvorbereitet auf die Rückkehr der Herrscher gewesen. Ausserdem wären wir niemals auf die Idee mit Cernunnos gekommen. Nicht einmal die Herrscher wissen von seiner Existenz.«, stimmte die böse Königin der Herzkönigin Corda zu.
»Ja, stimmt. Cernunnos, Cernunnos, Cernunnos! Ohne den Teufel würden wir nicht einmal etwas von dem König wissen!«, rief die einzige Dunkle, die Sabrina noch nicht identifiziert hatte. Da sie die Letzte der sechs war, war dies jedoch kein Problem. Es war Hedwig, die Hexe und Schwester der bösen Königin. Ihre Stimme war die einer alten Frau, klang schrill und kratzig.
»Wer ist Cernunnos?«, fragte Sabrina Faritales, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Aber das alles ist vollkommen nebensächlich, solange wir nicht wissen, welche Macht meine Nichte und Neffe bereits haben!«, rief Nevis. Ein Scharren war zu hören, dann klackten Absätze über den Granitboden.
Sabrina wurde gleichzeitig heiss und kalt. Hoffentlich würde man sie nicht entdecken!
»Das sagst gerade du, Schneekönigin. Du, als Tochter, Schwester und Tante der Eisprinzessinnen, solltest doch am besten von all den Gaben und Fähigkeiten der Herrscher wissen. Du bist mit den Herrschern aufgewachsen. Wie kann es nur sein, dass ihre Gaben selbst vor dir geheim gehalten wurden?«, fragte Dracula mit einem gehässigen Unterton in der Stimme.
Sabrina spitzte die Ohren. Das klang interessant. Anscheinend hatten die Rebellenführer Recht gehabt! Die speziellen Gaben der Herrscher, wie das Traumreisen, Gedankenlesen und derartiges, war über Jahrmillionen vor der Aussenwelt geheim gehalten worden. Jedes Wesen in dieser Welt wusste natürlich, dass die Herrscher der Gezeiten noch viel mehr drauf gatten als Eis und Feuer, doch niemand wusste wirklich etwas Genaues.
Die Schritte kamen näher und Sabrina presste sich mit dem Rücken an die Säule hinter ihr. Der Stein war kalt. Sie biss sich fest auf die Lippe, damit der Schmerz sie von der Angst ablenken würde, doch das tat er natürlich nicht. Die Angst war zu stark. Sie mache ihren Körper taub und lahm.
Das Klacken der Absätze verstummte und Sabrina hörte Nevis, keine zwei Meter von ihrem Versteck entfernt sagen: »Ja, ich lebte mit den Herrschern. Meine Mutter war die Eiskönigin, meine Schwester ebenso und eine Nichte scheint auch eine zu sein. Diese Frauen sind meine Familie, mein eigen Fleisch und Blut. Ich lebte mit ihnen, ich ass mit ihnen und ich sprach mit ihnen. Trotzdem war ich niemals Teil ihrer Welt. Mein Vater war ein Ritter, der schon vor Jahrhunderten verstarb und von dem die Welt noch nie etwas gehört hat. Er war kein Herrscher, nicht einmal eine Märchenfigur. Er lebte sein mickriges Menschenleben und starb. Er starb, und meine Mutter lebte weiter, meine Schwester lebte weiter und ich lebte weiter. Einfach immer weiter. Selbst ich kann mich kaum noch an das Gesicht meines Vaters erinnern.«
Obwohl Sabrina gerade durch alle sieben Höllen ging, konnte sie nicht anders, als ihrer Tante voller Staunen zuzuhören. Nevis sprach da gerade von ihrem... Grossvater!
Nicht Eira und auch nicht ihr Vater hatte ihr jemals etwas von ihren Grosseltern erzählt. Auch sonst niemand verlor je ein Wort über die verstorbenen Generationen der Herrscher und wenn doch, dann nicht viel. Im Unterricht bei Jeremy Topper hatte sie einiges über ihre Vorfahren gelernt, auch Eril hatte ihr vor langer Zeit einiges darüber erzählt, doch was Nevis da gerade erzählte...
Sabrina hatte sich schon oft gefragt, wie die früheren Herrscher so gewesen waren, damals, als sie noch in diesen Hallen gelebt und regiert hatten. Wie waren sie wohl gewesen, als Wächter des Gleichgewichts der Welten, als Menschen, Eltern und Kinder? Waren sie klug, weise, lustig, frech, wild, ernst, verwegen, unsicher, wundervoll, scharfsinnig, feige, düster, peinlich, abergläubisch, rachsüchtig, respekteinflössend, vorsichtig, mutig, unnachgiebig oder gar dumm gewesen? Sie hatte all das wissen wollen, um es ihnen je nachdem nachzueifern oder eben nicht. Sie hatte Vorbilder und Beispiele gesucht, um zu lernen, wie man eine Eisprinzessin war. Was sollte sie tun und was nicht? Was war richtig und was falsch?
Doch die Frage, wie der Teil ihrer Vorfahren gewesen war, der kein Herrscherblut in sich trug, die hatte sie vollkommen ausser Acht gelassen. Ob das immer Menschen gewesen waren? Vielleicht war sie ja zu einem Achtel Elfe, Zwergin oder sogar Werwolf!
Die Schritte der Schneekönigin rissen Sabrina aus ihren Gedanken. Sie musste sich ein erleichtertes Seufzen verkneifen, als sie hörte, dass Nevis sich von ihr entfernte. Dabei fuhr sie fort: »Wenn man ein Herrscher oder eine Herrscherin ist, lebt man in seiner eigenen Welt. Um einen herum sterben die normalen Wesen wie die Fliegen und man selbst lebt weiter und weiter. Ich habe sehr an meinem Vater gehangen. Er war ein ganz normaler Mensch. Er liebte seine Frau und Kinder und anders als ich konnte er akzeptieren, dass es für eine Eisprinzessin offene Türen gibt, die für andere geschlossen bleiben. Meine Mutter und meine Schwester hatten viele Geheimnisse vor uns. Oft ritten sie zu zweit weit weg, ohne uns zu sagen, wohin oder warum. Manchmal sahen wir sie tagelang nicht. Eira und ich waren uns als kleine Mädchen sehr nahe gestanden, bis sie schliesslich ihre Ausbildung zur Herrscherin begonnen hatte. In jener Zeit bin ich sehr einsam gewesen, doch mein Vater hatte immer sein Bestes gegeben, um sich um mich zu kümmern. Wenn weder meine Mutter noch meine Schwester Zeit für mich hatten, sorgte er dafür, dass es mir gut ging. Er war da, wenn ich ihn brauchte, denn auch er war von seiner Frau und Tochter aus der Welt der Herrscher ausgeschlossen. Für ihn war das in Ordnung, doch ich war immer so neugierig. Ich hatte Eira jeden Abend über ihren Tag ausgefragt, doch sie hat niemals irgendetwas verraten. Schliesslich hatte mein Vater sein kurzes Menschenleben gelebt und er starb. Ohne ihn hatte ich niemanden mehr in der Familie, der das gleiche Schicksal hatte wie ich.«
»Eine wirklich tragische Geschichte, wirklich, wirklich furchtbar. Trotzdem wollte das niemand wissen, Nevis. Niemand hat danach gefragt und niemanden interessiert es. Wir wollten lediglich, dass du uns erzählst, wie viel du über die Fähigkeiten der Promenadenmischungen deiner Schwester weisst«, knurrte die tiefe Stimme Blutkralles durch den Saal.
»Gar nichts! Gar nichts weiss ich. Meine Grossmutter, meine Mutter, selbst meine Schwester hat alles vor mir geheim gehalten.«
Die Stimme der Schneekönigin hallte von den glattpolierten Steinwänden wider und das Echo jagte Sabrina einen Schauer über den Rücken. Nevis klang unglaublich kaltherzig. Bitterkalt...
War das der Grund, weshalb ihre Tante die Herrscher hintergangen hatte? Aus Einsamkeit und Eifersucht? Oder was Nevis von Natur aus schlecht? Gab es so etwas? Angeborene Boshaftigkeit? Vielleicht hatten Sabrinas Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter genau darum so viele Geheimnisse vor Nevis gehabt. Vielleicht hatten sie es gespürt.
Es.
Das Böse...
»Wir können doch nicht einfach nichts wissen? Ich meine... wir haben Spione. Dank den letzten Geschehnissen sogar einen, dem die Herrscher vertrauten. Wir haben Informationen. Nicht viele, aber wenigstens ein paar!«, kreischte Hedwig auf einmal.
»Ach was! Gerüchte. Nichts als Gerüchte«, knurrte Blutkralle.
Corda schwärmte: »Ich hörte, die Eisprinzessin könnte durch Raum und Zeit reisen. Ich hörte, der Lichterlord wäre ein Gestaltenwandler. Ein Hautwechsler, der sich in einen gigantischen, schwarzen Löwen verwandeln könnte.«
»Unsinn! Niemand kann durch die Zeit reisen. Nicht in die Vergangenheit und auch nicht in die Zukunft. Was geschehen ist, ist geschehen und was uns erwartet, ist nichts als ein Spiel zwischen Zufall und Schicksal«, widersprach Königin Damaris. Es knarzte, als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte.
Dracula lachte grausig und rief: »Wir sollten uns nicht streiten, meine Freunde. Soll die Eisprinzessin von mir aus auf Fischen reiten und der Lichterlord Steine fressen können, welche Fähigkeiten auch immer sie haben mögen, all das ist unwichtig. Sobald wir Cernunnos Blut getrunken und uns sein Herz, Lunge, Hirn, Leber, Fleisch und Knochen einverleibt haben, werden wir die mächtigsten Wesen aller Welten sein. Nichts und niemand wird uns noch aufhalten können. Unbesiegbar bis in alle Ewigkeit!«
Unbesiegbar!
Sabrina schluckte. Das alles war eine Katastrophe! Wenn die Dunklen etwas gefunden hatten, was sie absolut unzerstörbar machte, dann... dann war das das Ende! Das Ende von allem. Sie würden alles an sich reissen. Die ganze Märchenwelt würde für alle Ewigkeit unter dem Joch der Dunklen ihr furchtbares Dasein fristen müssen. Es würde nie wieder eine Chance für eine Rebellion geben. Dies war der letzte Krieg gegen die Dunklen, egal wer als Sieger hervorgehen würde. Aber wenn die Dunklen diese Rebellion niederschlagen und somit ungehindert an diese Macht der Unbezwingbarkeit herankommen würden... Es wäre einfach alles verloren. Alles Gute auf der Welt, ja, vielleicht sogar das Guter aller Welten. Die Dunklen würden niemals aufhören, einfach alles einnehmen, vor nichts haltmachen, nicht einmal vor Fremden Welten, die nicht ihnen gehörten.
»Cernunnos, Cernunnos, Cernunnos. Ich werde sein Herz essen. Sein Herz!«, rief Corda und klatschte in die Hände.
»Das wirst du. Wir alle werden es...«, lachte Hedwig und kicherte hämisch.
Cernunnos. Wer war das? Wessen Herz wollten diese bösartigen Wesen essen? Das war einfach nur... widerwärtig und grausam. Wer war dieser Cernunnos? Anscheinend brauchten ihn die Dunklen, um an diese Macht zu kommen. Wer auch immer dieser Cernunnos war, würden sie ihn jemals in die Finger bekommen, dann...
»Riecht ihr das?«, grollte Blutkralle auf einmal. »Könnt ihr das riechen?«
Faritales vergrub sein Gesicht in Sabrinas Haar, um das Wimmern, das ihm entwich, abzudämpfen.
»Was riechen?«, fragte die Herzkönigin angespannt.
Dracula schnüffelte geräuschvoll und brummte dann nachdenklich: »Ja... ja! Du hast Recht, Hund. Hier riecht... nein, es duftet nach... Angst! Wunderbare, qualvolle, grässliche Todesangst!«
Sabrina biss die Zähne zusammen. Einerseits, um nicht vor lauter Panik zu schreien, andererseits, um nicht mit den Zähnen zu klappern, so sehr zitterte sie bereits.
Sie war vollkommen wehrlos! Sie war doch nur ein Mädchen im Pyjama in einem Palast voller Monster. Niemand konnte ihr helfen. Kein Ritter in glänzender Rüstung oder ein Pirat mit glitzerndem Haken würde sie retten können. Sie war vollkommen verloren!
»Ihr Werwölfe und Vampire mit euren unglaublichen Nasen. Manchmal denke ich wirklich, euer abnormes Riechorgan ersetzt euer Hirn! Wir sind die Dunklen. Jeder in diesem Palast hat Angst vor uns. Selbst unsere Verbündeten fürchten sich, in unserer Nähe zu sein. Der Geruch der Angst muss in diesem Gebäude stärker sein, als der Verwesungsgeruch einer Riesenkannibalenschnecke, die in der prallen Sonne liegt!«, lachte Corda und klatschte erneut in die Hände.
»Fari! Was soll ich tun? Sie werden uns finden! Was soll ich nur tun?«, hauchte Sabrina. Natürlich konnte der Dämon ihr keine Antwort geben. Er war genauso starr vor Angst, wie sie selbst.
Ja, es sah wirklich schlecht aus. Sehr, sehr schlecht.
Sollte sie nun jemand entdecken, so wollte sie es nicht wissen. Vielleicht würden diese Dunklen sie ja ganz schnell umbringen. Umbringen, so weit das bei ihr möglich war. Jedenfalls wollte sie nicht sehen, was sie erwarten würde. Darum vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und wartete auf ein schnelles Ende.
Plötzlich fiel rechts von ihr eine Tür ins Schloss und leise, schnelle Tapser hallten von den Wänden wider.
Eine Tür? Rechts von ihr? Sabrina traute sich nicht, aufzusehen, also harrte sie in dieser zusammengekrümmten Haltung aus.
Wer auch immer da über den Granit tappte, er schien sie nicht bemerkt zu haben. Noch nicht, denn es würde ja wahrscheinlich auch ein Rückweg folgen. Ein Rückweg von dem Tisch zurück zu der neuen Tür. Geschirr klapperte und Sabrina erkannte das bekannte Geräusch von Flüssigkeit, die in eine Teetasse gegossen wurde. Dieses Geräusch war fest mit den Erinnerungen an die Unterrichts-Kaffeekränzchen verbunden. Der Hutmacher, wie er aus seinem geliebten Zylinder ein ganzes Tischservice samt Tee und Kuchen zaubern konnte. Mondkind, wie sie verrückte Prophezeiungen und Gedichte vor sich hin trällerte. Hook, wie er sie anlächelte, nur um für sie seine Langeweile zu überspielen und um sie so aufzumuntern. Rosanna, wie sie Mile mit Krümeln und Keksen bewarf und ihn mit ihren Sticheleien zur Weissglut trieb. Hänsel, der sich zusammen mit Faritales und Katmo den Bauch mit Kuchen vollschlug. Nebelfinger, der mit seinem gewohnt ruhigen, aber auch etwas traurigen Blick immer auf seine kleine, verrückte Schwester Acht gab. Bree, wie sie beinahe schon zwanghaft seriös ihrer Pflicht als Leibwache der Eisprinzessin nachging. Red, die Sabrina nun langsam immer sympathischer wurde. Tja und dann war da noch Mile, wie er aus dem Buch über die Herrscher vorlas...
Es tat gut, an ihre Freunde zu denken, doch vergessen konnte sie die Realität nicht.
Doch was sollte dieser Tee? Tranken diese Ungeheuer wirklich während ihrer Sitzungen ganz stinknormalen Tee?
»Du bist spät dran, Kaninchen«, tadelte Corda und schlürfte dann laut.
»Ja, ja! Wie Recht Ihr habt, meine Königin. Oh bitte, verzeiht mir. Es wird nie wieder vorkommen, ganz bestimmt!«, bibberte eine verängstigte, nasale Stimme.
»Natürlich wirst du das, du dummer Bettvorleger. Kommst du noch einmal zu spät, werde ich dich enthaupten lassen«, antwortete die Dunkle hämisch.
Bettvorleger? Kaninchen?
Vorsichtig hob sie den Kopf aus und schielte zu Faritales, der sich vor Stress die Krallen abkaute. Als der Dämon ihren Blick bemerkte, zuckte er die Schultern.
»Worauf wartest du, Osterhäschen? Na los«, rief Hedwig, »zisch ab!«
»Ich könnte ihn auch fressen«, grollte Blutkralle. Ein Klirren, als würde Glas zerspringen.
»Na toll, Hund, jetzt hat er vor Schreck das Tablett fallen lassen«, seufzte Königin Damaris und Corda kreischte: »Heb es auf! Sammle alle Scherben auf! «
»Ja, Königin. Natürlich, meine Herrin...«
Ein Kratzen und Scharren. Glas klimperte. Der ‚Bettvorleger' hob die Scherben auf.
Zum Abschied knurrte Blutkralle, was dem armen ‚Bettvorleger' ein verschrecktes »Huch!« entlockte.
Die Dunklen lachten wie die fiesen Kinder in der Schule, die ihre kleineren und schwächeren Mitschüler plagten.
Der ‚Bettvorleger' tapste wieder an ihr vorbei... und hielt inne.
Ganz, ganz langsam drehte Sabrina den Kopf nach rechts.
Vor ihr stand ein weisses Kaninchen. Es steckte in einem abgenutzten Anzug. Über einer grauen Weste trug er ein dunkelblaues Jackett, das mit Flicken in unterschiedlichen Blautönen wieder zusammengenäht worden war. In der Brusttasche steckte an einer Kette eine silberne Taschenuhr. Der oberste von drei goldenen Knöpfen fehlte. Das linke Hosenbein war zerfetzt und das andere löchrig. Die weissen Schlappohren hingen traurig herunter. Seine Augen leuchteten rot und zuckten hektisch hin und her. Der ganze Körper des Tiers zitterte wie Espenlaub. Vor sich balancierte das Kaninchen auf seinen Vorderpfoten ein Silbertablett, auf dem sich Porzellanscherben türmten.
Das Kaninchen starrte Sabrina an, sie starrte zurück.
Sabrina wurde schlecht vor Angst. Alles in ihr zog sich zu einem Klumpen zusammen, der rau, viel zu heiss und dann wiederrum eiskalt und lähmend war. Jetzt war es aus. Das war also das Ende. Dabei wollte sie noch nicht sterben. Sie wollte nicht gehen. Sie hatte diese wundervolle Welt doch gerade erst gefunden. All ihre neuen Freunde... Das erste Mal glaubte sie, einen Sinn zum Leben zu haben. Sie hatte einen Grund gefunden, für den es sich lohnte zu kämpfen.
»Wir sollten es halten, wie schon gehabt. Rumpel geht seine eigenen Wege. Solange er uns nicht in die Quere kommt, werden wir ihn nicht beachten. Was die Herrscherkinder angeht, sollten wird jedoch aufmerksam bleiben. Unsere Spione werden uns weiterhin Bericht erstatten. Ausserdem sollen sie Phase zwei einleiten und die Marionette aktivieren. Schickt die Traumdämonen sofort los. Zwei Duzend Sandmänner. Sie sollen unsere Spione über alles aufklären. Sie sollen die Gerüchte so schnell wie möglich verbreiten. Ich will, dass sie sofort beginnen. Der Maulwurf soll sich an den Plan halten. Er soll gute Miene zum bösen Spiel machen und erst aktiv werden, wenn seine Zeit gekommen ist«, meinte Königin Damaris mit strenger Stimme. Die anderen Dunklen stimmten ihr zu. Die Worte der Königin schienen Faritales einen gewaltigen Schrecken einzujagen, denn er zuckte zusammen. Kein Wunder! Halfen die Traumdämonen den Dunklen etwa? Und was zum Teufel wollten die mit Sandmännern? Sicherlich waren Sandmänner in dieser Welt keine winzige, weissbärtige und freundliche Marionetten... Und was für Gerüchte sollten verbreitet werden? Was hatte all dies zu bedeuten?
Die roten Augen des weissen Kaninchens zuckten noch immer hektisch zwischen Sabrina und den Dunklen hin und her. Anscheinend traf es gerade eine Entscheidung.
Immer mehr Furcht staute sich in ihr an und schliesslich konnte sie sich nicht mehr halten. Sie lehnte sich so lautlos wie möglich vor, verschränkte ihre Finger ineinander und streckte dem Kaninchen ihre gefalteten Hände entgegen.
»Bitte«, bettelte sie leise und flehend. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Mile. Sie hatte sich nicht wieder mit ihm versöhnt. Wieso nicht? Ja, Himmel, er hatte Mist gebaut, aber er war ihr Bruder. Das war ja irgendwie sein Job! Und wenn sie nun sterben würde... Er würde sich bis an sein Ende mit dem Gedanken quälen, dass sie ihm nicht verziehen hatte...
»Bitte!«, flüsterte sie noch einmal. Vor lauter Tränen konnte sie kaum noch etwas sehen. Alles verschwamm. Trotzdem konnte sie noch erkennen, wie das Kaninchen davoneilte. Samt Tablett, Scherben, Lumpenanzug und Schlappohren.
Sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben! Sie hatte gesehen, was eine Herrscherin im Tode erwartete, wenn keine Nachfolgerin ihren Platz einnahm. Sie würde wie ihre Mutter für alle Ewigkeit in der Starre, der Zwischenwelt verbringen müssen. Sie würde in der Dunkelheit herumirren. Alleine. Ganz alleine...
Wieder knarzte eine Türe. Da war irgendwo eine Türe und sie blöde Heulsuse hatte nicht gesehen, wo, weil sie ja lieber den Granitboden bewässern musste. Bescheuertes Rumheulen!
Sie unterdrückte ein Schluchzten. Obwohl das Kaninchen sie bestimmt nicht mehr hören konnte, hauchte sie: »Ich will noch nicht gehen...«
Und plötzlich war alles schwarz.


~Mile~

Mile konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum. Sein Geis kam einfach nicht zur Ruhe.
Peter Pan konnte seinem Adoptivbruder Captain Hook nicht verzeihen, dass er seine Schwester, Arielle, nicht gerettet hatte. Hook hatte Arielle nicht aufgehalten, weil er in sie verliebt und somit blind gewesen war. Blind vor Liebeskummer. Liebe, immer diese Liebe! Hook musste geglaubt haben, das Richtige zu tun, in dem er Arielle gehen liess. Das war doch allseits bekannt. Wenn du jemanden wirklich liebst, musst du ihn gehen lassen. Diesen Hook hatte er, Mile, aus der Stadt jagen wollen, da der Pirat in seine Schwester verknallt war. Daraufhin hatte Peter ihn in dem was er getan hatte, bekräftigt, was wiederrum der Grund gewesen war, dass er Sabrina geholfen hatte, Hook aufzuhalten.
Bruder und Schwester. Liebe und Hass.
Dinge, die verschiedener nicht sein konnten und sich doch so unglaublich ähnelten.
Und Miles Gedanken kreisten weiter über diese unendliche Geschichte. Unendlich, weil sie nirgendwo ein Ende fand. Es war ein Kreislauf.
Bruder, Schwester, Liebe, Hass, Bruder, Schwester, Liebe, Hass...
Und dann hatte Mile eine Idee. Diese Idee bestand aus einem Geistesblitz und einer dieser Eingebungen, die er manchmal hatte. Es war wie ein flüchtiger Gedanke, der sein Bewusstsein streifte und in ihm ein Gefühl schenkte, dass ihm wie ein Licht in tiefster Nacht den Weg wies.
Ganz vorsichtig stand er auf, darauf bedacht, Red nicht zu wecken. Sein Wolfsmädchen brummte nur irgendetwas Unverständliches und drehte ihm den Rücken zu. Gut so, sie sollte ruhig weiterschlafen...
Ohne lange Zeit zu verlieren zog er sich an, schnallte Scheide und Schwert an seinen Gürtel und schlüpfte in seine Schuhe. Ausserdem warf er sich noch einen dunklen Kapuzenumhang um. Da er lieber auf einen Leibwächter verzichten wollte, öffnete er sein Zimmerfenster schwang beide Beine über das Fensterbrett. Er klammerte sich an den Fensterrahmen des Zimmers, während er sich, den Rücken durchgebogen wie beim Limbo, langsam aus dem Fenster gleiten liess. Schliesslich hing sein ganzer Körper aus dem Fenster. Unter einiger Kraftanstrengung gelang es ihm, die Beine um die Regenrinne neben dem Fenster zu schlingen. Dann liess er vorsichtig den Fensterrahmen los und rutschte die Regenrinne wie eine Feuerleiter hinunter. Er hatte so etwas schon tausendmal gemacht. Damals war er noch kein Lichterlord gewesen, sondern einfach nur Mile der Waisenjunge. Immer wenn die Kinder genug von den schäbigen Wänden des Waisenhauses gehabt hatten, waren sie einfach abgehauen. Meistens nachts, wenn die Leiter des Waisenhauses selbst schon schliefen. Die Fenster in den Schlafräumen der Kinder waren allesamt vergittert gewesen, ebenso die in den Badezimmern. Nur das Küchenfenster nicht. Das Vorhängeschloss des Küchenfensters war leicht mit einer Haarspange zu knacken gewesen. Schwierigkeiten hatten sie nur beim Hinausklettern gehabt. Von dort kannte er den Trick mit der Regenrinne. Wenn die Waisenkinder dann frei gewesen waren, hatten sie sich auf dem Spielplatz zwei Strassen weiter getroffen. Die Schaukeln waren schon vor Jahren geklaut worden und die Rutschbahn hatte ausgesehen wie eine zerdrückte, zerlöcherte und rostige Alubüchse, doch das machte nichts. Sie hatten sich gar nicht für den ramponierten Spielplatz selbst, sondern viel mehr für den Fussballplatz daneben interessiert.
Alle Kinder, die genug Mut gehabt hatten, aus dem Waisenhaus auszubrechen und herzukommen, hatten sich auf dem Fussballfeld getroffen. Gras war dort nicht mehr gewachsen. Je nach Wetter hatte das Spiel auf einem staubtrockenen oder matschigen Platz stattgefunden. Oh ja, das waren Zeiten gewesen. Im Licht des Mondes und der Sterne hatten sie Fussball gespielt. Erst als alle kaum noch gehen konnten vor Erschöpfung und Müdigkeit waren sie wieder zurück in das Waisenhaus geschlichen. Mit Räuberleitern und der Regenrinne waren sie alle wieder heil im Heim angekommen. Natürlich hatte man die Kinder eines Nachts beim Abhauen erwischt und so war auch das Küchenfenster vergittert worden. Trotzdem war es eine schöne Erinnerung und nun schien sich das Klettertraining auch noch zu lohnen...
Sobald Mile auf dem Boden aufkam, nahm er die Beine in die Hand und lief los. Keine der Wachen en, die vor dem Rathaus postiert worden waren, hatte ihn bemerkt. Sicher schliefen sie wieder oder waren betrunken. Trotzdem zog Mile sich die Kapuze des dunkelgrünen Umhangs tief ins Gesicht und lief schneller. Die Nacht wurde zu seinem Verbündeten, denn sie versteckte ihn unter ihren Schatten.
Oh, wie Drosselbart ihn morgen tadeln würde, wenn er erfahren würde, dass der Lichterlord ohne Begleitschutz mitten in der Nacht aus dem Rathaus ausgebrochen war. Aber das war egal, was er vorhatte, musste er alleine tun.
Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Seine Schatten tanzte im Licht der vereinzelten Strassenlampen. Alles war von einem unheimlichen Schimmern überzogen, denn ein Schauer hatte die Stadt vor einer Stunde vollkommen durchnässt und jeden noch so kleinen Pflasterstein mit einer dünnen Wasserschicht überzogen. Dementsprechend roch es auch nach Regen, was Mile sehr mochte. Vor allem dank seinem übernatürlichen Geruchssinn. Auch die Kraft des Lichterlords erwies sich als nützlich und so rannte Mile mit einer unerschöpflichen Ausdauer durch Aramesias Gassen und Strassen, immer weiter Richtung Westtor.


~Sabrina~

Eine dunkelrote Wand hatte sich links und rechts von der Säule heruntergelassen, wie ein Wasserfall aus Stoff. Es waren Vorhänge, die überall zwischen den dicken Granitsäulen herabgelassen werden konnten und so den inneren Teil des Saals vom äusseren abschirmten. Auch das fahle Licht des Kronleuchters drang nicht durch den Stoff und so war es nun stockduster.
»Fari? Was ist los?«, zischte Sabrina verwirrt und blinzelte die Tränen weg. Das half jedoch leider nichts, denn es war zu dunkel um irgendetwas zu erkennen.
Der Dämon stupste ihr in die Wange und flüsterte: »Keine Ahnung, aber ich finde, wir sollten die Gelegenheit nutzen und ganz schnell abhauen!«
Sabrina richtete sich auf und tastete nach der Säule. Ihre Finger streiften den kalten Granit. Von irgendwo hinter dem Vorhang waren dumpf die Stimmen der Dunklen zu hören: »Bei allen sieben Höllen, was soll das? Niemand hat gesagt, dass die Vorhänge heruntergelassen werden sollen! Wer war das?«
Angestrengt stierte sie in die Schwärze. Tatsächlich begannen ihre Augen sich bereits wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen und sie konnte die fahlen Umrisse der anderen beiden Säulen neben der ihren ausmachen.
»Wohin?«, keuchte Sabrina und versuchte ruhig zu atmen.
»Psst!«, machte es auf einmal rechts von ihr. »Psst! Hierher, Mädchen. Na los!«
Ohne lange nachzudenken taumelte Sabrina auf die Stimme zu, bis sie direkt vor einer Wand zum Stehen kam, an der ein riesiges, verstaubtes Gemälde hing. Das Motiv darauf war schwer zu erkennen, doch Sabrina glaubte einen Baum ausmachen zu können.
»Wo bist du?«, fragte sie und tastete den Rahmen des Bilds ab.
»Das Astloch. Du musst in das Astloch hineingreifen«, murmelte die Stimme, die von irgendwo hinter der Leinwand kam. Wer auch immer da sprach, er oder sie befand sich hinter dem Bild.
»Astloch? Ich sehe kein Astloch!«, zischte Sabrina und versuchte, die Leinwand des Bildes wegzureissen, doch erstaunlicherweise gelang ihr das nicht. Das Gemälde war auf irgendetwas harte draufgeklebt worden. Die Türe?
Sabrina trat einen Schritt zurück und studierte das Bild genauer. Ja, das war eindeutig ein Baum. Unzählige Details waren in das Gemälde eingearbeitet, doch um jedes einzelne bewundern zu können, fehlte ihr die Zeit.
»Astloch, Astloch, Astloch...«, brummte sie vor sich hin.
Es knallte und Nevis Stimme drang durch den Vorhang: »Ich will jetzt sofort, dass dieser verdammte Stoff wieder hochgezogen wird! Das ist schweres, verstaubtes Samt, wir können das nicht hochheben, ihr Vollidioten! Los doch!«
Faritales, der sich nicht von der tollwütigen Schneekönigin hatte ablenken lassen, piekte Sabrina in die Wange und zischte: »Da! Da! Siehst du? Genau neben diesem weissen Dings mit den grossen Augen. Da ist ein Astloch!«
Sabrina suchte das Gemälde ab. Endlich entdeckte sie das weisse Dings mit den grossen Augen in der linken Ecke des Bilds. Es war jedoch kein Dings, sondern ein grosser, weisser Drachenkopf, dessen Augen einen durchdringend musterten, beinahe so als wäre er real und kein Gemisch aus Farbe auf einer Leinwand. Der Rest des Drachenkörpers wand sich um den Stamm des Baumes und war einfach wunderschön gemalt. Jede einzelne Schuppe wirkte selbst in dem spärlichen Licht unwahrscheinlich echt.
Womit der Traumdämon richtig gelegen hatte, war das Astloch. Gleich neben dem Drachenschädel gab es ein Astloch im Baum.
Sabrina trat wieder näher an das Gemälde heran, kniete sich hin und steckte ihre Hand in das faustgrosse Loch. Tatsächlich war hier ein Teil der Leinwand herausgeschnitten worden.
Etwas Kaltes streifte ihre Finger und sie griff danach. Es war ein metallener Türknauf. Erleichtert drehte Sabrina ihn herum und es klickte. Sie konnte gerade noch zurückweichen, als das Gemälde wie eine Türe einen Spalt weit aufschwang.
Sie hätte vor Glück schreien können, doch natürlich tat sie es nicht. Stattdessen stürzte sie in den Raum hinter dem Gemälde. Kaum war sie über die Schwelle getreten, klappte das Gemälde wieder an seinen Platz zurück.
»Oh Himmel«, stiess Sabrina aus und fiel auf die Knie, die sie einfach nicht mehr tragen wollten. Sie kippte zur Seite und krümmte sich wie ein Embryo im schützenden Bauch der Mutter zusammen. Sie lachte und weinte gleichzeitig, während ihr ganzer Körper unkontrolliert zu zittern begann, da nun die Wirkung des Adrenalins nachliess. Faritales drückte sich an ihre Brust und umklammerte ihr rechtes Handgelenk, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.
Plötzlich hörte Sabrina ein helles Glockenläuten und weckte sie aus ihrer besinnungslosen Erleichterung. Gleichermassen verwirrt und neugierig schniefte sie und rieb sich mit einer Hand die Tränen aus den Augen. Das erste was sie sah, waren links und rechts von ihr kalte, nasse Steinwände. Dies schien eine Art Gang zu sein, dessen Ende sie nicht erkennen konnte, da auch hier nur spärliches Licht herrschte, deren Quelle eine Fackel war, die einige Meter entfernt an einer Halterung an der Steinwand angebracht war. Als sie hinter sich blickte, sah sie, wie sie schon vermutet hatte, eine grosse Holztür. Das Holz war an einigen Stellen mit Moos oder Pilzen bewachsen. Diese geheime Türe musste schon sehr alt sein.
»Wer bist du?«
Sabrina drehte den Kopf und starrte angestrengt in den dunklen Gang, konnte jedoch niemanden erkennen. Sie wurde misstrauisch. War ihr geheimnisvoller Retter ein Freund oder doch nur ein weiterer Feind? Konnte sie diesem Fremden vertrauen? Was wusste sie schon von ihm? Vielleicht hatte der Fremde sie nur gerettet, um sie selbst umbringen zu können. Die Stimme klang auch nicht wirklich vertrauenswürdig. Eindeutig männlich und irgendwie... misstrauisch. Genauso misstrauisch wie sie selbst...
Darum antwortete sie: »Das gleiche könnte ich dich fragen. Wer bist du? Hast du mich gerettet und wenn ja, wieso? Zeig dich gefälligst. Ich will wissen, mit wem ich spreche!«
Ein Tuscheln und Kratzen war zu hören. Anscheinend war der misstrauische Mann nicht alleine. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, schnappte am Ende nur ein knurriges »Na geh schon!« auf und dann trat etwas aus dem dunklen Gang.
»Du?«, fragte Faritales ungläubig.
Das weisse Kaninchen scharrte mit einem seiner langen Hinterbeine verunsichert über den nassen Pflasterstein und druckste: »Na ja, eigentlich...«
»Konzentrier dich, Sero«, knurrte die Stimme in den Schatten.
So war das also. Das Kaninchen, dessen Name also Sero sein musste, arbeitete mit dem misstrauischen Fremden zusammen...
»Du bist das weisse Kaninchen aus ‚Alice im Wunderland', oder nicht?«, fragte Sabrina um etwas Vertrauen in dem Kaninchen zu erwecken, doch anscheinend hatte es mehr Angst vor der Stimme, als Vertrauen zu ihr, denn Sero ging nicht auf sie ein, sondern stammelte: »Er will wissen, wer ihr beiden seid, woher ihr kommt und wie ihr hierhergekommen seid und wieso.«
»Wer ist er?«, fragte Sabrina, die nicht so leicht aufgeben wollte.
Das Kaninchen drehte sich unsicher zu seinem misstrauischen Boss um, doch der schwieg.
Nun war auch Sabrina etwas unsicher. Was sollte sie jetzt machen? Bis sie aus der Traumwelt verschwinden würde, konnte es noch Stunden gehen. Wenn ihr nicht bald eine gute und plausible Erklärung einfallen würde, waren ihre Tage gezählt. Er wirkte nicht so, als würde er Kompromisse eingehen.
»Sie weiss nicht, wer sie ist«, platzte es plötzlich aus Faritales heraus. Erstaunt blinzelte Sabrina den Dämon an, doch dieser zuckte nur die Schultern.
»Wieso?«, knurrte die Stimme sofort.
»Hallo? Hörst du mir zu? Ich habe doch gerade gesagt, dass sie sich an nichts erinnert. Putz dir mal die Ohren, Mr. Ich-bin-mir-zu-fein-um-mich-zu-zeigen. Und ich bin übrigens Faritales. Ein Traumdämon. Um genau zu sein; ein Nachtmahr. Ich habe dieses Mädchen hier zufällig in dem Saal gefunden, wo ich... gerade damit beschäftigt gewesen bin, die... die Gemälde abzustauben«, rief der Dämon, deutete auf Sabrina und zwinkerte ihr zu.
»Du kluger Dämon!«, flüsterte Sabrina und lächelte.
Es vergingen ungefähr fünf Minuten, die sich jedoch wie Stunden anfühlten, bis die Stimme wieder antwortete: »Wir haben hier des Öfteren Menschen, die irgendwo auftauchen und eine Amnesie haben.«
Nun war Sabrina verwirrt. Die Stimme hatte nicht sarkastisch geklungen, sondern todernst. Sollte ihnen etwa ein solches Glück wirklich vergönnt sein?
»Ach, echt?«, fragte Faritales, der genauso erstaunt war, wie Sabrina. »Hast du dazu eine Theorie?«
Nun war es Sero, der antwortete: »Ja, schon. Meistens sind es Mädchen oder Frauen, aber auch ab und zu Männer oder Jungen. Sie tauchen überall im Palast auf und erinnern sich an nichts mehr. Wir glauben, sie sind Spielzeuge von Dracula.«
Sabrina lief es kalt den Rücken hinunter. Das klang ja gar nicht gut...
»Es ist allgemein bekannt, dass der Vampirgraf gerne Ausflüge in die Stadt macht. Tempus scheint sein liebstes Jagdgebiet geworden zu sein. Dort entführt er seine Opfer, mit denen er spielt, ihr Blut saugt und am Ende meist umbringt. Manchmal, wenn er gnädig gestimmt ist, lässt er seine Opfer auch am Leben, doch die sind meistens schon so traumatisiert, dass sie verrückt geworden sind. Viele werfen sich von den Zinnen, begehen Suizid um zu vergessen, was ihnen angetan wurde. Andere, Leute wie du, müssen sich nicht umbringen um zu vergessen. Sie tun das von ganz alleine. Die Seele ist zu zerstört, als dass sie einfach so weitermachen könnte, also löscht sie jegliche Erinnerungen um neu anfangen zu können.«
Der Dämon krallte sich in ihre Schulter und flüsterte ihr zu: »Davon habe ich mal was im Fernsehen gesehen. Die menschliche Seele hat voll den Blackout und resettet sich einfach. Die haben dann null Erinnerungen. Die totale Amnesie!«
»Bist du sicher, dass du nicht nur Hangover gesehen hast?«, fragte Sabrina stirnrunzelnd.
»Ganz sicher«, antwortete Faritales und nickte heftig.
Sabrina räusperte sich und rief: »Ja, das... das klingt doch ganz plausibel. So wird es gewesen sein.«
Kaninchen und Stimme schwiegen. Dann bewegte sich der Schatten am Ende des Gangs. Mit jedem Schritt, den der misstrauische Besitzer der Stimme machte, klimperte es ganz unverwechselbar wie Glöckchen.
Schliesslich trat der geheimnisvolle, misstrauische Mann ins Licht und Sabrina konnte ihn nur staunend anstarren.
Er war ein Narr.
Ein Hofnarr mit einer Mütze mit mehreren Zipfeln und Glöckchen. Unter der Kopfbedeckung lockte sich schwarzes Haar. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er trug eine eintönige, schwarze Tunika, die von der Hüfte ab in mehreren Stoffstreifen auslief, die ihm bis zu den Knien reichten. Auf der Brust, direkt über seinem Herzen war ein rotes Stoffherz aufgestickt. An einem Gürtel hingen ein Spiegel, mehrere schwarze Fäden, ein langer, gebogener Dolch und einige Glöckchen. Seine Hose war knallrot, wie das aufgestickte Herz auf seiner Brust. Seine Hände steckten in roten Handschuhen. Seine Kleider wirkten ein wenig zerlumpt, als würde er sie schon lange Zeit tragen.
Der Fremde hielt nicht an und kam immer näher auf sie zu. Schliesslich hockte er sich vor sie hin, beugte sich vor und musterte sie eindringlich. Sabrina tat es ihm gleich und verfiel augenblicklich seinem Bann.
Sein Gesicht war unglaublich. Weder im negativen noch im schlechten Sinne. Es war unglaublich, weil man keinerlei Emotionen darin lesen konnte. Der misstrauische Mann schien gleichzeitig zu lächeln und zu weinen. Während in tristen, grauen Augen eine unendliche Traurigkeit glitzerte, funkelte in ihnen der Schalk. Seine Lippen versprachen den Anflug eines lustigen Lächelns, blieben jedoch bei dem Teilnahmslosen Ausdruck einer Puppe. Auf beiden Augen trug er Tattoos in Form von Strichen, die versetzt unter seinen Brauen ansetzten, über die Lider und die Jochbeine flossen, um irgendwo auf den Wangen zu endeten.
»Du bist faszinierend«, murmelte Sabrina schliesslich. »Wer bist du?«
Der Narr fing ihren Blick ein und liess sie nicht wieder los. »Ja und du bist kein Amnesieopfer.«
Sabrina wich zurück und widersprach: »Doch, das bin ich!«
»Nein, das bist du nicht«, raunte der Fremde. Ohne ihren Blickkontakt abzubrechen, tastete der Mann den Boden ab, bis er fand, was er gesucht hatte. Er hob die linke Hand und hielt sie ihr vor die Nase.
Eine einzige Eisträne glitzerte auf seiner Handfläche.
Sabrina starrte ihre Träne an. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass man sie anhand ihrer Tränen entlarven könnte.
Der geheimnisvolle Mann wartete, bis die Träne auf seiner Handfläche geschmolzen war, dann liess er sie auf den Pflasterstein tropfen und sah sie wieder an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Würde er sie ausliefern? Wieso nicht? Was könnte ihn davon abhalten?
Er lächelte, was seine Augen jedoch mit Tränen füllte und hauchte: »Seid gegrüsst, Sabrina Beltran, Herrscherin der Gezeiten, Wächterin über das Gleichgewicht der Welten und junge Eisprinzessin.«
Ruckartig stand er auf und hielt ihr seine Hand hin. Sie hätte seine sie einfach ignorieren können, doch dafür war sie noch zu benommen. Die Traumreise, die Dunklen, das Kaninchen, das Gemälde und nun dieser fremde, misstrauische Mann, der sie soeben als Eisprinzessin enttarnt hatte. Also liess sie sich von ihm aufhelfen..
»Ich... ich bin nicht...«, stammelte sie und blinzelte zu dem Narr auf. Na klasse, noch ein Kerl, der grösser war als sie. Wieso konnte sie nicht auch einmal auf andere hinuntersehen?
»Aber nein, gib dir keine Mühe. Ich weiss, wer du bist. Du siehst nicht nur aus wie deine Mutter, du hast auch ihre Ausstrahlung. Ich kann sie regelrecht spüren, diese Kälte in dir. Als mir Sero vorhin erzählte, er hätte ein blondes Mädchen in dem Saal der Dunklen gesehen, da hatte ich schon einen Verdacht...«
»Wieso einen Verdacht? Du hörst von 'ner Blondine in 'nem grossen Raum und denkst sofort, an die Tochter der Herrscher?«, fragte Fari und lachte, doch sein Lachen klang etwas zu schrill. Nach Mile war der Dämon der mieseste Lügner überhaupt. Obwohl es offensichtlich war, dass der Dämon log, ging der Fremde auf ihn ein: »Es stimmt, dass Dracula gerne mit jungen Mädchen spielt, quält, sogar tötet. Trotzdem würde er weder Leiche noch seine Amnesieopfer in dem Saal liegen lassen, in dem die Dunklen ihre Sitzungen abhalten. Und wer sonst hätte in diesen Raum voller Bösartigkeit gelangen und auch noch überleben können? Ich weiss schon seit langem, dass etwas in Bewegung ist. Etwas wird sich ändern. Etwas wird passieren. Ich kann es fühlen. Du musst wissen, ich verfüge über eine unglaubliche Empathie. Und so konnte ich es fühlen, fühle es noch immer. Die Veränderung. Willst du wissen, wie sie sich anfühlt, junge Eisprinzessin?«, fragte der Mann und lächelte traurig.
Sabrina nickte zaghaft.
»Hoffnung. Die Veränderung fühlt sich an wie Hoffnung. Mit dir und deinem Bruder ist die Hoffnung in diese Welt zurückgekehrt. Selbst hier, im Zeitpalast, der heutzutage der schrecklichste Ort auf diesem Kontinent ist, sprang dieser Hoffnungsfunke über und steckte jeden an, der den Dunklen nicht treu ist.«
»Soll das heissen, ihr seid Rebellen? Hier im Zeitpalast? Gibt es denn noch mehr von euch?«, sprudelte es aus Sabrina heraus. Wenn es hier tatsächlich eine Widerstandsgruppe geben sollte, würde das alles ändern. Sie könnten die Dunklen von innen heraus zerfressen und angreifen. Das waren einfach fabelhafte Neuigkeiten!
Sabrinas Begeisterung wurde jedoch sogleich wieder zunichte gemacht, als der Fremde den Kopf schüttelte, auf den Dämon deutete und brummte: »Nein, nicht vor ihm.«
»Wie bitte?!«, fauchte Faritales und riss empört die Augen auf.
»Er ist ein Dämon. Einer von denen«, zischte der Mann und klopfte an die Geheimtüre.
»Na und?«, zischte Sabrina und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er ist einer meiner besten Freunde. Wenn er nicht vertrauenswürdig ist, was bist dann du? Langsam gehst du mir gewaltig auf die Nerven. Erst rettest du uns und dann lässt du den Geheimnisvollen raushängen. Ich sag dir jetzt mal was, Mr. Empathisch. Seit ich diese Welt betreten habe, hagelt es Geheimnisse. Rätsel, Prophezeiungen, Lügen und Intrigen. Selbst die Menschen, die ich am meisten liebe lassen mich im Stich oder erzählen mir einfach nie die ganze Wahrheit. Verdammte Scheisse, ich komme zum Punkt: Ich will jetzt sofort deinen bescheuerten Namen wissen, aber pronto!«
Der Fremde schwieg. Sein Gesicht war zu einer absolut emotionslosen Maske geworden.
»Gut, dann halt nicht, du Blödmann«, brummte sie frustriert und drückte sich an ihm vorbei. Barfuss watschelte sie den Gang hinunter. Die Fackel, die an der Wand angebracht war, nahm sie aus deren Halterung, um wenigstens gegen die Dunkelheit dieses gruseligen Gangs gewappnet zu sein.
Der staubige Boden unter ihr fühlte sich rau an. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihre Angst grösser. Was würde sie am Ende dieses Tunnels erwarten?
Als sie an Sero, dem Kaninchen, vorbeilief, würdigte sie ihn keines Blickes.
»Ich kann dir keinen Namen nennen.«
Beinahe erleichtert, drehte Sabrina sich zu dem Fremden um. Sie stand hier mitten in einem dunklen, geheimnisvollen und vielleicht sogar gefährlichen Geheimgang irgendwo im Zeitpalast. Begleitet wurde sie nur von einem halbstarken Traumdämon, der Angst vor seinem Spiegelbild hatte. Sie steckte auf gut Deutsch bis zum Hals in der Scheisse. Tja und dieser Fremde war der perfekte Vorwand, um sich noch eine Weile vor dem Alleinsein drücken zu können.
»Natürlich kannst du das«, rief sie ihm zu und stemmte eine Hand in die Hüfte. Sie würde sich nicht von diesem Clown an der Nase herumführen lassen.
Das Knistern der Flammen, die an der Fackel leckten, hallte von den nassen, kalten Wänden wider. Das Licht warf den Schatten des Fremden an die Wand.
»Ich habe keinen Namen«, murmelte er und zuckte mit den Schultern.
»Jeder hat einen Namen.«
»Ich nicht.«
»Unsinn!«
Langsam wurde sie richtig wütend. Sie wollte das hier nicht. Sie wollte einfach nur zurück in ihr warmes Bett, in dem sie eingeschlafen war.
Etwas zupfte an ihrem Hosenbein und als sie an sich hinabblickte, sah sie zwei grosse, rote Augen. Sero legte die Ohren an und räusperte sich. Schliesslich erklärte er kleinlaut: »Er... er sagt die Wahrheit, Miss...«
Sie runzelte die Stirn und sah zu dem angeblich Namenlosen hinüber. Zwar steckten Kaninchen und Doctor Who unter einer Decke, aber irgendwie glaubte sie den beiden. Sie selbst war die Urururururururururururururururururururururururururuurururururururururururururururururenkelin der Entdecker der Fantasie, wieso sollte es nicht auch einen Menschen geben, der keinen Namen hatte?
»In Ordnung, ich glaube euch. Trotzdem würde ich gerne wissen, wieso du keinen Namen hast. Und selbst wenn, irgendwie muss ich dich ja nennen«, meinte sie seufzend.
Der Fremde setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu. Zwei Meter von ihr entfernt blieb er stehen, gleich neben dem Kaninchen. Da stand er, der namenlose Mann, der angeblich mit einer Art magischer Empathie ausgestattet war, die es ihm ermöglichte, die Gefühle anderer wahrzunehmen. Eigenartig, wie Emotionslos er trotzdem wirkte. Andererseits hatte sie ja gesehen, was mit ihm geschah, wenn er Gefühle zeigte...
»Der Grund, wieso ich keinen Namen habe ist, dass meine Mutter mir keinen gab.«
»Und wieso nicht?«
»Weil es ihr egal war.«
Eine Mutter, der ihr Kind so gleichgültig war, dass sie ihm keinen Namen gab? Ein Wort, das der fundamentalste Teil unserer Existenz war und diese hatte seine Mutter ihm verwehrt?
»Aber wie nennst du oder dich. Wen rufen die Leute, wenn sie deine Hilfe brauchen? Und welche verflixte Rabenmutter gibt ihrem Kind keinen richtigen Namen?«, bohrte sie weiter nach.
Die grauen Augen fixierten sie, als der Namenlose sprach: »Man ruft mich den Herzkasper und meine Mutter ist Corda, die Herzkönigin.«


~Mile~

Die Jolly Roger schaukelte sanft. Die Monde liessen das Schiff in ihren farbenfrohen Lichtern erstrahlen.
Mile lief über den Steg auf das Schiff zu. Das morsche Holz unter ihm knarzte. In der Ferne bellte ein Fuchs.
Ja, die Jolly Roger. Das Schiff in den Wolken, der fliegende Holländer, Heim des einhändigen Piraten.
Als er den Steg zur Hälfte überquert hatte, änderte er sein Schritttempo. Seine Füsse flogen nur so über den Boden und am Ende des Stegs sprang er. Dieser Sprung hätte ganz sicher alle Weitsprungrekorde an seiner alten Schule gebrochen. Er segelte knapp über die Reling, streckte die Arme aus und rollte sich ab. Mit ziemlicher Wucht knallte er gegen den Grossmast und entlockte ihm ein Knacken, doch natürlich reichte es nicht aus, um den grössten und dickstem Mast des Schiffes wirklich zu beschädigen.
Etwas benommen richtete Mile sich auf und rieb sich die schmerzende Schulter.
»Verdammter Mast«, brummte er und sah sich auf dem Deck um. Sofort hatte er ein ungutes Gefühl. Wie immer bei seinen Eingebungen hatte er keine Ahnung, woher sie kamen oder warum er sie hatte, aber sie waren da. Diese Eingebung sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Das Deck war so leer und alles war so still. Seit wann war es auf einem Piratenschiff so ruhig? Er hatte sich solche Orte immer voller wacher, rauer Seemannsstimmen vorgestellt, egal zu welcher Tages-und Nachtzeit. Allein das hätte Mile nicht so misstrauisch werden lassen, doch seinen Eingebungen hatte er schon immer vertrauen können und somit war er sich sicher: Hier auf der Jolly Roger stimmte etwas ganz und gar nicht.
»Guten Abend, Mile«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm. Eine junge, traurige Stimme.
Noch bevor er sich dem Sprecher zuwandte, wusste er, wen er gleich erblicken würde.
»Peter Pan? Was tust du hier?«, fragte Mile den Jungen. Peter sass auf einem Fass. Er sah aus wie immer. Der gebrochene, traurige Junge, der niemals erwachsen wurde und sein Dasein als Zehnjähriger fristete, verfolgt von dem Tod seiner Schwester du der schrecklichen Rache, die er an seinem Bruder nehmen wollte.
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, antwortete Peter frech.
Mile runzelte die Stirn. Wieso war Peter hier? Wo er seinen Bruder doch so verabscheute, wieso war er dann hier?
»Irgendetwas stimmt hier nicht, Peter. Ich kann es fühlen. Du solltest von hier verschwinden!«, riet er dem Jungen und deutete auf die Stadt, die sich hinter ihnen auftürmte.
»Wieso sollte ich gehen? Der Spass fängt doch gerade erst an«, meinte Peter und sprang von seinem Fass herunter. Halb schwebend, halb gehend, tänzelte er um ihn herum und lächelte.
Erst verstand Mile nicht, doch dann zählte er eins plus eins zusammen.
»Soll das... soll das heissen... du hast etwas damit zu tun?«, stammelte er erschrocken.
Peter schüttelte den Kopf und meinte: »Aber nein. Jedenfalls nicht vollständig.«
»Was soll das heissen?«, knurrte Mile und packte den Jungen an der Schulter.
»Es sind die Gerüchte, junger Lord. Ich weiss nicht, wer sie in die Welt gesetzt hat, aber sie machen rasend schnell die Runde. Hörst du es nicht? Das Geflüster, das durch die Strassen und Gassen der Stadt hallt?«
»Von was redest du?«
Peter lachte auf und zischte: »Wie ich sagte. Ich spreche von den Gerüchten. Irgendjemand hat eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte von einem jungen Piraten Captain, der Geschäfte mit Teufeln und Monstern abschliesst. Ich hörte, er hätte seine eigene Schwester verkauft. Man munkelt, er würde gemeinsame Sachen mit den Dunklen machen. Er soll ein Verräter sein! Er ist ein Spion, eine Ratte, die alles was sie sieht und hört, an die Dunklen weiterleitet.«
»Was redest du da? Was meinst du damit?«, knurrte Mile, der noch immer nicht verstand.
»Ich hatte einen nächtlichen Spaziergang gemacht. Ich schlenderte gerade durch eine dunkle Gasse, wie es sie hier zu tausenden gibt, da sah ich zwei Männer. Sie unterhielten sich gerade über meinen Bruder. Als ich mich in ihr Gespräch einmischte, erzählten sie mir all diese Dinge und als ich sie fragte, er ihnen diese Dinge erzählt hätte, da meinten sie, es wären irgendwelche Leute gewesen, die sie irgendwo getroffen hätten. Wesen, die sie gar nicht kannten.«
»Du meinst... es sind Gerüchte über Hook in Umlauf? Aber wieso? Wer hat sie in die Welt gesetzt? Bist du das etwa gewesen, Peter?«, fragte Mile leise.
»Nein«, antwortete Peter grinsend, »aber ich wünschte, ich wäre es gewesen!«
Mile stiess den Jungen angewidert von sich weg. Wenn diese Gerüchte sich wirklich so wahnsinnig schnell verbreiteten, war das ein grosses Problem. Mile wusste von der Macht, die Gerüchte haben konnten. Niemand hinterfragte sie, denn wer sollte sich solche Storys schon einfach so ausdenken? Himmel, wie lange würde es wohl dauern, bis der Mob sich hier auf dem Deck versammeln würde, um den Piraten zur Rechenschaft zu ziehen? Oder war er etwa schon hier?
»Peter, was ist dann passiert? Was ist los? Was hast du getan?«, brüllte Mile den Jungen an, der sich gerade wieder vom Boden aufrappelte.
»Nun, ich habe dem Gerücht den Weg geebnet. Ich habe die blutigen Geschichten meines Bruders zu dem Mann geführt, der sie unbedingt hören sollte.«
»Und wer soll das sein?«, knurrte Mile und trat bedrohlich näher an Peter heran. Dieser liess sich jedoch kaum beeindrucken und trällerte lächelnd: »Dem rechtmässigen Besitzer dieses Schiffs. Er ist der eigentliche Captain der Jolly Roger oder wie diese Galeone ja eigentlich genannt werden sollte: Der fliegende Holländer.«
Langsam riss Mile der Geduldsfaden und er schrie: »Wen zur Hölle meinst du? Was ist hier los?«
»Ich spreche von dem schrecklichsten Piratenjäger aller Zeiten. Sein Name ist Captain Morgan und er ist vor etwa einer Viertelstunde hier aufgetaucht, um meinem einhändigen Bruder einen Besuch abzustatten.«


~Sabrina~

Die Fackel glitt aus ihrer Hand und fiel auf den staubigen Boden. Das Licht flackerte, ging jedoch nicht aus.
»Heilige Scheisse, lauf! Lauf!«, brüllte Faritales und riss an ihrem Leinenhemd.
Das weisse Kaninchen sprang nervös auf und ab und rief: »Du darfst mit so was doch nicht einfach immer so rausplatzen. Die Leute halten dich doch sonst auch für so ein Monster!«
»Jetzt lauf endlich!«, kreischte der Dämon und krallte sich an ihrer Schulter fest.
Sabrina stolperte rückwärts.
»Mach schon!«, jaulte der Dämon.
Also lief sie los. Die Fackel hatte sie ganz vergessen, also stürzte sie sich in die Dunkelheit. Die Arme vor sich ausgestreckt taumelte sie blind durch den Geheimgang. Als ihre Hände auf kalten Stein trafen, tastete sich weiter an der Wand entlang.
»Warte!«
Das Wort hallte in einem leiser werdenden Echo von den Wänden wider. Es war die Stimme des namelosen Sohns der Herzkönigin. Der Sohn dieser Irren!
»Sabitz! Die sind uns auf den Fersen!«, zischte Fari.
Sabrina rannte an der Wand entlang, bis sie erneut auf ein Hindernis stiess. Kalte, längliche, senkrechte Metallrohre. Da war eine verdammte Gittertüre!
Sabrina konzentrierte sich und liess in ihrer Hand eine winzige Eiskugel heranwachsen. Das Eis leuchtete in einem kühlen blau.
»Na klasse«, murmelte sie, als sie sah, dass ihre Vermutung stimmte. Eine Gittertüre, alt und verrostet und trotzdem noch stabil genug, um sie aufzuhalten.
»Kannst du die nicht mit... 'ner Eisexplosion oder so was in die Luft jagen?«, fragte Faritales und sah sich hektisch um, doch glücklicherweise hatten ihre Verfolger sie noch nicht erreicht, doch ihre Schritte kamen eindeutig näher.
»Das würde zu lange dauern. Mist, was sollen wir nur tun?«, fluchte sie und lehnte die Stirn gegen die Gittertür.
»Vielleicht solltest du mir einfach einmal zuhören, bevor du abhaust«, meinte der Herzkasper hinter ihr.
Sabrina fuhr herum. Drohend hielt sie die Hand, in der noch immer die Eiskugel lag, vor sich und zischte: »Einen Schritt näher und diese Eiskugel wird die Wände hier mit deinem Gehirn schmücken!«
Der Herzkasper lächelte, woraufhin ihm die Tränen übers Gesicht kullerten. Also hörte er auf zu lächeln und liess seine Mimik starr werden. Er bückte sich zu Sero hinunter, der sich zitternd hinter seinen Beinen versteckte und drückte dem Kaninchen die Fackel in die Hand, die Sabrina vorhin fallen gelassen hatte.
»Du brauchst nicht vor mir wegzulaufen«, versprach er und richtete sich wieder auf. Dabei hielt er die Hände in die Höhe, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Sabrinas Blick wanderte zu seinem Gürtel, ab dem ein Dolch steckte. Seufzend zog der Narr ihn heraus und warf ihn ihr zu. Er landete vor ihren Füssen im Staub. Ohne den Herzkasper aus den Augen zu lassen, hob sie die Waffe auf, liess die Eiskugel in ihrer Hand schmelzen und liess den Dolch deren Platz einnehmen.
»Ist jetzt alles in Ordnung?«, fragte er und liess die Hände wieder sinken.
»Wieso hast du uns gerettet?«, zischte sie.
»Nicht so misstrauisch.«
»Pech gehabt. So bin ich halt. Also, wieso?«
Er seufzte und meinte: »Ich bin nicht der Feind.«
Sabrina lachte freudlos und antwortete kalt: »Ach ja? Du bist der Sohn der Herzkönigin. Was solltest du sonst sein, als der Feind?«
»Ich könnte dein Verbündeter sein.«
»Das glaube ich nicht.«
Er schüttelte den Kopf und erklärte: »Ich gehöre nicht zu denen. Ich bin ihr Sohn und das war es auch schon. Ich bitte dich, meine Mutter hat mir nicht einmal einen Namen gegeben. Sie wollte mich nicht. Nach meiner Geburt hat sie mich einer der Hebammen in die Arme gedrückt und gesagt, sie solle sich um mich kümmern. Weisst du eigentlich, wieso man sie die Herzkönigin nennt?«
»Nein, keine Ahnung«, antwortete Sabrina zögerlich.
»Weil sie keines hat. Da ist kein Herz. Liebe, Glück, Freude... All diese Gefühle kennt sie nicht. Sie lebt einzig für den Hass und die Wut, denn das ist das einzige, das sie überhaupt fühlen kann. Sie ist komplett verrückt. Sie hat mich zu ihrem Hofnarren gemacht, weil sie mich so lustig findet.«
»Was zur Hölle ist an dir denn lustig?«, fragte Sabrina. Auch wenn sie versuchte, es zu vermeiden, irgendwie hatte sie Mitleid mit dem namenlosen Sohn der Herzkönigin.
»Wie gesagt, sie ist verrückt«, murmelte er. »Ich denke, sie findet es amüsant, dass alles, was ich fühle, Chaos ist. Meine Mutter ist abartig, also bin ich es auch. Du wirst schon bemerkt haben, dass ich komisch bin. Beim kleinsten Lächeln steigen mir die Tränen in die Augen. Verspüre ich auch nur einen Funken Wut, so bekomme ich es mit der Angst zu tun. Werde ich eifersüchtig, habe ich zur selben Zeit auch Mitleid. Meine ganzen Emotionen spielen verrückt! Ich bin nicht in der Lage, zu fühlen, wie jeder andere. Ich bin mein eigenes Spiegelbild. Ich verkörpere das Gegenteil, verstehst du, junge Eisprinzessin?«
Sabrina nickte langsam. Es musste schrecklich sein, so leben zu müssen. Kein Wunder, dass der Narr meist diesen emotionslosen Gesichtsausdruck hatte...
»Vergiss nicht, wer er ist. Er ist trotzdem noch ihr Sohn. Was, wenn das alles eine Falle und er doch einer von denen ist?«, flüsterte Faritales ihr zu und sie nickte. Der Dämon hatte ja Recht. Das hier war der Zeitpalast und nicht das Fantasialand! Sie musste verflucht aufpassen, wem sie vertraute!
»Mir ist egal, wer oder was du bist und wieso du einen Mutterkomplex hast oder so. Ich will einfach nur von hier weg und wenn ich eine ganze Woche in diesem verfluchten Geheimgang hocken muss. Du wirst mich nicht anrühren«, drohte sie und zielte weiter mit dem Dolch auf den Herzkasper.
»Aber Prinzessin, wir stehen doch auf der gleichen Seite«, mischte sich nun auch noch Sero ein.
»Und wieso sollte ich euch das glauben? Glaubt mir, ich bin oft genug an der Nase herumgeführt worden, jetzt ist Schluss«, fuhr Sabrina das Kaninchen an.
»Du hast mich vorher gefragt, ob es noch mehr von uns gibt«, brummte der Herzkasper, »und ich habe dir noch immer keine Antwort darauf geben. Das hole ich jetzt nach. Ja, Prinzessin, es gibt noch mehr von uns. Wir sind viele, viele hunderte.«
»Ich sagte, es ist Schluss! Hört auf mit den Lügen!«, brüllte Sabrina.
»Es sind keine Lügen! Es ist die Wahrheit!«, beteuerte Sero und der Narr nickte.
»Wir sind nicht wirklich Rebellen. Man könnte uns nicht einmal als Widerstand bezeichnen. Wir sind so was wie stille Beobachter. Wir verachten die Dunklen und all das Schlechte, dass durch sie entsteht. Diese Welt war einst ein unglaublich schöner, fantastischer Ort, doch diese Monster haben einen Platz der Angst und Zerstörung daraus gemacht. Unsere Mission ist es, diese alte Welt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir wahren die alten Geschichten und die Erinnerungen an die Herrscher der Gezeiten, damit kommende Generationen wissen, wer der Lichterlord und die Eisprinzessin waren, so können wir den Glauben an euch erhalten«, versuchte der Namenlose sie weiter zu überzeugen.
»Ihr seid stille Beobachter und Geschichtenerzähler? Aber was soll das bedeuten? Seht euch doch an. Ihr seid den Dunklen hörig. Du, Kaninchen, bringst den Dunklen Tee und Kuchen, während diese den Mord an mir und meinen Freunden planen. Und du, Sohn der Herzkönigin, spielst den Emotionsgestörten Clown für deine herzlose Mutter. Warum sollte ich euch bitteschön trauen?«, keifte sie. Für einen Moment vergass sie ihre Angst und trat auf den Narren zu. Die Klinge des Dolches glitzerte im Licht der Fackel.
»Weil wir dich gerettet haben«, antwortete Sero und starrte die Klinge an.
»Ein Vorhang hat mich gerettet«, antwortete sie barsch.
Sero wollte nicht locker lassen und redete weiter: »Und das mit dem Vorhang waren auch wir.«
»Unmöglich. Du warst zu sehr mit deinen Teetassenscherben beschäftig und der namenlose Clown hier hatte sich hinter dem Gemälde versteckt.«
»Ich sagte doch, wir sind nicht die einzigen. Wir sind viele«, erklärte der Herzkasper.
Sabrina schüttelte den Kopf und seufzte: »Und wenn schon. Ihr stillen Beobachter. Was soll das eigentlich? Wenn ihr nichts tut, was bringt es dann? Ihr könntet so viel erreichen, so viel Gutes tun. Aber stattdessen versteckt ihr euch in Geheimgängen hinter Bildern. Und wenn ihr euch grad nicht versteckt, küsst ihr den Dunklen die Füsse.«
»So ist das nicht«, widersprach der Narr ihr. »Wir sind den Dunklen in keiner Weise treu. Aber wenn wir nicht tun, was sie wollen, bringen sie uns um. Die geben und keine zweite Chance. Die legen uns um und das war's. Das einzige, was wir tun können, ist abzuwarten. Wir warten auf den richtigen Moment und dann schlagen wir zu! Glaub uns doch. Wir können dir helfen!«
Sabrina schüttelte den Kopf und lief rückwärts, bis sie mit dem Rücken wieder an die rostigen Gitterstäbe stiess. Sie starrte das Kaninchen und den Narren an und murrte leise: »Toll. Und was, wenn dieser verdammte Moment nicht kommt? Ihr seid doch nur ein Haufen Feiglinge. Wie könntet ihr mir schon behilflich sein?«
Da lachte der Herzkasper freudlos und murmelte verschwörerisch: »Nun, da du dich in dem Saal der Dunklen versteckt hattest, nehme ich einmal an, dass du sie belauscht hast. Ich bin sicher, dass der Name Cernunnos gefallen ist. Willst du wissen, wer das ist?«
Sabrina starrte den Narren an. Cernunnos. Die Dunklen hatten von ihm gesprochen. Cernunnos. Ein eigenartiger Name. Sie hatte noch nie von ihm gehört...
»Ja«, flüsterte sie. »Sag mir, was du über ihn weisst. Die Dunklen... sie sagten, durch ihn würden sie die mächtigsten Wesen der Welt werden! Wer ist er?«
Der Herzkasper lächelte und die Tränen liefen ihm übers Gesicht.
»Komm mit. Ich zeige ihn dir...«


~Mile~

Mile raste die Treppe hinunter. Das Schiff schaukelte sanft hin und her und brachte Mile zum Stolpern, doch er fing sich jedes Mal auf und rannte weiter. Über die Planken, immer schneller.
»Du wirst ihn nicht aufhalten können! Morgan hasst Piraten. Es gibt nichts, was er mehr hasst!«, rief ihm Peter zu. Kichernd schwebte er neben Mile her.
Mile ignorierte ihn. Er rannte zum Heck des Schiffs und riss dort die Türe auf, die ihn zu der Kajüte des Captains führen würde. Er trat in den Vorraum ein. Dumpfe Geräusche drangen durch eine weitere Tür zu ihm durch. Dumpfe Schläge, ein Kratzen und Knarzen, irgendetwas zersplitterte.
»Sie sind da drin«, stellte Peter fest und landete hinter ihm auf den Füssen.
Mile drehte an dem Knauf der Türe, doch diese liess sich nicht öffnen.
»Abgeschlossen, na so ein Mist«, murmelte der Junge und grinste breit.
»Halt die Klappe«, brummte Mile und trat zwei Schritte zurück, dann sprang er auf die Türe zu und warf sich mit der Schulter dagegen. Das Holz knackte, gab aber nicht nach.
»Vergiss es, das klappt nicht!«, seufzte Peter und lehnte sich an die Wand.
»Ich sagte, du sollst die Klappe halten!«, knurrte Mile finster und versuchte weiter, die Türe einzuschlagen. Immer wieder warf er sich dagegen. Die kämpfenden Seeleute hinter der Tür merkten davon nichts. Ihr eigener Kampflärm übertönte alle anderen Geräusche.
Langsam begann Miles Schulter zu schmerzen, doch er gab nicht nach. Immer und immer wieder versuchte er es. Er warf sich gegen die Tür, trat und schlug auf sie ein.
Peter sah ihm tatenlos zu. Irgendwann schüttelte er den Kopf, als würde ihm langweilig werden und er seufzte: »Das schaffst du nicht, gib auf. Du...«
Mit einem lauten Krachen gab die Tür nach und Mile wurde in die Kapitänskajüte katapultiert. Schnell rappelte er sich auf und blickte sich um.

Wer eine Schwäche für Boxkämpfen hatte, war hier bei der falschen Adresse, denn beim Boxen gibt es Regeln. Die beiden Seemänner schlugen rücksichtslos aufeinander ein.
»Huch, na das nenne ich mal eine Prügelei«, kicherte Peter, der ebenfalls eingetreten war.
Hook lag am Boden. Aus seiner Nase lief Blut und seine Lippe war aufgeplatzt. Das Leinenhemd, das er wohl zum Schlafen getragen hatte, war ebenfalls blutbesudelt und der Kragen war bis zum Bauchnabel aufgerissen. Auch seine Hose war zerlöchert und aus einem der Risse sickerte Blut.
Über ihm stand ein grosser Mann. Er trug einen langen, roten Mantel, darunter ein weisses Hemd und eine Lederhose. Vollbart und Haar war gleichermassen verfilzt. Seine Haut war wettergegerbt und runzlig. Voller Hass starrte er den Piraten unter ihm an.
»Hab ich dich, du elendiger Bastard«, knurrte der Seemann, der eindeutig dieser Morgan sein musste. »Verrecke in der Hölle!«
Mit diesen Worten setzte er einen Fuss auf Hooks Kehle.
»Halt!«, brüllte Mile und dann geschah alles gleichzeitig. Morgan blickte sich verwundert um, Hook rollte sich unter seinem Widersacher weg, rappelte sich auf und trat ihm in den Schritt. Peter fluchte, sprang in die Luft und schwebte an der Decke. Morgan kippte mit einem Schmerzensschrei nach vorn und riss den Piraten mit sich.
»Hey! Sofort aufhören!«, rief Mile und versuchte die beiden auseinander zu ziehen, doch als Dank bekam er nur einen der Tritte ab, was ihn rückwärts stolpern und gegen einen Schrank krachen liess.
»Ich bin kein Verräter«, brüllte Hook. Er hatte momentan die Oberhand und kniete über Morgan, während er dessen Gesicht mit seinen Fäusten bearbeitete.
»Das... sagen... sie... alle!«, knurrte Morgan zwischen den Schlägen. Er schnellte hoch und verpasste Hook eine Kopfnuss und dann einen Tritt, der den Piraten rückwärts durch die Kajüte schleuderte. Hook knallte an die Wand und riss die dort aufgehängten Waffen mit sich zu Boden.
»Schluss jetzt!«, schrie Mile die beiden an und stellte sich zwischen sie. Die Seemänner blinzelten ihn verwirrt an, so als würden sie ihn jetzt erst bemerken.
»Er... er ist ein Verräter... macht gemeinsames mit den Dunklen«, keuchte Morgan.
»Nein, mache ich nicht, du Trottel!«, verteidigte sich Hook sofort. Er richtete sich auf und wischte das Blut, das an seinem Haken klebte, am Hemd ab.
»Oh doch, das bist du, du elendiger Mörder! Ihr Piraten seid alle falsche, verlogene Teufel. Aber jetzt ist es vorbei! Jetzt werde ich Gerechtigkeit üben«, rief Morgan. Ehe Mile es verhindern konnte, stürzte der Piratenjäger sich zur Seite, kroch unter den Tisch und schnappte sich eine Pistole, die Mile zuvor gar nicht gesehen hatte. Einer der beiden musste sie während des Kampfes verloren haben.
»Stirb, du dreckiger Bastard!«, brüllte Morgan und schoss, doch der Pirat hatte schnelle Reflexe und wich der tödlichen Bleikugel aus.
»Der Tod macht schon seit vielen tausend Jahren Jagd auf mich und hat mich nie erwischt. Auch heute wird er mich nicht zu fassen kriegen!«, knurrte Hook, sprang durch die Kajüte zu dem Schrank, riss eine der Schubladen auf und kramte seine eigene Pistole heraus. Es klickte, als er sie entsicherte. »Ein altes Modell. Nur drei Schüsse, aber ich werde sowieso nur einen brauchen um dein hässliches Gesicht auf dem Teppich zu verteilen. Ich verspreche dir, das wird eine richtige Sauerei werden«, murmelte er und zielte auf seinen Jäger.
Morgen starrte furchtlos in den Lauf der Pistole.
»Du vergisst, dass auch ich mit einer Schusswaffe auf dich ziele«, knurrte Morgan und deutete mit einem Nicken auf seine eigene Pistole.
»Natürlich habe ich das nicht vergessen, nur solltest du daran denken, dass wenn du mich erschiesst, sich auch aus meiner Waffe ein Schuss lösen wird. Ich werde dich mit in den Tod reissen!«
»Hier erschiesst niemand irgendwen, ist das klar?«, fauchte Mile, doch die Seemänner sahen ihn nicht einmal an. Sie liessen den Blick nicht voneinander ab.
»Leg die Waffe nieder und ich werde dich verschonen, Morgan«, versuchte Hook die Situation zu entschärfen, doch sein Gegner lachte nur und grunzte: »Seit wann lässt du schon so etwas wie Gnade walten, Hook? Du weisst ja nicht einmal, was das ist! Du bist nichts als ein blutrünstiger, widerwertiger Killer!«
»Nein, so bin ich nicht. Ich weiss, dass ich ein Monster war, doch das bin ich wirklich nicht mehr. Die Eisprinzessin persönlich hat mir eine neue Chance gegeben und ich habe diese ergriffen. Lass die Sache einfach ruhen. Ich weiss nicht, wer dir erzählt hat, ich sei ein Verräter, aber diese Person hat gelogen oder wusste es einfach nicht besser!«, versuchte Hook den Seemann umzustimmen.
»Mir ist es egal, wer du jetzt bist, Hook. Du hast so viel verbrochen, selbst wenn das, was mir erzählt wurde, nur eine Lüge ist, so ist deine Vergangenheit trotzdem nicht vergessen. Ich hätte dich schon lange umlegen sollen!«, knurrte Morgan.
Mile durfte nicht zulassen, dass diese Idioten sich gegenseitig das Hirn wegpusteten! Er musste etwas unternehmen! Also versuchte er erneut, Pirat und Seemann zur Vernunft zu bringen und schlug vor: »Hört mal, ihr beide... Vielleicht solltet ihr einfach einmal beide die Waffen weglegen und...«
Plötzlich sprang Morgan in die Höhe. Er packte Peter Pan, der noch immer unter der Zimmerdecke geschwebt war, am Kragen und zerrte ihn zu sich herunter. Seine grosse Hand schloss sich um den Hals des mageren Jungen und er hielt ihm den Lauf seiner Pistole an den Kopf. Peter röchelte und keuchte, doch er brachte keinen Ton heraus, denn der Würgegriff des Seemanns war stark.
»Lass ihn sofort los!«, brüllte Hook und trat drohend auf Morgan zu.
Morgan grinste und säuselte: »Na, na, na! Einen Schritt weiter und du hast nicht nur deine Schwester, sondern auch noch deinen Bruder auf dem Gewissen. Hmm, das scheint wohl heute Nacht eine richtige Familienfete zu werden...«
»Morgan, Sie lassen jetzt sofort den Jungen los! Das ist ein Befehl!«, knurrte Mile drohend. Das hatte er alles nicht gewollt. Er hatte doch nur auf das Schiff kommen wollen, um mit Hook zu reden. Er hatte die Idee gehabt, irgendwie dabei zu helfen, Peter und seinen Bruder wieder zu versöhnen und nun...
Morgan schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich werde gar nichts tun, junger Lichterlord. Auch dieser Junge hier ist kein Unschuldiger. Er ist einer der Verstossenen. Er ist ein Verbrecher, genau wie sein Bruder und wenn es sein muss, werde ich auch ihn töten!«
Peter war bereits ganz rot im Gesicht geworden. Die Pistole drückte fest gegen seine Stirn. Trotzdem wehrte sich Peter weiter. Er hatte die Fingernägel in Morgans Haut gekrallt und zerkratzte ihm die Arme, die bereits von roten Striemen übersäht waren. Ausserdem trat er wild um sich, doch er traf leider nichts.
»Lass ihn los!«, schrie Hook. »Er ist doch nur ein trauriger, kaputter Junge! Du sollst ihn loslassen habe ich gesagt!«
Morgan lachte laut auf. Er schien das ganze hier richtig zu geniessen. Mit einem zuckersüssen Lächeln fragte er: »Weisst du, wer mir all diese schrecklichen Geschichten über dich erzählt hat, Pirat? Das waren zwei Männer. Sie sagten, sie hätten auf dem Weg einen kleinen, rothaarigen Jungen getroffen. Dieser hätte sie zu mir geschickt, damit ich dir das Handwerk legen könne. Tja und hier bin ich. Wir wissen doch alle, wer dieser Junge war, oder nicht?«
In diesem Moment schien etwas in dem Piraten zu zerbrechen. Mile hatte das schon einmal gesehen. Das war damals gewesen, als er den Piraten aus der Stadt gejagt hatte.
»Ist das wahr? Hasst du mich wirklich so sehr?«, fragte Hook. »Wolltest du wirklich, dass er mich tötet?«
»Ganz genau. Und nun darf er sogar in der ersten Reihe sitzen und zusehen«, lachte Morgan.
»Nein! Du lässt ihn los!«, schrie der Pirat. Seine Stimme brach und wurde zu seinem Schluchzen. Seine Hand, mit der er die Pistole umklammerte, zitterte.
Peters Würgegeräusche wurden leiser, stellte Mile erschrocken fest. Auch seine Tritte wurden schlaffer. Sein Gesicht lief blau an.
»Morgan! Hören Sie sofort damit auf! Sie bringen den Jungen noch um!«, rief Mile und trat auf Peter und den Seemann zu, doch der brüllte: »Einen Schritt weiter und der Kleine hat eine Kugel im Kopf! Hook, lass die Waffe fallen und ich werde deinen Bruder in Frieden lassen!«
Hooks Blick zuckte zwischen Peter und seinem Jäger hin und her.
Die Pistole fiel zu Boden...


---------

Hallo Leute,
Es tut mir echt wahnsinnig leid, dass ihr so lange nichts von mir gehört habt. Momentan ist die Schule nichts als ein riesiger Haufen Stress und darum hatte ich nicht sehr viel Zeit zum Schreiben. Ich werde versuchen, in der nächsten Zeit wieder öfters neue Kapitel hochladen zu können! Bitte verzeiht mir ;)

Vielleicht habt ihr es ein paar wenige von euch schon bemerkt, ich habe etwas an der Prophezeiung rumgebastelt und hier und da eine neue Zeile eingefügt. Auch das Gespräch über Mondkinds Fluch, das Sabrina und Nebelfinger (Kapitel 24 so circa auf Seite 26), miteinander führen, habe ich etwas abgeändert.
Ich war in den letzten Ferien bei meinem Dad in der Firma arbeiten, wegen Money, money, money, must be funny in the rich man's world und so.
*hüstel*
Zeitsprung zurück zur Arbeit bei meinem Dad...
Jedenfalls sitze ich also da und muss Farbfächer sortieren. Und während mein Sitzfleisch langsam aber sicher die Form des brutal unbequemen Stuhls annimmt, habe ich plötzlich DEN GEISTESBLITZ DES JAHRHUNDERTS!
Wer denkt, ich hätte diese Story schon von Anfang an komplett durchdacht und geplant, bekommt jetzt die schreckliche Wahrheit ins Gesicht geklatscht. *bäääm*
Pustekuchen!
Angefangen hat die Idee dieser Story nämlich beim Autofahren. Mein Dad hat mich mal am Abend von irgendwas abgeholt, weiss nicht mehr, von was genau... Ich sitze also in unserer alten Karre und starre schlaftrunken aus dem Fenster. Es ist ziemlich spät und die dunklen Silhouetten des örtlichen Waldes rauschen an uns vorbei, da beginne ich vor mich hin zu träumen. Tja und irgendwie wollte ich das Zeug abtippen, wofür ich schliesslich den alten iPod meines Bruders mobste. Mein eigenes Handy war damals geklaut worden. Ein neues hatte erst in ferner Zukunft auf mich gewartet und ein eigener PC war damals eh noch nicht drin gewesen. Alter Falter, das ist so extrem lange her...
Was ich eigentlich meine ist, dass ich zwar 'nen roten Faden habe, aber ganz genau war nicht viel geplant. Ich hab einige Fixpunkte gehabt, an die ich mich immer wieder geklammert hab. Wie bei so 'nem Super Mario Game, wo man Posten für Posten weiterkommt.
Und nun, meine Damen und (ich vermute mal) die wenigen bis gar keine (wenn aber echt obercoolen) Herren , darf ich stolz verkünden: ICH HAB'S!
Leute, ich hab's so was von! Wie gesagt hab ich mir bei meinem Dad in der Arbeit das Sitzfleisch abgegammelt und währenddessen vor mich hin geträumt, da kam mir DIE Idee... Alles macht Sinn und so. ALLES!
Ich hatte den unglaublichsten Ideensturm des Jahres und habe wundervolle Pläne. Ihr könnt euch also auf einiges freuen. Sogar für Band 2 habe ich schon jetzt richtig viele gute Ideen, die ich umsetzen werde.

Mehr verrate ich nicht, denn wie Dr. River Song sagen würde: SPOLIAAAAAA
Äääähm... River ist aus Doctor Who (wrrrraaaaaaaaa liebe die Neuauflage der Serie)
Pardon... Schleichwerbung Ende :3

Vielen Dank übrigens wegen den vielen Antworten, die ich im letzten Kapitel bekommen habe. Lustig finde ich dabei, dass vor allem Rosanna eine Figur ist, die von einigen von euch geliebt, aber von anderen gehasst wird. xD

Soooo... Zu guter Letzt habe ich hier noch für euch 'nen superheissen Musiktipp. Das Video ist natürlich wie immer an das Kapitel angeheftet. Siehe oben rechts ;)
Photomaton von Jabberwocky.
(Wer findet den Namen der Band noch so cool? Der Jabberwocky stammt übrigens nicht aus dem Film ‚Alice in Wonderland'. Eigentlich ist es der Titel des berühmten Unsinns-Gedichts aus dem Buch ‚Alice hinter den Spiegeln' von Lewis Carroll. Mal wieder was Unnötiges gelernt. Ist ja wie in der Schule hier!)
Das Lied hab ich von Katsagirl, die mir des Öfteren so geniale Musiktipps gibt. Jedenfalls ist der Song echt mein totaler Liebling ;P

Gewidmet ist dieses Kapitel der wundervollen Paolinchen. Sie schreibt gerade das Buch ‚Retariel – Asche zu Asche'. Ich hatte leider bisher nur die Zeit, das 1. Kapitel zu lesen, aber es klingt jetzt schon super. Den Rest hole ich noch nach ;) versprochen!

Södele... Fertig gelabert ;)

Danke fürs Lesen. Ich würde mich wahnsinnig über Kommis und Votes freuen.

Liebe Grüsse,
Eure Dreamy

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