Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 74 - Kriegsherr Regen

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By MaraPaulie



Kapitel 74

Kriegsherr Regen


~Sabrina~

Sie liess sie schlafen, ruhen, heilen und hoffentlich von anderen Orten und besseren Tagen träumen. Ihr Zeitgefühl hatte sie noch nicht gänzlich im Stich gelassen, so schätzte sie, es müsste jetzt Vormittag sein.
Bisher hatte sich kein weiterer Soldat in ihrem Bunker blicken lassen. Was das zu bedeuten hatte, konnte sie jetzt noch nicht sagen.
Gedankenverloren beobachtete sie Cernunnos. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch er war seit ihrem letzten Besuch im Zeitpalast magerer geworden. Seine Rippen waren zu sehen – Knochen unter der Schneedecke seines weissen Fells. Doch seine Flanke hob und senkte sich gleichmässig und ab und zu schnaubte er zufrieden, was Sabrina zum Lächeln brachte. Sie wusste, er hatte schöne Träume, denn die hatte sie ihm geschenkt. Sie beneidete ihn um seinen Schlaf. Nicht wegen ihrer eigenen Müdigkeit oder der Erschöpfung, die ihre Glieder und Lider schwer machte, sondern um der Ruhe willen, der Sorglosigkeit, dem Vergessen, dem Verschwinden... Doch Sabrina konnte nicht schlafen. Ihre Gedanken hielten sie wach. Die Gedanken und ihre Angst. Immer wieder schob sie sie beiseite, wollte sich zwingen, an andere Dinge zu denken, doch sie kehrte zurück. Jedes Mal. Und dann sah sie Mile vor sich, wie er durch das Fenster im Ballsaal schlug. Sie dachte an Katmo, den sie nicht hatten retten können, der keine Chance gehabt hatte, dessen Tod so, so unsinnig gewesen war. Peter, der aufgegeben hatte, der von seiner Verbitterung aufgefressen worden war und der geglaubt hatte, Frieden und Vergebung nur im Tod zu finden.
Tod auf Zeit.
Sie schüttelte den Kopf. Früher, noch zu Beginn ihres Abenteuers, war er ihr gnädig vorgekommen. Was hatte der Tod denn zu bedeuten, wenn man ihn irgendwann überwinden und wieder zu den Lebenden zurückkehren konnte?
Aber was war mit den Zurückgebliebenen? Jene, die verlassen worden waren? Schmerzen tat der Verlust trotzdem und die Sehnsucht, durch das Hoffen auf das Erwachen des geliebten Gefallenen geschürt, wurde unerträglich.
Aber was war mit Mile? Was, wenn er den Sturz nicht überlebt hatte? Oder wenn er dort draussen tot in einer Gasse lag? Er mochte zwar der Lichterlord sein, doch er war noch nicht Herrscher über Twos.
Der Grund, warum sie ihre Eltern in der Starre hatte treffen können, war, dass diese Welt nicht ohne die Herrscher existieren konnte. So lange Mile und sie nicht offiziell zu den Herrschern über Twos gekrönt waren, um so Eira und Ignatzius abzulösen, würde das auch so bleiben.
Was würde also passieren, sollte Mile sterben? Die Herrscher der Gezeiten waren keine gewöhnlichen Märchenfiguren, für sie gab es keinen Tod auf Zeit. Sollte Mile sterben, würde er dann wie ihre Eltern in der Starre bleiben müssen? Oder würde er einfach verschwinden?
Bei diesem Gedanken wurde Sabrina so schlecht, dass sie sich krümmte... und lächelte. Kein freudiges Lächeln, nein, daran war nichts Amüsantes.
Ausgerechnet hier. Hier, in dieser Welt aus Tinte, wo Geschichten wahrhaftig lebten und wo man sterben konnte, ohne endgültig tot zu sein, ausgerechnet an diesem Ort. Ausgerechnet hier. Hier wurde es einem bewusst: Es war schrecklich, etwas zu lieben, das sterben konnte.
Ihre Augen waren wund vom Weinen durch Tränen gleichermassen seelischer und physischer Schmerzen, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, ihr Heulen auf ein Minimum zu beschränken, doch auch dieses Mal verlor sie den Kampf.
Im Nachhinein fragte sie sich, ob er sie gehört und sie aufzumuntern versucht hatte, denn auf einmal begann jemand in der Zelle rechts von ihr zu pfeifen. Eine Melodie, schwermütig, aber flink. Eine Melodie, die sie kannte.
»Hook, bist du das?«, zischte sie leise.
Es raschelte. »Captain Hook, aber für dich Falk.«
Sie lächelte und fühlte sich sofort ein bisschen besser. »Wie lange bist du schon wach?«
»Schon länger...«
Sabrina spürte, dass er noch mehr sagen wollte, also schwieg sie, doch er brauchte lange, bis er die Worte fand, die er für richtig zu halten schien.
»Bist du in Ordnung?«
»Ja... ich denke schon. Und du?«
Er ignorierte ihre Frage. »Er... hat dir... nichts angetan? Hat dich... nicht...« Die letzten Worte schien die Wut in ihm zu erdrücken, denn es kam nicht mehr als ein Schnauben über seine Lippen.
»Er hat mich... geschlagen, sogar getreten, ja. Aber weiter ist er nicht gegangen, wenn du das meinst«, antwortete sie nüchtern. Sie war selbst ein wenig erleichtert, diese Angst hatte sie, als Eril sie holen gekommen war, auch einen Moment beschäftigt. Vor allem, als er ihr ins Ohr gebissen hatte, das war intim genug gewesen, um diesen schlimmen Verdacht in ihr aufkeimen zu lassen. »Was du gesehen hast, hier im Bunker, hat er nur wegen dir gemacht, Falk, da bin ich mir fast sicher. Er benutzt dich, um mir weh zu tun. Mehr nicht. Er will sich nicht so an mir rächen, an so etwas hat er kein Interesse.«
»Dein Wort in Klyuss' Ohr«, murmelte er düster. Nach kurzem Schweigen verlangte er: »Komm näher an das Gitter heran, ich will dich sehen...«
Sie kam seinem Wunsch nach, versuchte aber die rechte Seite ihres Gesichts, wo Eril seien Schnitt an ihre Wange gesetzt hatte, möglichst im Schatten zu verbergen.
»Hey, jetzt musst du dich aber auch zeigen!«
Falk tat keinen Wank. Seine Stimme schnitt durch die Dunkelheit, kalt, böse und seltsam ruhig: »Ich werde ihn töten.«
»Es ist halb so schlimm.«
»Du hast eine Platzwunde an der Stirn und dein Arm ist ganz blau. Krempel den anderen Ärmel auch hoch! Sieht er genauso aus? Bist du überall wund?«
»Nein, Falk, das... spielt keine Rolle!«
»Oh doch!« Auf einmal tauchte sein Gesicht aus dem Schwarz auf. Sie schluckte, als sie ein paar neue Schrammen entdeckte.
»Nebelfinger hat mir erzählt, sie hätten euch mitgenommen. Sie haben euch gefoltert?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war keine Folter, das war nur Prügel. Sie wollen nicht wirklich etwas von uns wissen, das soll nur einschüchtern. Bei dir ist es etwas anderes. Eril will sich rächen!«
Sie seufzte, lehnte den Kopf gegen das Gitter. Zwar spürte sie die dumpfe, betäubende Wirkung des Obsidians, doch die Kälte des Materials machte das wett. »Er ist gebrochen.«
»Versuchst du ihn zu verteidigen?«
»Nein, aber...«
»Aber was? Du nimmst ihn in Schutz. Aber das darfst du nicht, das musst du nicht. Das schuldest du ihm nicht.«
Sie schluckte. Schuld. »Er macht mich für Arillis' Tod verantwortlich.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Aber warum verfolgt es mich dann?«
»Du bist es nicht!«
»Sie war meine Verantwortung.«
»Es herrscht Krieg.«
»Der Krieg entschuldigt das nicht.« Sie rieb sich über die gereizten Augen. »Es geht hier auch nicht um Schuld. Ich weiss, dass Eril kein Recht auf Rache hat. Ich verachte ihn dafür, was er aus sich hat werden lassen. Aber er ist gebrochen und... Ich kann nicht aus meiner Haut; er tut mir leid...«
Falk schüttelte den Kopf. »Du bist zu gut. Zu gut für uns alle.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Du warst auch schon gebrochen, Falk. Und nun sieh dich an, steckst zwar hinter Gittern, aber du bist einer der Guten.«
Er runzelte die Stirn. »Bin ich das?«
»Bist du. Und Eril ist es auch... war es. Ja, er hat mich belogen und benutzt, aber er tat, was ihm aufgetragen worden war. Er war vielleicht schmierig und aufdringlich, aber nicht schlecht, nicht böse. Das hatte ich bei ihm nie das Gefühl. Ich glaube nicht, dass Arillis sonst bei ihm geblieben wäre.«
Falk schnaubte. »Vielleicht wusste sie nicht, wer er wirklich ist.«
»Ich wusste es bei dir.«
Er schüttelte den Kopf. »Hör auf, uns zu vergleichen.«
»Dann hör auf, zu drohen, jemanden umzubringen. Das bist du nicht mehr. Du siehst doch, was die Rache mit einem macht! Wenn ich mich richtig erinnere, steht das sogar in der Prophezeiung. Die Rache brüllt, das wilde Tier, immer weckt sie das Monster in dir.«
»Soll das heissen, du planst ihn zu retten?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich plane nichts. Es tut mir nur leid, was mit ihm passiert ist und... Doch, vielleicht bin ich auch etwas schuldig, nur nicht ihm, sondern Arillis. Ich weiss es nicht, Falk. Ich... will nur nicht, dass wir in dieser Hölle vergessen, wer wir sind. Sonst werden wir wie er. Ich will, dass du es mir versprichst!«
Er schien zu zögern, fuhr mit einem Eckzahn die Narbe an seiner Unterlippe nach. Schliesslich legte auch er erschöpft den Kopf gegen die Gitterstäbe. »Ich verspreche es.« Als er sie schmunzeln sah, fügte er hinzu: »Niemals und immer!«
Nun lächelte sie. »Ich dich auch!«
Mit einem Knall, der nun auch die restlichen Gefangenen aufweckte, sprang die Tür des Bunkers auf, gefolgt vom energischen Klacken von Absätzen. Nevis, in Gefolgschaft dreier Grauer, darunter auch Eril, betrat den Raum.
Cernunnos, der von dem Krach natürlich auch erwacht war, gab ein alarmiertes Röhren von sich und begann nervös zu tänzeln.
Die Reaktion des Tiers befreite Sabrina von dem ersten Schrecken, der sie beim Anblick ihrer Tante hatte erstarren lassen. Sie zog sich an den Gitterstäben auf die Füsse, wobei sie möglichst unauffällig vermied, ihren linken Knöchel zu belasten. Als sie einigermassen die Balance gefunden hatte, löste sie die Hand von dem entmachtenden Stein und legte sie stattdessen an Cernunnos' Flanke, um ihn Kraft ihrer Gedanken zu besänftigen.
Die Fülle des weissen Seidenkleids, in das Nevis gehüllt war, wogte mit ihr und rollte wie eine kleine Lawine über den Granit, als sie in gebührendem Abstand zum Obsidian Halt machte. Mit Augen, kälter als sie ihr eigenes Eis kannte, blinzelte die Schneekönigin in ihre Zelle. Als ihre Blicke sich kreuzten, flackerte der ihre und etwas an ihr bröckelte.
»Was ist das?«, fragte sie und deutete auf Sabrinas Gesicht. »Als ich meine Nichte das letzte Mal sah, war sie noch nicht so zerschlagen.«
Eril, der sich neben den anderen Soldaten vor dem Altar aufgestellt hatte, trat vor und verkündete: »Mir wurde der Auftrag gegeben, die Eisprinzessin über ihre Rechte aufzuklären, Herrscherin.«
Nevis' Kopf zuckte herum, sie wandte sich dem Elf zu.
Eril schien nüchtern zu sein. Er schwankte nicht, stand mit aufrechter Haltung und hatte sichtlich gebadet. An seine Trunkenheit des Vortags erinnerte nur sein leicht blasses Gesicht, das mit einem Schlag aschfahl wurde, als Nevis ihn zurechtwies: »Ihr hattet die Erlaubnis, ihr den Ernst ihrer Lage klar zu machen, sie von ihrem hohen Ross runterzuholen, ihr zu beweisen, dass sie verloren hat.« Die Lawine zog auf Eril zu, packte ihn am Kragen und stiess ihn gegen die Wand. »Ihr hattet kein Recht, Hand an sie zu legen! Ihr hattet explizite Befehle! Man wählte Euch wegen Eurer Vorgeschichte mit der Betroffenen aus, aber ich erkenne, dass wir Euch falsch eingeschätzt hatten...«
Sie sah nicht, woher Nevis den Dolch hatte, er war gut versteckt gewesen zwischen den Seidenfalten. Nun lag er an Erils Kehle, drückte gegen das pulsierende Fleisch. Ein feiner, roter Strich lag bereits auf der Schneide, rann über den kalten Stahl. Der Elf schloss schicksalsergeben die Augen, schien sich bereits von seinem Leben zu verabschieden. Er wirkte erschreckend ruhig...
Es wurde kälter im Bunker und Sabrina war sich nicht sicher, ob das ihr selbst oder Nevis zuzuschreiben war.
»Halt!« Sie erschrak vom Klang ihrer eigenen Stimme.
Der starre Blick der Schneekönigin wanderte von der Klinge auf ihre Nichte. »Halt?«
»Bring ihn nicht um.« Ihre Bitte war müde, dennoch bestimmt.
Nevis legte den Kopf schief. »Du schützt deinen Peiniger? Einen Verräter?«
Sabrina zuckte die Schultern. »Ich bin das Sterben und Töten müde.«
Die kalten Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du bist also gnädig...« Sie schien einen Moment nachzudenken, dann liess sie den Dolch wieder in ihrem Kleid verschwinden und gab Eril frei, der noch immer starr vor Angst, die Wand hinabglitt, eine Hand auf den feinen Schnitt an seinem Hals pressend.
Nevis trat neugierig auf ihre Zelle zu. Ihre Augen sprangen zwischen ihr und dem Hirsch hin und her, bis sie schliesslich an ihr hängen blieben. »Was bist du noch?«
»Nachtragend«, fauchte Sabrina. Der Anblick, der sie so sehr an ihre Mutter erinnerte und gleichzeitig doch so fremd war, machte sie wütend, liess sie ihre Furcht einen Moment vergessen.
»Schlagfertig. Guter Charakterzug.« Wieder legte sie den Kopf schief, dieses Mal auf die andere Seite. »Eigentlich bin ich hier, um dich einzuladen, liebste Nichte. Ich würde mich gerne mit dir unterhalten, natürlich in einem passenderen Ambiente. Würdest du mir diesen Gefallen tun?«
Sabrina lachte auf. »Habe ich eine Wahl?«
Ihre Tante zog gespielt verblüfft die Brauen hoch. »Aber natürlich, Sabrina.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich gehe nirgendwohin, so lange wir hier nicht alle etwas zu Essen und Trinken bekommen. Und die Verletzten müssen versorgt werden.«
Ein schmales Lächeln glitt über die blassen Lippen der Dunklen. »Du hast Forderungen?«
»Provozier sie nicht«, murmelte es belustigt aus der linken Zelle und Sabrina erkannte anhand des taktlosen Tonfalls den Herzkasper.
»Provozieren? Keine Sorge, Herzprinz, gegen meine Nichte hege ich Neugierde, nichts Besorgniserregendes...« Sie schritt vor der Zelle auf und ab, kaute nachdenklich auf ihrer Wange. »Eure tägliche Mahlzeit wäre sowieso jeden Moment ausgegeben worden. Was die Medizinische Unterstützung angeht, würde ich damit wohl gegen die Philosophie meiner Verbündeten verstossen, aber was soll's...« Sie schnipste mit den Fingern ihrer linken Hand und deutete auf einen der Soldaten. »Geh und hol einen Medici.«
Der Graue nickte und eilte los.
Nevis wandte sich wieder ihr zu. »Nun, deine Forderungen werden erfüllt. Bist du nun willig, dich mit mir zu unterhalten?«
»Lass dich nicht darauf ein, das ist es nicht wert«, versuchte Falk, auf sie einzuwirken, doch Sabrina hatte ihre Entscheidung bereits gefällt. So dumm es war, sie erwiderte Nevis Neugier. Sie wollte sie kennenlernen, ihre Tante, die Blutsverräterin.
»Ich bin bereit«, verkündete sie und streckte einen Arm durch die Gitter, um sich die Obsidianschelle anlegen zu lassen.


~Mile~

Der Blitz, mit dem Mile das Gewitter herbeigerufen hatte, würde ihre Feinde herlocken. Die Feinde, die es jetzt noch gab, die übriggeblieben waren. Die Feinde, die auch tatsächlich ihre Feinde waren. Den Dunklen treu ergeben, ihr Handeln und Verbrechen gutheissend.
Sie zu töten, das machte Mile nicht das Geringste aus, das tat ihm nicht leid. Doch mit jedem Regentropfen, der ihm Haut, Haar und Rüstung von Blut und Schmutz abwusch, fühlte er sich mehr von Erinnerungen an Tod und Kampf reingewaschen. Das tat ihm gut, vertrieb die Dunkelheit und gab dem Licht der Flamme in ihm Raum zu atmen.
Darum entschied er, das Inkoleum hinter sich zu lassen, den Toten wieder ihre Ruhe zu lassen, ihnen keine zusätzliche Gesellschaft zu leisten und zu schenken.
Der Regen war ein Kriegsherr. Nichts konnte sich ihm entgegenstellen, seine Soldaten rannen in jeden Spalt, tränkten jedes Staubkorn und ihr leiser Schlachtruf war allgegenwärtig. Alles warf sich dem Himmel zu Füssen, ergab sich den Wolken. Die Stadt spiegelte sich in den Strassen, liess das Gewitter in sich ein. Es überschwemmte die Rinnsteine, färbte die Fassaden, liess Asche und Staub verschlammen, wusch das Blut von den Pflastersteinen.
Auch Oskar, Peter, Faritales, Sero und Mile wurden vom Gewitter eingenommen. Sie versuchten auch nicht, vor ihm zu flüchten. Es befiel sie wie auch die Stadt, drang durch ihre Rüstungen, versickerte in ihrer Kleidung, rann ihnen über die Haut.
Mile liebte Sommergewitter. Er liebte, wie es die drückende Hitze zu bezwingen wusste, liebte, wie der Regen einen mit Wärme empfing, liebte, wie die Tropfen trommelnd den Tenor des Donners begleiteten, der durch die eben noch flimmernde Luft Blitze jagte, liebte, wie trockener, rissiger, toter Boden zu fruchtbarer Erde wurde, liebte den Duft von Regen auf trockener Erde. Und immer, wenn er ihm in die Nase stieg, dieser wundervolle Geruch, musste er nur die Augen schliessen und sah sein zu Hause vor sich. Nicht das Waisenhaus, nicht das Anwesen der Tallos, nicht sein Zimmer im Rathaus Aramesias, nicht sein Zelt. Zu Hause von vor acht Jahren. Das abseitsgelegene Fachwerkhaus.
Er erinnerte sich, wie er zusammen mit seinem Vater und Sabrina, bewaffnet mit Regenjacke und seinen geliebten quietschroten Gummistiefeln, den Garten eingenommen hatte. Wie er die Finger in den aufgeweichten Boden gegraben und Ignatz mit einem dicken Matschball beworfen hatte, nur um es gleich darauf mit gleicher Münze heimgezahlt zu bekommen. Im Geiste spielte das Lied – irgendein Hit von 2006 -, das durch das Regenrauschen geschallt war, als seine Mutter das Fenster des Arbeitszimmers geöffnet, das Radio aufs Fensterbrett gestellt und voll aufgedreht hatte. Sie hatten getanzt wie der Teufel, waren in Pfützen gesprungen, sodass es nach allen Seiten spritzte, hatten sich gedreht, bis sich der Garten drehte, waren ausgerutscht, in den Schlamm geklatscht, wieder aufgesprungen, und hatten johlend weitergetanzt.
Dieser Duft hatte einen Namen. Das hatte ihm sein Vater vor dem Zubettgehen erzählt. Das hatte er immer getan, wenn er zu faul zum Vorlesen gewesen war, ihn sein Sohn aber nicht ohne Gutenachtgeschichte hatte gehen lassen wollen. Dann hatte er immer mit irgendwelchen Fakten unnützen Wissens um sich geworfen, was seine Ehefrau immer mit einem Lächeln und leisem Tadel kommentiert hatte. Petrichor war eine Komposition aus den altgriechischen Wörtern Petros und Ichor. Ersteres bedeutete Stein, letzteres war das Blut der Götter.
Petrichor, der Duft von Regen auf trockener Erde. Petrichor, der Duft von zu Hause. Petrichor, der Duft einer schönen Lüge.
»Wohin willst du eigentlich?«
Das Bild seines Vaters, der an seiner Bettkante sitzend, mit flatternden Fingern Regen mimend, von Duft von Sommergewittern schwärmte, verschwand. Mile blinzelte betrübt und senkte den Blick auf den Fragesteller.
Oskar, der sich vom Regen scheinbar nicht zur Melancholie verführen lassen hatte, wich sichtbar missgelaunt einer grossen Pfütze aus. Seine Laune war ihm kaum vorzuwerfen, denn sein dunkles Fell war nass und schwer.
»Nimmertiger muss sich irgendwo hier aufhalten. Sie wollten jedenfalls zum Zeughaus, so stand es jedenfalls auf der Karte, die mir Nimmertiger gegeben hat.«
»Schlau«, kommentierte der Wolf. »Somit hätten wir die Waffenreserven der Dunklen unter Kontrolle... Und was tun wir dann?«
Mile zuckte die Schultern. »Da Tempus nun vom Fluch befreit ist, sind die Dunklen uns nicht mehr überlegen. Wenn wir davon ausgehen, dass beide Seiten in etwa gleichhohe Verluste gemacht haben, sind die Rebellen nun vielleicht sogar in der Überzahl, vorausgesetzt, die erlösten Zivilisten schliessen sich uns an. Wie auch immer, durch das Brechen des Fluchs sind die Truppen der Dunklen auf jeden Fall geschwächt. Wir sollten Tempus also halten, in ein paar Tag vielleicht sogar ganz einnehmen können.«
Der Wolf schnaubte und schüttelte sich, was ihn jedoch nicht wirklich trockener machte. »Du weisst, was ich meine. Was tun wir, um Schwestern und Freunde da rauszuholen? Wie besiegen wir die Dunklen? Wie gewinnen wir? Tempus steht und fällt mit dem Zeitpalast. So lange wir den nicht eingenommen haben, haben wir gar nichts.«
Mile wischte sich das durchtränkte Haar von der Stirn. Sofort fielen ihm einige Strähnen vor die Augen und tropften ihm auf die Wangen. »Dass Damaris' Fluch gebrochen ist, werden sie schnell herausfinden, vielleicht wissen sie es sogar schon. Wie sie als nächstes reagieren, kann ich nicht sagen. Vielleicht werden sie unsere Leute als Geisseln benutzen. Vor allem Sabrina - die Rebellen würden es nicht riskieren, sie zu verlieren. Vielleicht werden die Dunklen fliehen wollen, wobei ich das für unwahrscheinlich halte. Vermutlich werden sie alles daran setzen, die Oberhand zurück zu gewinnen. Was auch kommen mag, es wird hart.«
»Ich bin ein Wolf, kein Hund, Mile. Ich kann selbstständig denken. Ich will wissen, was du als nächstes vorhast. Wie ich dich kenne, wirst du wohl kaum auf den nächsten Schritt unserer Feinde warten oder Jagt auf deren Fusssoldaten machen, solange Sabrina, Red und die anderen da drin sind.« Mit einem Schnipsen seines rechten Ohrs deutete der Hybrid in Richtung Palast. »Weih mich ein, ich will dir helfen!«
Erneut war Mile dem Regen unglaublich dankbar. Dank ihm sah der Wolf seine Tränen nicht, die durch die stets kühlenden Tropfen verhinderten, dass sie dampfend zum Himmel aufstiegen und ihn verrieten. Er schämte sich nicht zu weinen, das war etwas, das er von seiner Mutter beigebracht bekommen hatte. Es war nicht die Scham, vor dem das Gewitter ihn bewahrte, sondern die schreckliche Enthüllung dessen, was ihm solche Sorge bereitete: Die Wahrheit, die da war, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, was er tun sollte. Wie zynisch das Schicksal doch war, ihm die Freiheit zu schenken und gleichzeitig so wenig Hoffnung zu lassen.
»Ich werde Peter bei Nimmertiger absetzen. Er ist bei der Truppe besser aufgehoben. Er ist nun zwar erwachsen, doch er kommt mir noch immer vor wie ein Kind. Nein, er kommt mir sogar mehr wie eines vor. Der alte Peter hatte schon zu viel gesehen, hatte längst aufgehört, ein Kind zu sein. Diesen hier«, er blickte sich über die Schulter und beobachtete, wie Peter mit Anlauf in eine grosse Pfütze sprang, sodass Faritales jubelte und Sero sich pikiert ein Schlappohr auswrang, »ihn müssen wir beschützen, er darf nicht verwelken wie der erste. Das sind wir ihm schuldig.«
»Will er das denn?«
»Ich weiss es nicht, aber fragen können wir ihn nicht mehr. Er entschied sich für den Tod, doch das Universum hat ihm eine zweite Chance geschenkt.«
Oskar wog den Kopf hin und her. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht sollten wir das Schicksal nicht in Frage stellen.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, lauschten dem Gewitter und dem Jubel Peters.
»Sie nennen dich Löwe, aber du bist ein Fuchs, Mile.«
Genannter Fuchs runzelte die Stirn. »Wie meinst du das denn jetzt?«
Der Wolf grummelte: »Du hast mir meine Frage noch immer nicht zu genüge beantwortet. Du lieferst Peter ab, ja, aber was tust du dann? Was hast du für Pläne?«
Mile schüttelte ergeben den Kopf. »Irgendwie in den Zeitpalast reinkommen, denke ich. Ich weiss noch nicht wie, aber ich muss. Ich kann nicht warten, bis wir genug nichtmagische Wesen zusammengetrommelt haben, um den Palast zu stürmen. Ich muss da rein, bevor die Dunklen irgendwas aushecken!«
»Da stimme ich dir zu. Aber du weisst nicht wie und... wie du sie da rausholen willst? Und die Dunklen und...«
Natürlich hatte Oskar die Unsicherheit in seiner Stimme nicht überhört. Natürlich hatte er den Schwachpunkt in diesem sogenannten Plan sofort erkannt. Natürlich, denn wie hätte man das auch übersehen können? Ein schwarzes Loch in dieser Wolke heisser Luft. Und wieder rannen Tränen über seine vom Regen abgekühlte Haut, mischten sich mit denen des Himmels.
Dieses Mal konnte das Gewitter seine Verzweiflung nicht versteckten, Oskar sah es und der grosse, schwarze Wolf entschied, ihm Trost zu spenden, drückte seinen Kopf gegen Miles Seite und brummte: »Das wird, mein Freund. Wenn sie einer retten kann, dann du. Du rettest sie alle. Du musst keine Angst haben, das Schicksal wird auf deiner Seite sein.«


~Sabrina~

Eril musste sie tragen. Durch den Kerker, weit, die Treppe hoch, durch versilberte Flure.
Sie hatte sich eingestehen müssen, dass sie mit ihrem verletzten Knöchel nicht so weit gehen konnte, hatte vorgeschlagen, mit Nevis im nächstgelegenen Wachhäuschen zu plaudern, doch die Schneekönigin bestand darauf, sie in ihre persönlichen Gemächer zu bringen. So kam es, dass der Elf sie zu schleppen hatte. Ein Vergnügen war das natürlich keinem von ihnen, doch sie mussten sich fügen, denn die einzig alternative Option wäre der dritte der Soldaten, nur handelte es sich bei dem um einen Zwerg.
Huckepack lag sie auf Erils Rücken. Die Schnapsfahne, die ihn am Vortag umgeben hatte, war dem Duft von Seife gewichen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er auch nur ein Wort mit ihr wechseln wollen würde, doch tatsächlich stellte er ihr, als sie durch ein paar silberne Flure gezogen waren, eine Frage: »Warum hast du sie davon abgehalten, mich umzubringen?«
Sabrinas Blick sprang zwischen seinem Hinterkopf und Nevis, die nur wenige Meter vor ihnen voranschritt, hin und her. »Ich weiss es nicht.«
Seine Stimme blieb seltsam ausdruckslos. »Hast du Schuldgefühle?«
»Wegen dir? Da habe ich keine Schuld«, wies sie seinen Verdacht augenblicklich zurück. »Wenn, dann bei Arillis und sie würde sich im Grab umdrehen, sähe sie dich so.«
Eril sagte nichts, vielleicht wusste er, dass sie recht hatte und darauf bildete sie sich einen kleinen Sieg ein. Sie beugte sich zu seinem Kopf vor und flüsterte: »Trotzdem half ich dir und vielleicht denkst du da das nächste Mal dran, bevor du mich beinahe zu Klump schlägst.« Sie dachte, damit wäre ihr Gespräch beendet, doch da murmelte er etwas, was sie inne halten liess. »Was hast du gesagt?«
Erils Schultern spannten sich an. Er schien sich zwingen zu müssen, die Worte noch einmal zu wiederholen. »Sie war schwanger.«
Der Herzschlag, der mit dem Augenblick einherging, als seine Worte sie erreichten, diese ihren Sinn entfalteten und für eine Sekunde die Welt zu drehen aufhörte, hallte wie Donner in der Stille. Und Sabrina liess sie bestehen, schwieg, sagte nichts, denn für einen Moment gab es keine Worte mehr.
»Sie hat es mir erzählt, als wir gemeinsam in diesen Baum der Verstossenen eingesperrt waren. Das war der wahre Grund, wieso wir uns gestritten haben. Sie wollte, dass ich meine Mission abbreche.«
»Ich erinnere mich«, flüsterte Sabrina schwach.
Eril nickte. »Eigentlich hätten wir nie zusammen sein dürfen. Ein Einsamer Reiter ist kein Teil der Gesellschaft mehr, jedenfalls nicht für einen Reiter, der dem Grafen noch treu ist. Aber sie hatte etwas an sich...« Seine Stimme wurde brüchig. »Und dann hiess es, die Herrscher seien zurück und der Graf wollte, dass ich Informationen sammle. Erst gingen Gerüchte um, es wären nicht mehr Ignatzius und Eira sondern eine neue Generation. Später bewahrheitete sich das und als der Graf erfuhr, wie jung du und Mile wart, da setzte er mich auf dich an.
Ich hatte dem Grafen meine Treue geschworen und das war ein sehr wichtiger Auftrag, den ich unbedingt erfüllen wollte. Es ging nicht um dich oder um Arillis, ich wollte nur meinen Herrn beeindrucken. Das Problem war nur, dass der Graf nichts von Arillis wusste, niemand wusste von ihr, sonst hätte ich diesen Auftrag nie bekommen.
Ich musste mit ihr reden, ihr alles erklären, sie einweihen. Anfangs war auch noch alles in Ordnung. Klar, Arillis war alles andere als begeistert von der Idee, dass ich fortan... mit dir...«
»Ich... weiss was du meinst«, half sie ihm.
»Ja... Und das mit dir hat gut funktioniert. Nichts für ungut, aber du warst ziemlich naiv und leicht um den Finger zu wickeln, was ich gut ausnutzen konnte. Arillis war gelb vor Neid, aber sie spielte mit.«
»Einmal warnte sie mich vor dir, weisst du?«
Eril schnaubte belustigt. »Das passt zu ihr.« Kurz schwieg er, dann gab er zu: »Es hat sie schlimm verletzt. Als wir stritten, gestand sie mir, dass sie der Sache nur zugestimmt hatte, weil sie sicher gewesen war, dass ich sie ansonsten verlassen hätte.«
»Und, hättest du?«
»Ja, das hätte ich. Ich hätte den Grafen gewählt, nicht sie.« Sie hörte ihn mit den Zähnen knirschen. »Im Baum der Verstossenen stellte sie mir ein Ultimatum. Sie und das Baby... oder der Graf. Und ich wählte... nichts. Ich habe damals nicht verstanden, wieso ich überhaupt hatte wählen müssen. Ich hatte geglaubt, beides haben zu können. Oh Arillis, sie hatte die ganze Zeit recht gehabt...«
»Wie meinst du das?«
»Sieh mich an. Heute stecke ich in einer grauen Rüstung. Ich bin hier auf Geheiss des Geschuppten Grafs. Würde Arillis noch leben, würde sie auf der anderen Seite der Front stehen.«
Sabrina runzelte die Stirn. »Deshalb hat sie mir nichts von dem Baby erzählt. Sie wollte kämpfen...«
Eril nickte. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem sie starb? Du wolltest mit deinen Cousins auf die Jagd gehen, etwas erlegen, was wir auf dem Feuer braten würden. Arillis hast du beauftragt, Wache zu halten, da im Wald einige Schwergen der Dunklen lauern könnten. Du hast ihr den Befehl gegeben, als sie gerade damit beschäftigt war, mich an einen Baum zu fesseln. Weisst du noch, was ich tat, als ich von diesen Plänen hörte?«
Sabrina räusperte sich. Ihr Hals war plötzlich schrecklich trocken. Eril war so eigenartig ruhig... »Du hast dich gewehrt, wolltest etwas sagen, aber...«
»Aber ich hatte diesen Lumpen im Mund«, beendete er ihren Satz. »Hätte sie mich nicht geknebelt, weil du ihr befohlen hattest, nicht mit mir zu reden, wäre sie vielleicht noch am Leben.«
Sie spürte, wie er tonlos schluchzte, seine Rücken bebte. »Sie war schwanger mit... meinem Kind. Ein Kind, das starb, bevor es überhaupt geboren worden ist. Arillis hatte sich so gefreut, trotz der Probleme mit mir. Ich... habe bei ihr...nachdem sie... Ich habe sogar einen kleinen Zettel mit Namen drauf gefunden...«
Wieder herrschte Schweigen. Wer hatte schon das Recht, in einem solchen Moment die Stille zu brechen? Einzig Eril und als er von diesem Privileg Gebrauch machte, überraschte er sie: »Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, Sabrina. Genutzt habe ich sie zu selten, habe mir den Verstand lieber mit Feuerwasser vernebelt. Das macht einen wundervoll dumm und lässt einen den Schmerz vergessen. Was gestern geschehen ist, hätte ich nicht tun dürfen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich auch nur noch an die Hälfte davon erinnern.« Er zögerte, dann gestand er: »Ich gebe dir nicht mehr die Schuld Sabrina. Und auch mir gebe ich keine Schuld mehr. Ich weiss es nun besser. Es war das Schicksal! Das Schicksal nimmt uns die Freiheit!«
Sabrina runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Eril schüttelte nur sanft den Kopf. »Das wirst du bald verstehen...«
Ein kalter Schauer rann ihren Rücken hinab. Die Art, wie er sprach, wirkte so... fremdartig. »Hast du nicht einmal gesagt, du würdest nicht an das Schicksal glauben?«
Der Elf nickte. »Gestern wurde ich eines Besseren belehrt.«
»Wie das?«
Doch Eril schwieg und diese Stille wog schwerer als der Obsidian um Sabrinas Handgelenk...


~Mile~

Der Bergfried späte, wuchtig, grau und eckig wie er war, aus vergitterten Fenstern über die demolierte Schutzmauer, die ihn in einigen Metern Entfernung umgab. Unter den Wehrtürmen, die die Mauer in regelmässigen Abständen spickten, dampfte das erstarrende Pech im Regen. Der Kriegsherr des Himmels schien sich alle Mühe zu geben, die Indizien des wohl vor nicht allzu langer Zeit stattgefundenen Kampfes zu beseitigen, wovon er bisher noch weit entfernt war. Das Blut im Rinnstein, die im Boden steckenden Pfeile, die Löcher in der Mauer, das niedergerissene Tor und die notdürftig an die Zinnen angebrachten Standarten mit dem Wappen der Herrscher verkündeten die Wahrheit und waren selbst vom Donner nicht zu übertönen – Nimmertiger hatte das Zeughaus erobert!
»Der Lichterlord! Nicht schiessen!«, rief jemand auf einem der Wehrtürmen, worauf von überall auf der Mauer Willkommensrufe schallten und die Krieger, die eben noch hinter den Zinnen gekauert hatten, aufstanden und ihnen zuwinkten.
Mile und seine vier Begleiter schritten durch das Tor, von dem nicht mehr als ein paar Balken in losen Angeln übrig war und fanden sich in einem weiten Hof wieder. Trümmer und Leichen bedeckten den Boden, letztere wurde gerade in der Mitte des Platzes auf einem Scheiterhaufen gesammelt.
Schwalbentänzer, der gerade noch damit beschäftigt gewesen war, den leblosen, halb verwandelten Körper eines Werwolfs über den Hof zu schleifen, entdeckte die Neuankömmlinge, liess die Leiche liegen und kam eilig auf sie zu. »Ihr seid zu spät, die Schlacht wurde bereits geschlagen!«
Mile nickte langsam und liess den Blick über die Zinnen schweifen. Die Rüstungen der Rebellen waren ein bunter Mix, teils notdürftig aus verschiedenen Rüstungen zusammengebastelt, doch einige der Krieger auf der Mauer trugen grau...
»Es hat funktioniert, nicht wahr? Diese Leute in den grauen Rüstungen...«
»Ja«, antwortete Schwalbentänzer bevor Mile seine Frage beendet hatte. »Das waren mal Kämpfer der Dunklen. Grösstenteils einfache Soldaten, sie wurden jedenfalls als solche eingesetzt. Die halten ein Schwert wie eine Axt, haben keine Ahnung vom Kämpfen. Die meisten von ihnen waren hier stationiert, um das Waffenarsenal zu bewachen, aber als der Sturm anbrach und es auf einmal wie aus Eimern zu schütten begann, wandten sie sich auf einmal gegen ihre eigenen Leute... oder gegen die, die den Dunklen tatsächlich treu waren. Es sind auch schon ein paar von draussen hinzugekommen und es werden bestimmt noch mehr.«
Mittlerweile hatte sich um sie ein Ring aus Leuten gesammelt. Beinahe ausschliesslich von Damaris' Fluch erlöste. Ehrfürchtig senkten sie ihre Blicke, als sie Miles kreuzten, einige von ihnen fielen sogar auf die Knie oder verbeugten sich tief.
»Für diese Wesen bist du immer nur ein Märchen gewesen, Mile. Ein Held, der sie in schönen Träumen von der Knechtschaft der Dunklen erlöste. Die Dunklen hatten den Temperieren zwar verboten, „Rebellenpropaganda" zu verbreiten, indem sie über euch sprachen. Der Widerstand hat jedoch dafür gersorgt, dass die Herrscher nicht in vergessenheit geraten. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass man sich weiter an den Lichterlord und die Eisprinzessin erinnert und das kommende Generationen wissen, wer die Dunklen wirklich sind«, erklärte Sero gerade laut genug, das er es hören konnte.
Mile fuhr an seinen Oberschenkeln entlang, stiess anstelle auf Hosentaschen jedoch nur auf Metallplättchen. Er fühlte sich unwohl. »Wo ist Nimmertiger?«

»War schlau von dir, das Zeughaus anzugreifen«, meinte Mile, ohne sich von dem verdreckten Fenster, von dem man aus der der Galerie, die durch Fenster isoliert wurde, in die Schwerthalle hinabblicken konnte, abzuwenden. Dort unten hatten sich unzählige Erlöste versammelt, die von den Rebellen, ausgerüstet mit gelber und blauer Farbe, Sonne und Mond auf die ansonsten graue Rüstung malen liessen. Mit einer Hand zur Faust geballt auf dem Herzen liegend und die andere zum Schwur erhoben, gaben die neuen Rebellen ihren Treueeid ab.
»Das Zeughaus ist riesig und wir haben genug Waffenreserven um diese ganze Schlacht noch einmal zu schlagen, obwohl die Dunklen das meiste in den Palast gebracht haben müssen. Ausserdem ist es ein strategisch perfekter Ort. Wir sind näher am Palast und sind gleichzeitig vor Gegenangriffen geschützt, jedenfalls sobald wir die Mauer und das Tor repariert haben«, antwortete Nimmertiger in seinem Rücken.
»Gut«, murmelte Mile und wandte sich nun doch seinem Gesprächspartner zu. »Aber beantworte mir rasch eine Frage: Wie gehst du sicher, dass keiner dieser Erlösten uns bei nächster Gelegenheit einen Dolch in den Rücken jagt?«
Sein Cousin löste sich von dem staubigen Schreibtisch, an dem er eben noch gelehnt hatte, kam zu ihm herüber und blickte auf die graue Menge hinab. »Das kann ich nicht. Sie alle könnten uns im nächsten Moment hintergehen und töten.«
»Ist es dann schlau, sie überhaupt kämpfen zu lassen?«
»Versuch doch, sie davon abzuhalten«, meinte der Rabenmann mit einem grimmigen Lächeln. »Sie hassen die Dunklen, das schwört dir jeder von ihnen.«
»Und was tun wir jetzt mit ihnen?«
Er zuckte die Schultern. »Nichts.«
»Aber...«
»Mile, erinnere dich. Als wir Aramesia eingenommen haben, warst du dir da bei jedem von ihnen sicher, sie wären den Rebellen treu? Und später, auf unserer Reise zu und durch die Waldgärten von Wyr? In Zeiten wie diesen kann man sich nie sicher sein!«
»Was vielleicht auch gar nicht so schlecht ist. Frederick de Monto war schliesslich ein Verräter und hast du gehört, dass der wahre Gewissenlose Pinocchio war?«
Nimmertiger seufzte. »Ich weiss, was du meinst, Mile. Und doch muss ich diesen Wesen da unten vertrauen. Wenn ich jedem, dem ich das erste Mal begegnete, immer nur das schlimmste zutraute, was wäre das für ein Leben?«
Mile nickte. »Du hast recht. Gefährlich ist es trotzdem.«
»Man sagt unserem Blut Leichtsinn nach«, antwortete der Rabenkönig mit einem Schmunzeln.
»Und was hast du als nächstes vor?«
»Fürs erste bleiben wir hier. Im Burgfried ist genug Platz für alle und im Keller wurden Pökelfleisch-und Zwiebackvorräte für mindestens zwei Tage entdeckt. Solange die Barriere um den Zeitpalast noch aufrecht steht, können wir ohnehin nicht hinein. Ich werde Schwalbentänzer beten, sich diese Nacht zu verwandeln. Er soll die Stadt abfliegen und sehen, wie die anderen Truppen sich schlagen, ob jemand Hilfe braucht. Ich muss einfach auf das Glück zählen, dass er sich am nächsten Tag noch an etwas erinnert. Schade, dass Regenjäger nicht hier ist, der kann sich immer erinnern...«
Sofort erschien das Bild von Regenjäger in seinem Kopf, wie Blutkralle ihm das Bein abbiss und... Hastig schob er die Erinnerung von sich.
»Was hast du vor?«
»Ähm...« Schnell wandte Mile sich wieder zum Fenster. »Das... versuche ich noch herauszufinden...«


~Sabrina~

Der Begriff persönliche Gemächer bezog sich in Nevis' Fall auf eine ganze Etage. Während viele der Stockwerke, die Sabrina bisher zu Gesicht bekommen hatte, regelrecht zerfallen waren, schien in diesem der Staub ausgerottet worden zu sein. Nirgends fand sich auch nur ein Fussel auf dem Mobiliar, keine Fingerabdrücke verschmierten die Spiegel, nicht ein eingetrockneter Tropfen Wein klebte auf dem Parkett. Alles war steril und wirkte, als hätte noch keine Menschenseele je einen Fuss in diese Räumlichkeiten gesetzt. Ausser vielleicht um zu putzen...
Nevis lotste sie in vorbei an Regalen voll Folianten, Kommoden, aus deren Schubladen glitzernder Schmuck quoll, Architektur-und Landschaftsgemälden, deckenhohen Spiegeln und liess sie schliesslich durch eine weisse Flügeltür treten. Dahinter befand sich ein Raum, der in einem kitschigen, kühlen, hellblauen Boudoirstil eingerichtet war.
»Setz dich, meine Liebe«, säuselte Nevis und deutete auf ein Kanapee, dessen zartrosa Polster mit Schneeflocken bestickt war.
Eril stellte sie vorsichtig ab und Sabrina humpelte zu ihrem offerierten Sitzplatz.
Nevis scheuchte Elf und den Zwerg aus dem Raum, wobei Sabrina hastig die Chance ergriff und Eril noch einmal kurz musterte. Tatsächlich glaubte sie, ein seliges Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, war sich aber nicht sicher, ob sie es sich doch nicht nur eingebildet hatte.
»Tee und Gebäck. Kalt!«, befahl Nevis barsch und riss Sabrina aus ihren Gedanken. Ein Diener, den sie erst gar nicht wahrgenommen hatte, da er, als wäre er mit dem Mobiliar verschmolzen, völlig starr neben der Tür gestanden hatte, setzte sich in Bewegung. Es dauerte keine zwei Minuten, da stand ihre Bestellung auch schon auf dem elfenbeinernen Couchtisch vor ihnen.
Nevis, die sich als geübte Smalltalkerin entpuppte, zerhackte mit abgespreiztem Finger energisch ihren Zuckerwürfel in der Tasse und schnurrte: »Du wirst mir die Obsidianschelle sicher verzeihen. Sie dient nur zu unser beider Sicherheit.«
Sabrina mühte sich ein schlecht gespieltes Lächeln ab und antwortete, ohne den Sarkasmus in ihrer Stimme zu verstecken: »Aber sicher!«
»Nicht doch, nicht so schnippisch. Ich versuche, Freundschaft mit dir zuschliessen, merkst du das denn nicht?«
»Ich wette, du hast nicht viele Freunde?«
Nevis Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Du beleidigst mich.«
Sabrina lachte freudlos. »Nevis«, der Name fühlte sich komisch auf ihrer Zunge an, doch sie liess sich nicht beirren, »ich bin nicht dein Gast. Ich bin eine Gefangene.«
Die Finger der Schneekönigin verkrampften sich um den Löffel. Erst jetzt fiel Sabrina auf, dass sie einen Handschuh trug, aus Seide wie ihr Kleid, jedoch nur am rechten Arm. »Ich hatte gehofft, du würdest diese Situation besser meistern. Aber nun muss ich feststellen, wie voreingenommen du bist...«
»Voreingenommen?! Ihr habt meine Freunde getötet und uns eingesperrt! Und du, Tante, hast meine Eltern verraten, deine Schwester!«
»Die Sache ist etwas komplizierter...«
»Habe ich gehört. Du warst eifersüchtig, konntest es nicht ertragen im Schatten meiner Mutter zu stehen. Ich war hier, als du es deinen Verbündeten erklärt hattest.«
Die kalten Augen der Usurpatorin weiteten sich. »Ja, du warst an jenem Tag im Palast. Wir hörten davon, haben den Herzprinzen zur Verantwortung gezogen, dass er dir Cernunnos zeigte und dich entkommen liess. Aber ich wusste nicht, dass du auch während der Sitzung dabei warst.«
»War ich«, schnaubte Sabrina und die Teetasse auf dem Tellerchen klapperte, als sie vor Rage zu zittern begann. »Wie konntest du sie verraten? Sie war deine Schwester. Eifersucht hin oder her, so etwas muss doch wichtiger sein. Du hast sie doch geliebt!«
Nevis trank ihren Tee, stellte die Tasse ab, griff zu einem vor Zucker klebrigen Gebäck. »Liebe hatte nichts damit zu tun. Du kannst einen Menschen gleichzeitig lieben und hassen, kleine Eisprinzessin. Du bist noch zu jung, um das zu verstehen, aber nachdem du so lange gelebt hast wie ich, wie viele der Tintenwesen da draussen, dann wirst du es eines Tages wissen. Vor allem du. Kind des Winters, der Kälte, des Frosts. Du bist genau wie ich.«
Sabrina glaubte nicht recht zu hören. »Ich bin nicht wie du!«
»Wir haben viel gemeinsam, du und ich. Und ich spreche nicht von Oberflächlichkeiten.«
»Pha! Nenn mir eine Sache!«, schnaubte sie und nippte an ihrem Tee. Süss, stark, kalt und mit leichtem Zimtgeschmack.
Nevis hob das Kinn. »Wir stehen immer im Schatten unseres Geschwisters.«
Sabrina nahm einen weiteren Schluck, um mehr Zeit zu gewinnen. »Nicht ganz...«
»Ach nein? Warum sprang dann einer deiner sogenannten Freunde für deinen Bruder in den Tod und nicht für dich? Warum opferte er sich für ihn und liess dich hier zurück?«
Sabrina blinzelte. »H-Hänsel ist... Und Mile?«
»Tot! Der Dämonenschlächter ist tot. Dein Bruder ist jedoch am Leben. Aber darum geht es nicht. Siehst du es nicht? Du stehst in seinem Schatten, Sabrina. Wirst du immer. Dieser Hänsel wählte ihn, rettete ihn. Nicht dich.«
Nevis Worte waren Sabrina ganz egal. Das einzige, was zählte, war, dass Mile lebte. Die berauschende Erleichterung, die sie durchströmte, war überwältigend und nur von der Trauer durchbrochen, auch Hänsel verloren zu haben, einen Freund, dem sie so viel zu verdanken hatte...
»Hörst du mir zu?« Nevis war von ihrem Sessel aufgestanden, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Du sagtest, ich würde in Miles Schatten stehen.«
»Ganz genau.«
Sabrina schüttelte lächelnd den Kopf. »Das kann schon sein, Nevis, aber ehrlichgesagt habe ich darüber nie allzu viele Gedanken verschwendet, denn es spielt keine Rolle. Es ist egal! Keinem von uns geht es darum, den anderen zu übertrumpfen, wir hatten doch immer nur einander, waren uns gegenseitig das Wertvollste im Leben. Es gibt nichts, was ich meinem Bruder nicht gönnen würde.«
Auch Nevis schüttelte den Kopf, ohne Lächeln, nur mit verwirrtem Blick. Sie verstand nicht. »Macht dich das etwa nicht... wütend? Das ist doch nicht gerecht, verspürst du keine... keine...«
»Eifersucht?« Sie nahm den letzten Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie auf den Elfenbeintisch. »Nein. Warum auch? Ich bin nicht als Eisprinzessin geboren worden, dieses ganze Spektakel, das um mich gemacht wird, ist mir jetzt schon zu viel. Ich bin ehrlichgesagt recht froh darum, dass Mile das meiste davon abbekommt.«
Nevis Blick wurde noch ungläubiger. Und auf einmal entdeckte Sabrina etwas sehr bekanntes im Gesicht der Schneekönigin. Nicht etwa ihre Züge, die so viel Ähnlichkeit zu denen ihrer Mutter aufwiesen oder die kalte Ausstrahlung, die sie besass. Es war der Ausdruck in ihrem Gesicht, kurz wie ein Wimpernschlag, als ihr ihre Maske entglitt, die Wahrheit offenbarte und die unerschütterliche Schneekönigin klein und sehr einsam werden liess.
»Du bereust es insgeheim.« Sabrina sprach sanft, liess aber keinen Zweifel zu. »Jetzt bist du ganz alleine. Suchst du bei mir Vergebung?«
Wie ein Kartenhaus fiel Nevis Maskerade nun gänzlich in sich zusammen. Als hätte man ihr die Kraft aus den Beinen genommen, knickte sie ein und landete federnd auf ihrem Sessel und wurde so bleich, dass sie Nebelfinger Konkurrenz machte. Wie Eiszapfen bohrten sich ihre Augen in Sabrinas, doch diese hielt ihrem Blick stand, bleib ruhig. Nevis verlor das Blickduell, schlug die Lider nieder, dann drehte sie wie ferngesteuert den Kopf und befahl dem Diener, er solle den Raum verlassen.
Und somit waren da nur noch sie beide im Raum. Die Schneekönigin und die Eisprinzessin. Die Temperatur sank, bis der Tee gefror und seine Kanne sprengte. Als wäre das der Startschuss, auf den Nevis gewartet hatte, begann sie zu erzählen: »Als Kinder waren Eira und ich unzertrennlich. Wir teilten alles, verbrachten jede freie Minute miteinander. Vater hatte selten Zeit und Mutter schon gar nicht. So waren wir meist auf uns allein gestellt, jedenfalls solange es uns gelang, den Kindermädchen zu entwischen.
Eira war nur ein Jahr älter als ich, doch ich himmelte sie an, als wären es zehn. Sie konnte immer alles besser und ich kam mit dem Nacheifern gar nie hinterher. Und wenn uns die Kinder auf den Strassen, hatten wir uns einmal mehr aus dem Palast in die Stadt geschlichen, zu ärgern versuchten, stellte sie sich hin und vertrieb sie. Immer hatte sie mich beschützt, all meine Geheimnisse behütet, sie war mein Fels in der Brandung gewesen. Bis zu dem Tag, an dem sie zwölf wurde, denn dann begann ihre Ausbildung zur Eisprinzessin.« Nevis Blick war in der Ferne versunken. Ihre Hände waren in ihren Schoss gesunken, wo sie ihr Gebäckstück so umklammerten, dass die zuckrig dicke Füllung herausquoll. »Plötzlich war alles anders«, setzte sie mit leiser, belegter Stimme ihre Erzählung fort. »Eira war... einfach weg. Sie hatte keine Zeit mehr für mich, hatte ständig Unterricht. Sie wurde früh am Morgen, weit vor mir geweckt und so spät in der Nacht ins Bett gelegt, da war sie so erschöpft, dass sie bereits schlief. Damals hatten wir uns noch ein Zimmer geteilt, doch nach einigen Monaten, riss man uns auch damit auseinander. Eira bekam ihr eigenes Zimmer, schliesslich bräuchte sie ihre Ruhe!« Nevis blinzelte heftig, scheinbar schien das Thema sie ziemlich mitzunehmen. Erst jetzt bemerkte sie, was sie ihrem Gebäck angetan hatte und sie warf es mit einem angewiderten Gesichtsausdruck zurück auf die Platte und wischte sich mit einer Serviette die unbehandschuten Finger sauber. Düster fuhr sie fort: »Man schloss mich komplett aus Eiras Leben aus. Wenn ich sie sah, dann nur beim gemeinsamen Mittagessen. Das war die einzige Tageszeit, während der uns gestattet war, im gleichen Raum zu sein. Und da sprach sie so gut wie nie auch nur ein Wort, ganz genau wie Mutter. Mit jedem Tag wurde sie distanzierter und... kälter. Sie wurde genau wie Mutter Die Schneekönigin fluchte, als ihre Bemühungen, ihre Finger sauber zu bekommen, zu scheitern schienen. Das Papier blieb am Zucker kleben. Entnervt warf sie die zerknüllte Serviette zu Boden und griff sich stattdessen eines der Dekordeckchen des Tischs, wodurch sie das restliche Porzellan zu Boden warf, was sie jedoch nicht im Geringsten zu tangieren schien. »So war das jedenfalls während der ersten fünf Jahre ihrer Ausbildung«, murmelte sie mit etwas ruhigerer Stimme, denn die seidenen Dekordeckchen erzielten ein besseres Ergebnis als die Servietten. Nur ihr Handschuh schien noch immer klebrig, ausziehen tat sie ihn trotzdem nicht. »Später liess man ihr mehr Freizeit. Nun könnte man meinen, das hätte Eira und mir die Chance gegeben, uns wieder zu vereinen, doch«, sie schnaubte, »das entpuppte sich als Wunschdenken. Eira hatte mich bereits vergessen. Ich war ihr nicht mehr wichtig.«
»Das ist doch Unsinn«, unterbrach Sabrina den Redefluss ihrer Tante. »Man hört nicht einfach auf, seine Geschwister zu lieben. So funktioniert Familie nicht!«
»Woher willst du das wissen, Waisenkind?«, fauchte Nevis ungehalten, doch schnell hatte sie sich wieder im Griff. »Entschuldige, das Thema geht mir etwas nahe...«
»Ist mir gar nicht aufgefallen«, brummte Sabrina leise, nicht sicher, ob die Schneekönigin sie hörte. Diese schwelgte bereits wieder in ihren Erinnerungen: »Ich gebe zu, ich war damals gerademal sechzehn, wer weiss, welche Spielchen mir mein Verstand damals gespielt hat, doch die Ablehnung, die Eira mir entgegenbrachte, war wie ein Dolch in meiner Brust. Es brach mir das Herz. Sie schob mich von sich und tat, als wäre ich ihr lästig und sie hätte keine Zeit. Dabei wusste ich genau, was sie trieb. Sie traf sich mit einem Kerl. Das allein hätte Mutter ja schon in Rage gebracht, aber dann war es auch noch der Teufelsspross des Lichterlords!«
»Mein Vater?«
»Oh ja, die beiden haben früh angefangen. Ich erwischte sie, als Eira sich mal wieder in den Ostturm geschlichen hatte. Die beiden hatten ein ausgeklügeltes System entwickelt, weisst du? Sie schickten sich gegenseitig Briefe, die sie an die Krallen der Raben banden, die das ganze Jahr in den Erkern und Vorsprüngen der Palastfassade nisteten. So verabredeten sie sich. Tja und einmal bekam ich so eine Nachricht in die Finger. Ich konfrontierte Eira und sie nahm mir das Versprechen ab, die ganze Sache mit Ignatzius für mich zu behalten.«
Sabrina kniff die Augen zusammen. »Du hast sie verraten, nicht wahr?«
Nevis lächelte müde. »Ich war ein Kind. Und Geschwister verpetzen sich nun einmal...«
»Unsinn! Wie alt warst du damals? Sechzehn? Nicht viel jünger als ich jetzt. Und du wusstest ganz genau wie sehr die Herrschergeschlechter sich hassten. Das war ein riesen Theater! Dir war das nur zu bewusst!«
Ihre Tante zog ertappt die Nase kraus. »Ja, natürlich wusste ich, was für eine Katastrophe das war. Himmel, das hätte beinahe einen Krieg ausgelöst! Ich wusste ja, dass es dumm war, aber... Ich war so frustriert, so enttäuscht und einsam und... ja, eifersüchtig. Mir war es die letzten Jahre so dreckig gegangen, während Eira so viel Neues lernte, reisen durfte, ihre Magie nutzen konnte, wo ich immer nur allein gelassen wurde, mich mit gewöhnlicher Allgemeinbildung herumschlagen musste und meine magischen Fähigkeiten immer auf kleiner Flamme gehalten wurden. Und dann kam sie zurück und behandelte mich wie alle anderen, als wäre ich komplett unwichtig! Ich wollte doch auch nur etwas von ihrem Glück, wollte auch etwas von ihrer Freude. Aber sie sah nur Ignatzius...
Ich hatte die Hoffnung, wenn ich Mutter davon erzählte, brächte sie Eira und Ignatzius auseinander und dann würde meine Schwester endlich wieder Zeit für mich haben... haben müssen
Ignatzius. Es war eigenartig, seinen vollen Namen zu hören. Normalerweise nannten ihn alle nur Ignatz. Ihr Paps hatte es gehasst, mit seinem vollen Vornamen angesprochen zu werden. »Aber das hat alles nur schlimmer gemacht, nicht wahr?«
Nevis wandte den Kopf ab. »Sie hat mir das nie verziehen. Das hat sie nie zugegeben, aber ich wusste es. Selbst als die ganze Sache sich beruhigte und wieder Frieden eingekehrt war, ich hatte sie verraten. Und die Kluft, die ich zwischen uns gerissen hatte, war tief.« Traurig betrachtete sie ihre Finger. Als sie den Kopf hob, wirkte sie fast ein wenig beschämt. »Tobias wusste auch davon, wie ich später herausfand. Er war genauso gegen diese Verbindung wie alle andern. Er hatte Ignatzius jedoch nicht verraten.«
»Er war ihnen immer treu«, murmelte sie und dachte an Onkel Tobi, der nun alt, blind und schwach in einem Rollstuhl hockte.
»Er war ein Unruhestifter, wie ich das schwarze Schaf seiner Familie, doch treu war er ihnen immer, da hast du recht.« Sie schluckte schwer und erzählte weiter: »Viel zu schnell waren unsere unbeschwerten Kindertage Vergangenheit und es kam der Moment, auf den Eira ihr halbes Leben vorbereitet worden war.
Wenn ein Herrscher abtritt und seinem Nachfolger, seinem Kind, die Krone weiterreicht, dauert es nicht lange und er verlässt diese Welt, findet Ruhe nach seinem langen, langen Leben. So ist das seit die Bücher sich erinnern und so war es auch mit meiner Mutter. Vater war bis dahin bereits gestorben. Eine schwere Lungenentzündung hatte ihn drei Winter zuvor dahingerafft. So blieben nur Eira und ich von unserer Linie übrig, sie war das letzte Bisschen Familie, das ich hatte. Doch sie war immerzu beschäftigt. Hatte sie Zeit, gab es nur Ignatzius, diesen nichtsnutzigen Lichterlord. Aber ich? Ich war niemand.
»Aber du hättest doch gar nicht einsam sein müssen«, gab Sabrina zu bedenken. »Du hättest losziehen, reisen, Freunde finden oder sogar eine eigene Familie gründen können. Warum hast du das nicht getan?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Seit meiner Geburt hatte ich Tempus so gut wie nie verlassen. Von der Welt dort draussen hatte ich nur gelesen und das meiste davon hatte mir Angst gemacht.«
»Das ist doch keine Ausrede!«
Die Schneekönigin verzog das hübsche Gesicht zu einer grimmigen Fratze. »Ja doch, aber es war tatsächlich der Grund, wieso ich mich nicht traute, wegzugehen, Tempus zu verlassen. Wo hätte ich auch hin sollen.
Andererseits wäre es wohl das einzig richtige gewesen, zu gehen, denn in Tempus hielt mich auch nicht mehr als die Sehnsucht nach der Schwester, die wehmütige Erinnerung an unsere gemeinsame Kindheit, die ich verraten hatte.
Die Eifersucht hatte mich hässlich werden lassen. Ich Dummkopf hatte mich zu oft beklagt, hatte die Ohren der Wände vergessen und wie närrisch die Dienstboten waren, wenn es um ihren Tratsch ging. So hatte ich mir seit jüngster Pubertät, seit die Ausbildung meiner Schwester und die einhergehende getrennte Erziehung unser beider begonnen hatte, den Ruf eines eifersüchtigen Biests geschaffen. Ein Vorurteil, das ich zu Beginn noch zu widerlegen versucht hatte, doch als mir irgendwann klar wurde, dass ich es in hunderten von Jahren noch nicht loswerden würde, änderte ich die Taktik. War mein Ruf zuvor ein an mein Bein geketteter Bleiklumpen gewesen, formte ich diesen nun zu meiner Krone und setzte sie mir auf, trug sie mit erhobenem Haupt und jagte jedem, der mich dafür auslachte, solche Angst ein, dass er seine Verachtung im Stillen ertragen musste und jeder Spott für immer verstummt war. Ich war zwar noch immer allein, doch ich hatte die Angst vor der Einsamkeit überwunden und füllte jene Leere auf andere Weise. Wenn sie mich nicht lieben wollten, sollten sie mich fürchten. Ihren Spott war ich los und ich fühlte mich das erste Mal seit langer Zeit nicht mehr geächtet, verschmäht und wie eine Witzfigur. Sie lachten nicht mehr über mich, trauten sich nun kaum mehr, meinen Namen zu flüstern. Ich war nicht mehr nur die Schwester der Eisprinzessin, ich war jemand!« Sie grinste kühl und entblösste Reihen makelloser, weisser Zähne. »Eira war mein Wandel nicht entgangen und ganz offensichtlich gefiel er ihr nicht. Sie lud mich eines Abends in einen Konferenzsaal. Jener, der – wie viele Räume in diesem viel zu gigantischen Gebäude – seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt wurde und in dem wir als Kinder, lange bevor wir voneinander getrennt worden waren, gespielt hatten. Sie hielt mir eine Rede über Verantwortung und über Grundregeln der Herrscher. Waage zwischen dem Guten und Bösen blablabla. Siemeinte, sie sei besorgt über meinen Hang zum Bösen.« Das Grinsen war aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte einem düsteren Blick das Feld geräumt. »Zu jener Zeit hatte es auch mit dem Zweitgeborenen der Linie der Lichterlords, Tobias, vermehrt Konflikte gegeben. Man beschloss, das strikte Majorat, das Erbrecht des Erstgeborenen etwas aufzulockern und eine Sekundogenitur einzuführen. Nach der wurde Tobias ein Land und Titel zugesprochen. So wurde er Sonnenkönig der Wüste Aurea.« Als Nevis von Tobias zu sprechen begann, zog sie, ohne dass sie es selbst zu bemerken schien, die Nase kraus, als würde es sie abstossen, von ihm zu reden. Ihre Abneigung gegen die Linie der Lichterlords war wie ein Relikt aus alten Zeiten. »Den gleichen Plan hatte Eira mit mir. Sie dachte vermutlich, sie würde mich damit wieder auf den richtigen Weg führen, dass ich, würde ich diese Verantwortung meistern, der Düsternis entrinnen würde. Aber es kam mir vor, als wolle sie mich loswerden. Ich war nur ein lästiges Problem, das sie auf diese Weise ohne grosse Mühen beseitigen konnte. Sie schob mich weg und es fühlte sich an wie damals, als wir Kinder waren. Wie die tausend Male, als sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, als sie sich über mich gestellt, auf mich herabgesehen hatte, um sich selbst besser zu fühlen, als sie...« Sie wischte sich rasch über die Augen. »Deine Mutter war arrogant und widerlich, doch ich willigte ein. Ich erkannte, dass das meine Chance war und ich wollte sie ergreifen. Ein halbes Jahr später wurde ich zur Schneekönigin der nördlichen Halbinsel Færø gekrönt. Niemandsland, das zu einem Staat ernannt worden war, genau wie bei Tobias. Natürlich zog ich in mein Reich, liess mir ein Schloss bauen, regierte die wenigen Einheimischen – hauptsächlich Menschen und vereinzelte theriantrophe Stämme der Ferun – schlug Rebellionen letzterer nieder, sammelte Sieder zu einer Stadt und errichtete mir mein eigenes, kaltes, karges Reich. Und wieder packte mich die Einsamkeit, nur gelang es mir dieses Mal nicht, ihr zu entrinnen.« Nevis erhob sich von ihrem Sessel und begann durch den Raum zu tigern. Eine Weile schwieg sie, als müsste sie sich besinnen. Diese Frau, von der Sabrina anfangs den Eindruck gehabt hatte, sie wäre kalt und emotionslos wie ein Eisklotz, entpuppte sich als sehr bewegten Menschen.
Sabrina wusste nicht recht, was sie mit dieser Situation anfangen sollte. Einerseits wollte sie alles wissen, was Nevis ihr noch von ihren Eltern berichten konnte, saugte jegliche Information auf wie ein Schwamm, andererseits war diese Frau mit Grund dafür, dass sie nun eine Waise war!
Nevis schien sich unterdessen gesammelt zu haben und setzte ihre Geschichte fort: »Als die Einladung zur Hochzeit deiner Eltern bei mir ankam, begann ich sofort mit den Vorbereitungen. Ich wollte nicht mehr als Schwester der Eisprinzessin nach Tempus zurückkehren, ich wollte als Schneekönigin von Færø auftreten, Respekt und Verehrung erfahren, ich wollte glänzen. Dazu gehörte nebst einer kleinen Gefolgschaft und einem Hochzeitsgeschenk auch eine Begleitung. Ich wollte nur das Beste. Also zitierte ich Kay Jerit, den ehemaligen Anführer der Rebellionen, die ich niedergeschlagen hatte, an meinen Hof. Er war das, was einem Prinzen in meinem Reich am nächsten kam. Ich forderte ihn auf, mich nach Tempus zu begleiten, doch er lehnte ab. Da er sich nicht freiwillig fügen wollte, zwang ich ihn, indem ich seine Verlobte Gerda entführen liess. Das war einfacher, als es klingt. Die Ferun leben nicht in Städten, ihre Anführer nicht in Burgen. Sie bauen Zelte aus Holz, Knochen, Fellen und Steinen, die sie nach einigen Wochen wieder abreissen, um weiterzuziehen. Sie reisen mit den Tieren, die sie jagen. Ihre Speere sind aus Holz, ihre Rüstungen aus Leder. Einzig ihre Krieger, die Werbären, sind gefährlich. Doch sobald ich Gerda in meiner Gewalt hatte, wurden die Bestien zahm wie Lämmer. Ich legte sie schlafen in einer Hülle aus Eis und als Kay kam, um seine Geliebte zu befreien, machte ich ihm, klar, dass sie erst wieder frei sein würde, wenn er tat, für was ich ihn brauchte. Er fügte sich und ich hatte meine Begleitung für Tempus.
Es ist grobe vierhundert Jahrhundert her, aber ich kann mich an jenen Tag erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die Hochzeit deiner Eltern war pompös und gewaltig und hatte alles, was sich kleine Mädchen unter einer Traumhochzeit vorstellen.
Gäste aus der ganzen Welt, aus den umliegenden Königreichen, aber auch aus fernen, fremden Ländern. Es waren so viele, Tempus sah aus, wie unter einer Belagerung. Bis an die Grenze des Ezelwalds standen die Zelte. Und hinter den Stadtmauern wuselte das Leben selbst durch die engsten Gässchen, schmückte die Fassaden, bot Ware auf den unzähligen Marktständen feil, besichtigte das Kapitol Arkans, das an jenem Tag strahlte wie nie zuvor.
Sabrina rümpfte die Nase. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mama sich so etwas gewünscht hatte.«
»Hatte sie auch nicht«, bestätigte ihre Tante. »Aber das hatte sie selbst nicht bestimmen dürfen. Du musst wissen, Sabrina, wenn ein Herrscher heiratet, ist das nicht nur der Ehebund, der geschlossen wird. Es ist die Wahl des Partners, mit dem er einen Nachkommen zeugen wird; den nächsten Herrscher der Gezeiten. Und im Falle deiner Eltern war es eh und je ein historisches Ereignis. Zwei Herrscher, die sich gegenseitig als Partner erwählt hatten! Das bedeutete das Ende der ewigen Feindschaft zwischen Lichterlord und Eisprinzessin.«
»Es war ein Spektakel«, schloss Sabrina.
»Ganz genau.« Nevis lehnte sich zurück, langte sich an die Stirn und kontrollierte den strengen Zopf, mit dem sie ihr aschblondes Haar um den Kopf gewunden hatte. »Als wir eintrafen, bekam ich alles, was ich mir gewünscht hatte. Ehrerbietung und Achtung, sie knieten nieder, niemand wagte, über mich zu lachen. Wir wurden im Palast untergebracht, assen am Bankett mit tausend andere. Eira bekam ich nicht zu Gesicht und ich redete mir ein, dass sie einfach zu viel zu tun hatte. Doch auch am nächsten Tag, an dem die Feierlichkeiten mit dem Eheschwur ihren Höhepunkt erreichen würden, hörte und sah ich nichts von meiner Schwester. Erst während der Trauungszeremonie, als ihre Schicksalslinien vereint wurden, das Band des Versprechens um ihre Handgelenke geschlungen und sie sich das Ja-Wort gaben, konnte ich sie von weitem dabei beobachten. Es war wie immer; meine Schwester hatte keine Zeit für mich.« Ihr Blick wurde abwesend, auf die Erinnerungen längst vergangener Tage gerichtet.
Sabrina schüttelte den Kopf. »Du bist eine eifersüchtige Narzisstin.«
Ein Lächeln, dünn und blass wie ein Nylonfaden, umspielte Nevis' Lippen. »Vielleicht.« Sie seufzte. »Endlich, als während einer sterbenslangweiligen Zeremonie die Hochzeitsgeschenke übergeben wurden, hatte ich die Chance, meiner Schwestergegenüberzutreten. Ich hatte ihr allerhand wertvolle Gegenstände aus meinem Reich mitgebracht. Geweihe grauer Riesenbären, Leder aus der Haut weisser Lindwürmer, die sich durch die Hochebenen Færøs fressen, Schlitten aus Walbein, wie sie nur die alten Völker schnitzen können, ein junges Mamut aus bester Zucht, das kristallene Herz eines Bergriesen, gross wie das Kanapee auf dem du sitzt.« Ihre Kiefer malten, sie fokussierte einen Punkt an der Decke. »Während ich Eira mein Geschenke präsentierte, hatte ich Kay demonstrativ an meiner Seite. Er war ein schöner Mann, der selbst in Kleidern aus Seide seine wilde, freie Herkunft nicht verstecken konnte. Er stach heraus. Mit ihm wollte ich Eindruck schinden. Bei den Monarchen gelang mir das sogar, doch deine Eltern liessen sowohl Geschenke als auch Kay völlig unbeeindruckt. Dein Vater lächelte und dankte. Deine Mutter lächelte und dankte. Sie lächelten, dankten... und widmeten sich den nächsten Speichelleckern...« Sie machte eine Kunstpause. »Ich war unzufrieden, aber dass mir nicht zum Feiern zumute war, hatte natürlich kein Gewicht. Das Fest ging seinen Lauf. Die Gäste tanzten, frassen und tranken, bis sie nur noch torkelten, vollgefressen rumlagen und von Abenteuer ihrer Jugend lallten, die so gar nie passiert waren.
In dem ganzen Trubel hatte ich Kay aus den Augen verloren, dachte mir dabei jedoch nichts. Ich glaubte, der Feruni hätte sich einen Humpen und ein Mädchen gesucht und es war mir eigentlich auch egal. Am nächsten Tag würde sich sowieso keiner mehr an dieses Fest erinnern. Der Suff der Monarchschaft war mein Verbündeter.
Nur unterschätzte ich meinen Feind, denn das war, was ich aus Kay gemacht hatte, indem ich seine Gerda meiner Eisskulpturensammlung zugefügt hatte. Ich hatte ihn falsch eingeschätzt, den wilden Prinzen aus dem kalten Süden. Er hatte mich bei erster Gelegenheit an Eira verraten.« Ihre Stimme wurde bitter. »Ich war zu stolz gewesen, hatte darauf gewartet, dass Nevis zu mir kommen würde. Ich naives Ding hatte mir vorgenommen, nicht um ihre Aufmerksamkeit zu betteln, dabei war alles, was ich getan hatte, Mittel für genau diesen Zweck gewesen.« Sie zog die Nase kraus. »Erbärmlich!«
»Du scheinst dich selbst nicht zu mögen«, meinte Sabrina nüchtern.
Nevis zog die Schultern an. »Jene, die nicht böse geboren wurden, tendieren häufig zu dieser unpraktischen Eigenschaft. Die Kunst ist, zu akzeptieren, wer man ist und sich von dem gesellschaftlichen Konstrukt, nur das Gute würde am Ende seinen Frieden finden, zu lösen.«
»Du machst nicht den Eindruck, Frieden zu haben.«
»Du auch nicht.« Nevis Ausdruck wurde noch bitterer. »Vermutlich gibt es für niemanden Frieden. Nicht gut, nicht böse. Und unser wahres Schicksal ist das Unglück.«
»Der Pessimismus liegt uns also wahrhaftig im Blut...«
Aus irgendeinem Grund brachte das die Schneekönigin zum Lächeln, wie ein Windhauch, der die Wolken von der Sonne schoben. Doch schnell verlor sich das Lächeln wieder, der Wind flaute ab, die Wolken zogen erneut auf. »Eira war empört, warf mir vor, ich hätte ihr Vertrauen missbraucht. Sie bezeichnete mich als Tyrannin und sie beschloss, ich müsse bestraft werden. Sie enthob mich meiner Ämter, stürzte mich von meinem Thron und setzte die Krone Kay auf, dem neuen König von Færø. Mir verbot sie, mein eigenes Reich jemals wieder zu betreten und schickte mich drei Jahrhunderte ins Exil, in die Zwillingswälder Naïa und Nayee.
Erst wollte ich mich wehren, doch Eira versprach mir, auf einen öffentlichen Prozess, zu dem es in so einem Fall eigentlich kommen würde, zu verzichten. Sie versprach mir, meinen Ruf zu wahren, mich nicht mein Gesicht verlieren zu lassen. Die Öffentlichkeit sollte niemals erfahren, was wirklich mit der Königin von Færø passiert war. Offiziell hiess es, ich sei schwer erkrankt und müsse im Zeitpalast bleiben, da der Transport zu anstrengend für mich sei. Zu krank, um zu herrschen. Eine kranke Königin. Ja, es war eine Lüge mit Zwergenbeinen, aber aus dem Munde der frisch verheirateten und vom Volk geliebten Eisprinzessin war jedes Wort aus purem Gold.
Noch in derselben Nacht kutschierte man mich inkognito aus Tempus. Von Seide und Schmuck blieb mir nicht mehr als Lumpen und etwas Proviant.«
»Und doch hast du dich nicht gefügt«, stellte Sabrina fest. »Die Hochzeit meiner Eltern war vor vierhundert Jahren. Dreihundert solltest du im Exil bleiben. Der Putsch der Dunklen war jedoch vor genau zweihundertvierzig.«
»Du bist nicht auf den Kopf gefallen«, säuselte Nevis. »Du hast recht, dreihundert schaffte ich nicht. Aber um die hundert war ich brav. Ich hatte mich einer der Nomaden, wie sie viele durch die Zwillingswälder streifen, angeschlossen. Eine Schar Zigeuner, ein Volk der Gaukler, das in den Sommern an den Fuss des Ondorgebirges reiste und dort mit ihren Kunststücken und Geschichten die Leute unterhielten und ihnen, während sie zuschauten, das Gold aus den Taschen stahlen.
Erkennen tat mich niemand. Keiner schöpfte Verdacht, die blasse Nomadin könnte die Schwester der Herrscherin sein. Und nach den ersten paar Jahrzehnten hatten die meisten bereits vergessen, wie mein Vorname war.«
»Was hat dich von den restlichen zweihundert Sühnejahren abgehalten?«
Nevis schmunzelte böse. »Der, der uns alle zusammenführte, Sabrina. Der Schlimmste von uns allen. Es war der Teufel. Rumpelstilzchen.«
Sabrina runzelte die Stirn. »Er hat euch vereint? Er hat „die Dunklen" erschaffen?«
Nevis nickte. »Er war es, der uns zusammenschweisste. Jeder, der nach Macht giert, ist Einzelgänger. Teilen ist für unsereins ein Fremdwort. Doch Rumpelschaffte es irgendwie, uns zu eichen.«
»Aber nun ist nicht mehr einer von euch. Warum?«
Nevis wog den Kopf hin und her. »Er war gegen eine Allianz.«
»Was für eine Allianz?«
Nevis lachte. »Ein Investor, der inkognito bleiben will.«
»Ein Investor...« Sie schnaubte. »Mehr willst du mir nicht verraten, nicht wahr?«
»Ganz genau.«
Sie knirschte mit den Zähnen. »Also gut, ich bin neugierig. Wie ging das ganze vonstatten? Habt ihr euch jeden Abend verabredet, um über die guten alten bösen Zeiten zu plaudern, Kekse in Blut eurer Feinde zu dippen und euren Masterplan auszuarbeiten?«
Nevis schüttelte den Kopf. »Bis es dazu gekommen ist, sind Jahrzehnte vergangen. Rumpel sammelte uns einen nach dem anderen ein. Begonnen hat er mit Damaris. Die nächste war ich.«
»Du warst die zweite?« Erneut fühlte Sabrina sich in ihrer Abscheu bestätigt.
Nevis nickte. »Dir fällt es sicher schwer, diese Allianz nachzuvollziehen. Im Nachhinein habe ich den Verdacht, ich bin in eine Falle gelaufen. Dieser Teufel weiss genau, was er tut...« Sie schwieg einen Moment, ihr Mund wurde zu einem Strich. »Von einem Tag auf den anderen war es in aller Munde. Die Schneekönigin sei nicht erkrankt, befand sich nicht einmal mehr im Zeitpalast. Sie war aufgrund ihrer Grausamkeit ihres Amtes enthoben worden. Von der eigenen Schwester vom Thron gestossen! Und auf einmal hiess es, die gestürzte Königin sei geflohen, verstecke sich nun in den Zwillingswäldern.
Spätestens dann war ich mir sicher, dass Eira für diese vermeintlichen Gerüchte verantwortlich war. Das hätte bedeutet, dass sie unsere Vereinbarung nicht eingehalten hatte.
Aus Angst, man würde mich entlarven und lynchen wie die Menschen es damals mit jeder Hexe taten, von der sie glaubten, sie würde schwarze Magie praktizieren, floh ich in die Wälder, in die Wildnis.
Und dort fand mich der Teufel. Und er schlug mir einen Pakt vor.«
»Du hast einen Vertrag mit ihm?«
Sie nickte. »Mit Blut unterzeichnet. Nicht zu brechen.«
Sabrina kniff die Augen zusammen. »Was hat er dir versprochen und was war die Gegenleistung, die er forderte?«
»Er versprach mir Rache, Ruhm und Macht. Noch forderte er gar nichts. Nichts Handfestes. Er verlangte von mir, ich müsse ihm irgendwann in der Zukunft einen Gefallen machen. Wobei Gefallen so nett ausgedrückt ist. Steht dein Name in Blut geschrieben auf dem Vertragspergament, sitzt der Teufel dir beinahe buchstäblich im Nacken. Wenn er seine Schuld einfordert, hast du keine Wahl, du wirst sein Werkzeug.«
Sabrina schluckte schwer und dachte an den Packt, den Mile mit dem Teufel geschlossen hatte. Wann würde er kommen? Und was würde der Preis sein, den er verlangen würde.
Nevis fuhr fort: »Nun, da ich Rumpel besser kenne und weiss, wie durchtrieben er ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass in Wirklichkeit er der Grund dafür war, dass die Wahrheit ans Licht kam. Er hatte mich ausgetrickst...«
»Das entschuldigt nicht, dass du deine Schwester verraten hast. Niemand kann jemanden, den er einst liebte, so hassen, dass er ihn tot sehen will.«
»Das habe ich auch nicht. Ich wünschte Eira nie den Tod. Nur hatte ich das Kleingedruckte des Vertrags nicht gelesen und das... Ach, dazu komme ich später noch.« Sie lehnte sich zurück, wirkte nun noch blasser. »Jedenfalls schloss ich buchstäblich den Packt mit dem Teufel.
Anfangs war es aber eigentlich wirklich gut, einen Verbündeten zu haben. Jahrhunderte war ich zuvor allein gewesen, hatte mich niemandem anvertrauen können. Natürlich war auch das Teil von Rumpels Plan gewesen, herrjeh, er hatte mich komplett durchschaut... Mit Damaris hatte ich zu Beginn mehr Probleme. Ich hatte immer das Gefühl, sie wüsste mehr als ich, als teilte sie mit Rumpel ein Geheimnis, von dem ich nichts wusste. Doch ich nahm es in Kauf, schob weg, wie sehr es mich störte. Ich wollte meine neuen Verbündeten nicht aufgrund einer Nichtigkeit verlieren.
Wir verbrachten unsere Zeit tief im Nayee, in einer Hütte, die weit von jedem noch so schmalen Trampelpfad ablag wie möglich. Rumpel gab Damaris und mir Aufträge. Was er selbst während der Zeit tat, in der er uns beschäftigte, wussten wir nicht, doch wir fragten nicht nach. Er hätte uns ohnehin keine Antwort gegeben.
Damaris schickte er los, um uns weitere Verbündete zu suchen. Er wählte sie aus und die böse Königin zog los, um sie zu finden.
Ich hingegen war völlig unnütz. Hätte ich die Zwillingswälder verlassen, wäre das sofort aufgefallen.« Nevis beugte sich vor und zog sich den Handschuh aus, der vom getrockneten Zucker ganz steif war. Sie warf in die Scherben neben den Tisch und streckte ihrer Nichte die flache Hand entgegen.
Wie ein Tintenfleck, der von ihrer Haut wie Papier aufgesogen worden war, prangte ein schwarzes Mal auf ihrer Handinnenfläche.
»Das habe ich nun schon vierhundert Jahre. Relikt meiner ungesühnten Verbrechen.« Beinahe als sähe sie es das erste Mal oder das erste Mal seit langer, langer Zeit, strich die Schneekönigin über den dunklen Punkt auf ihrer Haut. »Es ist die Nebenwirkung eines Fluchs, den Eira auf mich legen liess. Durch ihn wusste sie immer, wo ich mich befand. Vermutlich bis zuletzt...«
Bis zu ihrem letzten Atemzug.
Aus einem Impuls heraus hob Sabrina die Hand und berührte das düstere, schwarze Mahnmal, doch in dem Moment, als ihre Fingerspitzen über die kalte Haut der Schneekönigin strichen, zuckte diese zusammen und zischte, als hätte ihr die Berührung einen Schlag versetzt.
»Was?«, fragte Sabrina und beobachtete, wie Nevis sich mit einem etwas entrückten Gesichtsausdruck die Hand massierte.
»N-nichts«, brummte sie und versteckte die Hand in ihrem Schoss. Etwas zu hastig kehrte sie zum Thema zurück: »Jedenfalls wurden mir deshalb lästige und unglaublich nebensächliche Aufträge erteilt. Speis und Trank organisieren, Waschen, Putzen, Damaris' Tarnzauber rund um unsere Unterkunft erneuern und viele weitere erniedrigende Dienstleistungen. Die wohl gewichtigste meiner Tätigkeiten war es, all die offiziellen Schreiben mit meiner Unterschrift zu versehen.
Das füllte das nächste Jahrhundert meines Lebens. Und mit jedem Jahr wuchsen meine Zweifel. Es war nicht nur, dass ich mich selbst als völlig unnütz empfand, es isolierte mich auch von dem Rest meiner Verbündeten. In mir spross die quälende Frage, ob das der richtige Weg für mich wäre, ob ich denn überhaupt zu den Usurpatoren gehören sollte. Eines Tages ging es sogar so weit, dass ich dem Teufel meine Zweifel anvertraute, aber das half nichts.«
»Was war seine Reaktion, als du ihm deine Sorge erzählt hast?«
Sie zuckte die schmalen Schultern. »Er versprach mir, er hätte mich nicht ohne Grund ausgewählt. Er behauptete, dies sei mein Schicksal und dass ich eines Tages eine der wichtigsten Aufgaben von uns allen haben würde. Das versicherte er mir immer wieder, wenn er merkte, dass ich resignierte.«
Sabrina runzelte dir Stirn. »Er wollte dich nur auf seiner Seite, um meiner Mutter zu schaden.«
Nevis schüttelte den Kopf und ihre Ohrringe, kleine, silberne Kettchen, an deren Enden blaue Steinchen hingen, klimperten leise. »Des Teufels Pläne sind immer perfekt. Er ist ein unglaublicher Stratege, ein Meister der Manipulation. Er ist ein Genie!
Erst schuf er uns, die Dunklen. Und jeden von uns suchte er mit Bedacht aus. Damaris, weil ihre Flüche ganze Völker überwältigen können und beim Klang ihres Namens selbst die finstersten Schurken erschauern. Hedwig wegen ihrer Macht, ihrer Magie und ihrem endlosen Wissen. Corda, die Herzkönigin, die ihrem Titel alle Ehre macht, weil jeder, der ihr Gesicht sieht, buchstäblich und sinnbildlich den Kopf verliert, weshalb wir ihr einige Allianzen zu verdanken haben. Vlad und Rollo, weil wir es ansonsten nie geschafft hätten, die grauen Wesen mit einzuspannen, ohne dass sie sich gegenseitig zerfetzt hätten.
Dann liess er sie Allianzen schliessen. Hexen-und Vampirzirkel, Werwolf-und Zwergenclans, jede dunkle Seele, die auf Rache und Blutvergiessen sann, Monster aller Art, darunter auch die Moracks. Wir infiltrierten Arkan im geheimen und überall, wo die Schatten dicht genug waren, damit die Herrscher davon nichts mitbekamen.
Und dann kam jene Nacht.
Das ganze liegt nun bald ein Vierteljahrhundert zurück, doch keine meiner Erinnerungen aus dieser Zeit ist so klar wie diese. Die Nacht der roten Kronen. Die Nacht, in der über die Hälfte aller Königsgeschlechter Arkans ermordet worden waren und ihre Völker im Chaos versanken.
Hundert Jahre der Planung hatte es gedauert. Hundert Jahre des Intrigierens.
Wir hatten überall auf dem Kontinent unsere Meuchelmörder postiert und alle wurden sie in jener Nacht aktiv. In der Nacht des Putschs. Das Königsblut floss in Strömen, die Kronen fielen, Gold in Blut, die Nacht der roten Kronen... Und mit jedem toten König, mit jeder toten Königin versank das Reich mehr im Chaos und uns war es ein Leichtes, Tempus einzunehmen.
Das Königssterben war das Zeichen, auf dass unsere Schläferarmeen gewartet hatten. Mit jeder fallenden Krone wurden es mehr. Sie alle zogen Richtung Tempus und...«
»Aber meine Eltern waren nicht mehr dort«, unterbrach sie Sabrina. »Und ich weiss, dass Damaris bei Tobias war. Beim Sonnenkönig. Du hast von Allianzen gesprochen. Und von Königsmördern. Aber was war mit Tobias? Und da ich hier vor dir sitze und lebe, stellt sich mir die Frage, ob darin ein Zusammenhang besteht.«
Nevis musterte sie nachdenklich und schliesslich meinte sie leicht zögerlich: »Tobias einzuweihen war von Beginn an ein Risiko gewesen. Das war niemandem mehr bewusst als mir... und genau deshalb riet ich Damaris, auch ihn aufzusuchen.«
Sabrina kniff die Augen zusammen. »Hör schon auf mit dem Spielchen!«
Nevis hob abwehrend die Hände. »Ich spiele nicht, ich...« Sie seufzte tief, wobei ein feines Atemwölkchen von ihren Lippen aufstieg. Die Temperatur im Raum war noch weiter gesunken. »Ich habe Eira dafür gehasst, dass sie mich im Stich gelassen hatte, ich habe sie dafür gehasst, dass sie mich verbannt hatte, ich habe sie dafür gehasst, dass sie zugelassen hatte, dass ich zum Gespött geworden war, ich habe sie dafür gehasst, zutiefst gehasst. Aber den Tod habe ich ihr nie gewünscht.«
»Aber du hast dich dieser Gruppe Wahnsinniger angeschlossen. Diese geistlosen Mörder! Hast du wirklich geglaubt, sie würden den Herrschern nichts antun, sie nicht endgültig aus dem Weg schaffen wollen?«
Die Schneekönigin schnaubte. »Ist dir eigentlich klar, wie ein Herrscher stirbt?«
»Ich werde es vermutlich bald erfahren«, antwortete mit vor Zynismus bitterer Stimme.
Ihre Tante rümpfte die Nase. »In den Chroniken von Twos gab es noch nicht einen Herrscher, der eines unnatürlichen Todes gestorben war, abgesehen von jenen, die sich gegenseitig umbrachten. Eira und Ignatzius waren die erste und einzige Ausnahme! Für mich hat es diese Option noch gar nicht gegeben
Erst als die Nacht der roten Kronen näher rückte, offenbarte mir Rumpel seinen Plan. Er rief mich eines Abends zu sich, verlangte ein Gespräch unter vier Augen. Das alleine war schon eigenartig, denn solche Einzelsitzungen hielt der Teufel sonst nur mit Damaris.
Tja und da offenbarte er mir, was sein Plan war. Er wollte Eira und Ignatz tot. Und er forderte meine Schuld ein, verlangte seinen Preis.«
»Lass mich raten, er verlangte deine Treue und dass du sie nicht verraten würdest.«
Nevis schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Der genaue Wortlaut war: Bleib eine der Dunklen!«
Sabrina stutzte. »Das war alles?«
Nevis nickte. »Für jemanden, der Verträge schliesst wie er, der einem das Wort im Mund umdreht, der Wünsche gegen einen verwendet wie ein böser Dschinn, ist so eine Forderung doch ziemlich schwach, findest du nicht?«
»Du meinst, er hat dir absichtlich so viel Spielraum gelassen?«
Die Schneekönigin wog den Kopf hin und her. »Er band mich an die Dunklen, ich konnte mich also nicht offen gegen sie wenden, was ich zugegebenermassen auch nicht vorhatte. Ich wollte den Sturz der Herrscher, doch ich wollte meine Schwester lebend aus der Sache rausbekommen. Und diese Freiheit liess er mir und zwar ganz bewusst, da bin ich mir sicher.«
»Aber diesen Preis, hättest du ihn auch einfach... nicht zahlen können?«
Nevis schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
»Wieso nicht?«
»Es geht einfach nicht!« Sie seufzte ergeben. »Besser kann ich dir das auch nicht erklären...«
Sabina schluckte. Wieder dachte sie besorgt an Mile.
»Einige Monate zuvor hatte Damaris die Idee gehabt, auch den Sonnenkönig, den Bruder des Lichterlords in unseren Putsch miteinzuspannen. Schliesslich habe er ein ähnliches Schicksal wie ich erlitten und war schon immer wegen seiner Aufmüpfigkeit und seiner unterschwelligen Auflehnung gegen seinen Bruder aufgefallen.
Ich hatte damals jedoch davon abgeraten, ihn um Unterstützung anzufragen, schliesslich wusste ich noch aus meinen Kindertagen, dass die Brüder einander trotz ihrer Differenzen im Notfall treu waren. Aber nun brauchte ich jemanden, der Ignatzius und Eira für mich warnen würde. Darum ergriff ich die nächstbeste Gelegenheit in einer unserer folgenden Sitzungen und revidierte meine Meinung. So kam es, dass Damaris dem Sonnenkönig einen Besuch abstattete.«
»Wobei sie den gesamten Hofstaat Helios' umgebracht und meine Familie verflucht hat, ja, diese Geschichte kenne ich«, knurrte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Die Schneekönigin nickte huldvoll. »Ich hörte davon und das ist bedauerlich. Damaris... kann schlecht mit Zurückweisungen umgehen...«
Sabrina schnaubte.
»Wie ich mir gedacht hatte, verriet Tobias seinem Bruder unsere Pläne trotz Damaris' Drohungen. Als unsere Armeen bald darauf Tempus überrannten und wir den Zeitpalast stürmten, war keine Spur mehr von den Herrschern.«
Sabrina schluckte. Ihr Mund war trocken, doch sie war zu stolz, als dass sie sich dazu hätte durchringen können, um eine neuen Tasse Tee zu bitten. Stattdessen fragte sie: »Und doch sind meine Eltern heute tot.«
Sehr langsam nickte Nevis. »Willst du wissen, wie sie starben?«
Sabrinas Nackenhaare stellten sich auf. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern hatte sich ihr die Frage gestellt, was in jener Winternacht vor bald neun Jahren geschehen war. Und nun sollte sie es wirklich erfahren? Himmel, ihr wurde heiss und schlecht und die Fragen brannten ihr so auf der Zunge, dass es weh tat, doch sie war erstarrt, konnte sich nicht rühren.
Und Nevis wandte den Kopf ab. Zu feige, um sich Sabrinas Blick zu stellen, erzählte sie von der Ermordung ihrer Schwester: »Es war der Lichterfresser. Ein Wesen, von dem selbst in der Palastbibliothek, ja nicht einmal in den alten Schriften Lexikas mehr als Mythen zu finden sind. Es soll eines der vier Urwesen sein. Die erste Schöpfung des Kupferkönigs. Ich kenne es aus den Sagengeschichten meiner Kindheit und-«
»Mussten sie leiden?«, unterbrach sie ihre Tante.
»Ich glaube nicht.«
»Du glaubst?«
»Ja.« Etwas unbeholfen erhob sich die Schneekönigin von ihrem Sessel. »Ein Lichterfresser beisst nicht, er zerfetzt nicht, er verschlingt einfach nur.«
Sabrina nickte stumpf. »Ich will mehr wissen! Was ist das für ein Wesen?«
»Ich weiss leider nicht viel mehr, als was ich aus den alten Sagen kenne. Darin heisst es, dass der Lichterfresser selten in einer Gestalt anzutreffen ist. Meist ist er nichts weiter als Dunkelheit. Wie ein riesiger Schatten, der sich vom Grund gelöst hat. Nur wenn er sich sattgefressen hat, nimmt er seine wahre Form an.«
»Lass mich raten«, murmelte Sabrina. »Ein Fuchs?«
Nevis nickte. »Das schwarze Wappentier des Kupferkönigs.«
»Schwarz?«, hakte Sabrina nach und dachte an den Fuchs in der Starre.
Etwas irritiert neigte Nevis den Kopf und bestätigte: »Schwarz.«
Gut, immerhin. Was auch immer Falk gebissen hatte, es war nicht die Bestie, die auch ihre Eltern auf dem Gewissen hatte. »Okay, erzähl weiter.«
»Es heisst, der Lichterfresser sei die erste Schöpfung des Kupferkönigs. Eine Kreatur, so unberechenbar und gefährlich, dass man etwas gegen sie unternehmen musste. Deshalb sperrte man sie in die Welt der ewigen Nacht, wo sie dafür sorgen sollte, dass tot blieb, was bereits gestorben war. Doch nach dem Verschwinden des Kupferkönigs verfiel die Welt der ewigen Nacht und ohne den Herrscher war da niemand, der seine Schöpfung kontrollieren konnte. Lange Zeit später, als die Urherrscher bereits Vergangenheit waren und weitere Generationen von Herrschern ihnen gefolgt waren, geschah eine Katastrophe. Nichte, sagt dir Die letzte grossen Dekade der Weltenmigration etwas?«
Sabrina runzelte die Stirn. Die ferne Erinnerung an eine von Jeremys Unterrichtsstunden kam in ihr auf, doch mehr als der Geschmack von Butterkuchen war ihr von diesem Teil des Lehrplans nicht geblieben. »Nicht wirklich.«
Nevis seufzte. »Eine Schande, dass du so wenig von der Historie dieser Welt mitbekommen hast. Dir fehlt ja tatsächlich einiges an Allgemeinwissen!«
»Dann fass dich bitte kurz, mir brummt der Schädel ohnehin schon!«
»In der Geschichte dieser Welt gab es mehrere Zeiten, in denen regelrechte Fluten von Wesen von Twos in die Sterbliche Welt flohen. Weltenmigration wird das genannt. Gründe dafür gab es unterschiedliche. Nöte wie Hunger, Durst, Armut. Populär ist auch die Pandemie der Pestilenz. Grosse Kriege wie das Morack Zentennium oder der Zungenorlog trieben die Wesen in Scharen durch die Portale. Das alles führte dazu, dass der Strom der Zeit heute so gefährlich ist. Früher konnte jeder durch die Portale schreiten, heute geht das nur, wenn man in sich genug Magie hat, um dem Strom zu widerstehen.
Immer, wenn eine solche Weltenmigration stattgefunden hatte, war es zu grossen Katastrophen gekommen. Weltenkollisionen, um genau zu sein. So sind Troja und Atlantis in diese Welt erschienen, sie wurden aus der Sterblichen Welt gerissen und sind in Twos gelandet.
Unsere Gelehrten glauben sogar, dass durch die Benutzung der Portale und die damit einhergehende Annäherungen der Welten die Entstehung von den Inseln Nimmerland, Oz und Avalon begünstigt worden sind. Faszinierend, nicht wahr?«
Sabrina blinzelte schnell die grossen Augen weg, die ihr vor Staunen gewachsen waren. Ja, natürlich war das hochinteressant. Nur zugeben wollte sie es vor Nevis nicht, weshalb sie einfach nur gleichgültig die Schultern zuckte und die Unbeeindruckte spielte.
Nevis liess sich davon jedoch nicht aus der Fassung bringen und erklärte weiter: »Während des letzten grossen Krieges in Twos, der durch den Konflikt zwischen dem Lichterlord Aodhan und der Eisprinzessin Berfin stattfand, der aus der Verbindung, die ihre Kinder Ignatzius und Eira hatten eingehen wollen, entstanden war, geschah es dann: Aufgrund der Massen, die vor dem sogenannten Rabenkrieg durch die Portale geflohen waren, war der Strom der Zeit einmal mehr aus der Bahn gebrochen und die Welten kollidierten.«
»Wie ist so eine Kollision der Welten denn?«, fragte Sabrina, deren Stolz nun doch von ihrer Neugier untergraben wurde.
»Unsere Gelehrten sind sich heute sicher, dass es sich bei jener Kollision nur um eine kleine und besonders kurze gehandelt hatte. Und doch war es eine der schlimmsten Naturkatastrophen der letzten Jahrhunderte. Ein Wirbelsturm brach über Arkan herein und riss eine grosse Schneise durch den Süden. Der Sturm legte Port Maless in Schutt und Asche, zerstörte die Flussdelten und riss die letzten Siedlungen der einsamen Weiden wie ein Bauer seine Rüben aus dem Acker. Ganz knapp rauschte er an Turdidae vorbei. Der Süden hat damals ausgesehen wie ein endloses Schlachtfeld. Überall lagen Trümmer und Tote, die meisten nicht einmal aus Twos stammend...«
»Soll das heissen, der Sturm hat Trümmer und... Leichen nach Twos gebracht? Aus der Sterblichen Welt hierher?«
Nevis nickte. »Die Gelehrten glauben, eben solche Katastrophen entstehen dort, wo die Welten aufeinanderprallen. Bei diesen Kollisionen werden Löcher in die Wirklichkeiten gerissen und das äussert sich durch eben solche Katastrophen. Und durch den Spalt, der entsteht, werden Dinge, Wesen, ganze Orte von einer in die andere Welt geschleudert.«
Sabrina erinnerte sich, dass Falk ihr erzählt hätte, er sei auch durch einen Sturm, der das Schiff, mit dem er und seine Familie gereist waren, zum Kentern gebracht hatte, in Twos gelandet. »Dann sind es so was wie Portale?«, fragte sie, um ihre Theorie bestätigen zu lassen.
»Gefährliche, tödliche Portale, die ganze Kontinente zerfetzen könnten, ja.«
»Was wurde dagegen unternommen?«
»Die letzte grosse Weltenmigration hatte gezeigt, was für einen Schaden wir den Welten zufügten. Darum unterbanden die Herrscher Aodhan und Berfin die Migration. Portale wurden zerstört oder unerreichbar gemacht. Verschüttet, gesprengt, abgerissen, verbarrikadiert. Man liess die Völker vergessen, zu welcher Zeit sie sich geöffnet, wo sie gestanden, dass sie jemals existiert hatten, strich sie aus den Büchern und aus den Köpfen der Leute.«
Sabrina runzelte die Stirn. »Man hat also, um die Migration zu stoppen, die Portale zerstört?«
Nevis nickte. »Portale wurden zum Tabu, wie ein ungeschriebenes Gesetz. Heute sind sie Legenden.«
»Nicht alle«, widersprach ihr Sabrina.
Die Schneekönigin nickte. »Offensichtlich... Es gibt Leute, die das verhindert haben...«
»Was für Leute?«
Ihre Ohrringe klimperten. Kopfschütteln. Starrer Blick. »Der Orden und... Das tut nichts zur Sache.«
Das schien die einzige Antwort zu sein, die sie bekommen würde. Der Orden... »Okay, aber was hat das alles mit dem Lichterfresser zu tun?«
Nevis blinzelte, sah auf, erhob sich und sprach: »Eine solche Weltenkollision brachte ihn in diese Welt. Da du nicht sonderlich viel über die Historie dieser Welt weisst, wirst du kaum mit ihren Sagen und Legenden aufgewachsen sein.« Sie schritt um den Elfenbeintisch herum, vorbei an einigen Bücherregalen. Mit den Fingern strich sie über die Rücken der Folianten, beinahe zärtlich. Einen davon zog sie heraus und schleppte den wuchtigen Band unter sichtlicher Anstrengung zurück zum Tischchen.
Das Geschirr hatte sie zuvor nicht gekümmert, die Unversehrtheit des Buches schien ihr dagegen sehr am Herzen zu liegen. Der Etikette einer Königin so gar nicht entsprechend, wischte sie das Elfenbein gründlich mit dem Rock ihres Kleides sauber und platzierte erst dann das Schriftwerk darauf.
»Dies sind die Geschichten, Mythen und Legenden von Twos. Kennen tun sie nur die Belesensten. In einer Welt, die aus Pergament und Tinte gemacht ist, die selbst aus Märchen besteht, sind diese Niederschriften, was hier geschrieben steht, das, was einem Märchen am nächsten kommt«, verkündete sie feierlich, während sie sich wieder auf ihrem Sessel niederliess. »Nur zu, sieh es dir an!«
Sabrina rutschte an die Kante des Polsters und fuhr vorsichtigen über den Einband des Folianten. Es war eindeutig antik, das schwarz gefärbte Leder des Einbands war schon spröde, die Silberklappen an Ecken, Rücken und dem Schloss des Buches waren dunkel vor Silberoxyd, die Prägung blätterte ab, zu lesen war der Titel dennoch. »Tintenmärchen«, las Sabrina laut vor und berührte vorsichtig die schnörkeligen Buchstaben. Die Typografie musste der Buchbinder von der Kalligrafiekunst der Elfen abgekupfert haben. Vor einem halben Jahr hätte Sabrina das mit Sicherheit noch nicht entziffern können...
»Ein seltenes Buch. Dein Verständnis für das Wort Märchen wird Geschichte sein, doch hier gehört es zur Wirklichkeit dazu. Märchen sind real.«
»Wenn mich Twos eines gelehrt hat, dann das. Ich nehme an, dass diese „Märchen" ebenfalls mehr als Geschichten sind?«
Nevis wog den Kopf hin und her. »Ja und nein. Ein Teil davon, ja. Ein anderer Teil nicht. Es ist wie mit jedem Märchen, dem du in dieser Welt begegnet bist. Sie sind real, jedoch nicht so, wie sie in den Büchern stehen. So ist es auch mit diesen Märchen. Tatsächlich gehören sie zur Urhistorie dieser Welt. Nur was wahr ist und was Fiktion, das weiss niemand. Und seit dem Brand in Lexika wird es auch niemand mehr so schnell herausfinden können...«
»Und warum zeigst du es mir?«
»Anders als du bin ich mit diesen Geschichten aufgewachsen.« Die Usurpatorin lehnte sich vor, klappte das Buch auf und blätterte bis zum Inhaltsverzeichnis. »Die Sagen der vier Urwesen, die Legende des Weltenbaums, die Mythen der Bestimmung«, zählte sie auf, während sie mit dem langen Nagel ihres Zeigefingers die Titel nachfuhr. »Das war Stoff meiner Kind-und Jugendlektüre, Zuflucht meiner Einsamkeit. Niemand sonst kennt sich besser mit diesen ältesten aller Märchen aus als ein Kind der Herrscher.«
»Die Sagen der vier Urwesen, darauf willst du hinaus, nicht wahr?«
»Gut aufgepasst.« Nevis blätterte zu besagtem Kapitel und noch ein bisschen weiter, überflog Zeile für Zeile, bis sie die richtige Stelle fand. »Die Urwesen, erste wahre Schöpfungen der Urherrscher, ihr Dienst die Botschaft der Gezeiten über die Welt zu tragen. Blablabla... aus einem Funken geboren... Nein, das ist es nicht.... blabla... ... Aus... aus... Schatten! Hier haben wir es: Aus dem Schatten seines Schöpfers, zum Leben erweckt von dessen Atem. Eine Kreatur, die Gezeiten des Herbsts über die Welt zu tragend. Der Boden unter ihren Füssen verendete mit jedem Schritt, ihre Gegenwart war tödlich, die Elfen nannten sie Sewin, Geisterhirtin, doch dem Rest der Welt war sie nur als Herbst bekannt.«
»Sewin? Das ist aber die weibliche Form. Soll das heissen, der Lichterfresser ist...«
»Eine Fähe, ja. Ein weibliches Monster.«
»Nicht das einzige«, murmelte sie, ohne Nevis aus den Augen zu lassen.
»Derweil die anderen Urwesen während fremder Gezeiten ruhten«, las ihre Tante weiter vor, ohne auf ihren Seitenhieb einzugehen, »war der Lichterfresser schwer zu kontrollieren. Macht über ihn hatte einzig sein Herr, der seine Schöpfung aufgrund deren Ungehorsam in die Welt der ewigen Nacht sperrte.
Nun sollte das Urwesen die umhertreibenden Seelen bewachen, damit tot blieb, was bereits gestorben war.
Der Lichterfresser fügte sich der Macht seines Herrn, tat, was ihm aufgetragen war. Aus seinem düsteren Gefängnis durfte er nur, wenn es seines Dienstes, die Gezeiten des Todes über die Welt zu tragen, bedurfte.
Erst Jahre später, als ihr Schöpfer verschwand, war Sewin niemandes Knecht mehr. Und als die Welten aneinander schrammten, ihre Wirklichkeiten einrissen, konnte sie ihrem düsteren Gefängnis entkommen.
In Twos war der Bote des Herbsts lange vergessen gewesen. Doch schon bald erinnerte man sich an das Urwesen, Sewin, Lichterfresser, diese Dunkelheit, die alles verschlang, wohin die Schatten reichten und die Sonne nicht mit Licht obsiegte.

Sewin zog eine blutige Wunde durch Twos. In Gestalt eines Fuchses schlich sie sich an seine Opfer heran, um dann in schwärzeste Dunkelheit zu bersten und alles zu verschlingen.
Ihr einziger Feind war das Licht der Sonne, der herannahende Tag, denn nur die hellen Fluten des Morgengrauens konnten sie verjagen und so lange fernhalten, bis die Nacht sich das Reich zurückerobert hatte und das Monster wieder aus seinem Versteck kriechen konnte.
Jeder Twosi, jede Twosa, sie bangten bei Einbruch der Dunkelheit um ihre Leben. Selbst die damaligen Herrscher, die dritte Generation, wussten keinen Rat und wandten sich in ihrer Not an einen Coven. Sie baten die Hexen, der Welt zu helfen und jenes Monster unschädlich zu machen.« Nevis blickte auf und blinzelte sich das gelesene aus den Augen. »Das ist ein wichtiger Teil der Geschichte dieser Welt. Weisst du, was es bedeutet hat, dass sie sich an einen Coven wandten? «
Sabrina zuckte die Schultern. »Nun, es heisst, sie haben sich einen Hexenzirkel zu Hilfe gerufen.«
Ihre Tante lächelte milde und erklärte: »Zu dieser Zeit war das revolutionär. Hexerei, Zauberei, Magie war verboten. Sie war einzig den Herrschern und jenen vorbehalten, die sie als würdig erachtet hatten, es war ein Privileg. Kinder, die mit magischen Fähigkeiten geboren wurden, wurden hingerichtet. Ganz egal ob Mensch, Elf, Zwerg oder welchem Volk man sonst angehörte.«
»Indem die Herrscher sich also an den Coven wandten, widersprachen sie also ihren eigenen Gesetzen.«
»Genau. Das war der Beginn der Magierevolution. Jedenfalls für die Weisse Magie. Schwarze Magie ist erst seit der Herrschaft der Dunklen legal.«
»Mhm...«, brummte Sabrina und rümpfte die Nase. Legal...
»Der Coven liess sich in den Dienst der Herrscher stellen, unter der Bedingung, dass diese im Gegenzug das Recht auf Magie zum Recht für jeden machten und in ihrer Verzweiflung willigten die Herrscher ein.
Der Coven, der dazumal nur Freuen in seinen Reihen zuliess, machte sich ans Werk. Die Hexen brüteten über alten Schriften, erkundeten mit Zaubern und Träumen die Vergangenheit, lernten ihren Feind kennen, bis sie fanden, was sie gesucht hatten. Licht war nicht nur der Feind des Monsters. Es war auch das, wovon es sich nährte. Licht, das nicht von der Sonne kommt, verschlingt er und das, was ihn am meisten sättigt, ist das Licht eines Lebens.«
Wie das Licht meiner Eltern, dachte Sabrina, bevor sie ihre Gedanken in eine andere, weniger schmerzliche Richtung lenken konnte.
»Die Hexen des Coven brauchten beinahe ein ganzes Jahr, um aus diesem Wissen des Rätsels Lösung zu entschlüsseln und so dem Wesen eine Falle zu stellen. Sie lockten es mit dem, was es begehrte und fingen es mit dem, was es fürchtete. Bis heute ist der Lichterfresser dort gefangen und die Hexen kehren jedes Jahr an seinen Gefängnisort zurück, um dort den Zauber, der Sewin hält, mit neuer Macht zu erfüllen.« Nevis fuhr über die Seite, bis ihre Finger über den Rand glitten, das Buch schlossen und somit die alten Geschichten zum Schweigen brachten.
Sabrina schüttelte den Kopf. »Nun weiss ich mehr von dem Monster, das meine Eltern tötete, aber ich will mehr!«
Nevis nickte. »Ursprünglich war geplant gewesen, Eira und Ignatzius auf die altmodische Art zu beseitigen. Schnell und schmerzlos, auch wenn das den meisten unserer Alliierten missfallen wäre. Trotzdem war es sicherer, denn je früher sie tot wären, desto besser. Doch als die Nacht der roten Kronen von einem blutigen Morgengrauen vertrieben worden war und wir, die neuen Herrscher Twos', den Zeitpalast betraten, waren Eira und Ignatz verschwunden. Sie waren geflohen, waren rechtzeitig gewarnt worden.«
»Tobias.«
»Ich nehme es stark an, denn auch von ihm war keine Spur.« Sie seufzte und lehnte sich zurück, als würden die Erinnerungen sie erschöpfen. »Wir liessen die beiden suchen, setzten Kopfgelder auf sie aus, Berge aus Gold, Ländereien, Hände von Prinzen und Prinzessinnen... Doch schlussendlich rollten nur die Köpfe von Betrügern, denn deine Eltern fand niemand. Sie einfach ziehen zu lassen, war keine Option. Solange die Herrscher der Gezeiten nicht tot waren, war unser Sieg nichts wert.
Darum schickte der Teufel Damaris und Hedwig in die Hohlen Hügel, zum Buckel, denn dort wusste er das Gefängnis Sewins.«
Sabrina stutzte. »Wie jetzt? Er wusste einfach, wo die Hexen das Monster versteckt hatten? Wie?«
Nevis hob den Folianten von ihrem Schoss zurück auf den Couchtisch und zuckte mit den Schultern. »Er ist der Teufel. Ich habe schon lange aufgehört, mich zu fragen, woher er weiss, was er weiss. Wobei es in diesem Fall gar nicht so schwer zu erraten war, vorausgesetzt, man hält die alten Legenden für wahr. Erinnerst du dich? In der Geschichte hiess es, der Gefängnisort sei dort, wohin die Hexen jedes Jahr zurückkehren, um den Zauber, der das Monster hält, mit neuer Macht zu speisen. Die Walpurgisnacht ist das einzige Fest, dass den Weissen Hexen und Magiern so heilig ist.«
»Und die Walpurgisnacht wurde in den Hohlen Hügeln gefeiert...«
Die Dunkle nickte. »Sewin hatte lange, lange Zeit in Furcht vor dem Licht gelebt, war ihm durch den Fluch des Coven Jahrtausende nicht entkommen und wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihre Welt der Dunkelheit, die Welt der ewigen Nacht zurückzukehren. Doch wie ein böser Geist, der seine Ruhe nicht finden kann, da ihn noch etwas in dieser Welt hält, sehnte der Lichterfresser sich nach Vergeltung. Hedwig und Damaris machten sich das zu Nutzen und klärten das Urwesen auf, dass nicht die Hexen sein wahrer Feind waren, sondern die Herrscher. Und so nahm Sewin die Fährte deiner Eltern auf, jagte sie viele, viele Jahre. Und dann, vor etwa einem Jahrhundert...« Nevis räusperte sich und faltete die Hände im Schoss. »Den Rest der Geschichte kennst du«, schloss sie knapp.
Eine ganze Weile sage Sabrina nichts. Nevis liess sie, füllte die Stille nur ab und an mit leisem Rascheln, wenn sie unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutschte. Schliesslich stand Sabrina auf und erklärte ruhig, aber bestimmt: »Ich möchte wieder zurück in meine Zelle.«
Ihre Tante schüttelte den Kopf. »Noch nicht, da gibt es noch eine Sache...«
»Bitte, ich habe genug gehört, ich...«
»Setz dich! Ich habe dich nicht nur hierhergebeten, um über die Vergangenheit zu reden.«
Sie tat keinen Wank.
»Nichte, ich will dir helfen!«
Sabrina machte den Mund auf, um Nevis entgegenzuschmettern, dass ihre Hilfe ihre Eltern auch nicht vor dem Tod bewahren hatte können, doch dann besann sie sich. Sie war nicht in der Position, Hilfe abzulehnen. Um ehrlich zu sein, brauchten sie alles, was sie kriegen konnte. Darum setzte sie sich. Steif und mit Widerwillen, aber schlau genug, um blinde Sturheit nicht mit heroischem Stolz zu verwechseln.
Die Schneekönigin nickte ihr dankend zu. »Ich habe dir von den anderen Dunklen erzählt, was ihre Aufgaben waren, weshalb der Teufel sie ausgewählt hatte. Jeder von uns diente einem Zweck. Meiner wurde mir selbst aber erst vor einigen Monaten klar. Rumpelstilzchen war damals noch einer von uns, auch wenn er selten unsere Gesellschaft gesucht hatte. Eines Abends, an dem auch er unserer Sitzung beiwohnte, sprach er mich an, ob ich die alten Geschichten kennen würde. Jene Sagen der Urwesen, von denen ich dir eben die des Lichterfressers vorgelesen habe.« Sie strich über den Einband der Tintenmärchen. »Ich bejahte, natürlich kannte ich die Geschichten, doch hatte mich das Wissen um die Existenz des Lichterfressers gelehrt, diese nicht zu unterschätzen. Trotzdem fühlte es sich an, als würde ich einem Hirngespinst hinterherjagen, als der Teufel von mir verlangte, Cernunnos zu finden.«
Sabrina runzelte die Stirn. »Du hast ihn hierher gebracht?«
Ihre Tante nickte. »Er hat sich den ganzen Winter in den Zwillingswäldern versteckt. Gezeigt hat er sich nach all den Jahren nur mir. Es war so einfach, ich reiste an den Waldrand von Naïa, rief seinen Namen und da kam er auch schon aus dem Wald getrabt. Er vertraute mir, frass mir aus der Hand. Schliesslich bin ich das, was einer Eisprinzessin am nächsten kommt.«
»Deshalb ist er jetzt also so verängstigt. Du hast sein Vertrauen missbraucht!«
»Ich weiss, es mag dir respektlos vorkommen. Aber ich habe nicht die gleiche Verbindung zu ihm, wie du.«
»Unsinn, du musst es auch spüren, das spürt jeder. Cernunnos ist... heilig. Ihn so zu misshandeln, das ist ein Sakrileg!«
Die Dunkle schüttelte den Kopf. »Er ist nicht heilig. Er ist die erste Schöpfung der ersten Eisprinzessin, ein Urwesen. Ein Botschafter der Gezeiten und in Cernunnos' Fall der Botschafter der Gezeiten des Winters.«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Ich weiss nicht, was das bedeutet.«
»Okay, gehen wir es so an: Was ist ein Herrscher der Gezeiten?«
»Der rechtmässige... Herrscher über diese Welt, über Twos.«
»Nicht ganz, viel... simpler.«
»Naja, Eisprinzessin und Lichterlord.«
»Das meine ich nicht. Was... was ist die elementarste Aufgabe, die die Herrscher hatten.«
»Die... die Jahreszeiten? Winter und Sommer!«
Nevis nickte. »Exakt. Nur werden sie in Twos Gezeiten genannt, schliesslich können Sommer und Winter in dieser Welt ganze Dekaden dauern.«
»Aber was sind denn dann diese Botschafter?«
»Eine genaue Antwort kann ich dir darauf leider nicht geben, Sabrina. Ich weiss von der tatsächlichen Existenz dieser Wesen auch erst seit ich den Lichterfresser das erste Mal gesehen habe. Zuvor habe ich nur von ihnen gelesen, hielt sie aber nur für Legenden. Doch es entpuppte sich als Wahrheit. Es war nur eines der Geheimnisse, die meine Mutter und Eira vor mir hatten, eines dieser Dinge, in die sie mich nicht eingeweiht hatten. Wann immer es an der Zeit ist, trifft die Eisprinzessin ihren Boten, Cernunnos, der den Winter über die Welt tragen wird.«
»Dann hat jeder Herrscher so ein Urwesen, das seine Gezeiten über die Welt trägt? Aber als Mile den Sommer zurückgebracht hat, war da kein Wesen... jedenfalls hat er keines erwähnt.«
Die Dunkle zuckte mit den Schultern. »Schön, dass du dich dafür interessierst, Nichte, doch leider muss ich deinen Wissensdurst zügeln. Ich weiss nicht viel mehr, als ich gelesen habe und es sind zu viele Geschichten, die ich dir erzählen müsste. Dafür bleibt uns jedoch leider keine Zeit mehr.«
Sabrina seufzte und liess sich gegen die Lehne des Kanapees sinken. »Dann komm zum Punkt!«
Nevis nickte, streckte den Rücken durch und erklärte: »Die Dunklen werden dich noch heute Nacht dazu auffordern, Cernunnos zu töten.«
Sabrina liess langsam den Kopf in die Hände sinken. Wut, Angst und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu.
»Du... du musst mir jetzt zuhören, Sabrina! Sie werden es von dir verlangen und du musst gehorchen, hast du gehört? Das ist die einzige Chance, dass du und deine Gefolgsleute irgendwie aus der Sache rauskommen werden!«
»Nein!«, rief Sabrina und sprang auf. »Nie im Leben! Ich weiss nicht, warum ihr kranken Leute das von mir erwartet, warum ihr all das tut, aber ich werde euch ganz sicher nicht helfen! Und von was für einer Chance sprichst du da bitte? Niemals wird man uns gehen lassen!«
»Ich spreche von der Chance, dass man nicht all deine Freunde vor deinen Augen auf qualvolle Weise umbringen wird!«, antwortete Nevis, die auf einen solchen Ausbruch Sabrinas wohl schon gefasst gewesen war.
»Ach? Und was geschähe, würde ich euch helfen? Lieber bin ich tot, als den Rest meines Lebens in einem Kerker zu verbringen. Und warum zum Teufel bringt ihr ihn nicht einfach selbst um?«
»Das hätten wir längst, wäre uns das möglich«, antwortete Nevis mit nervtötend ruhiger Stimme. » Er ist sterblich, sein Blut ist rot, für ihn gibt es keinen Tod auf Zeit und trotzdem kann er bis in alle Ewigkeit leben. Keine Klinge von unserer Hand geführt, kein Pfeil eines von uns gespanntem Bogen, keine Kugel von uns gefeuert, nichts dringt durch die Haut dieses Wesens. Er ist die erste Schöpfung der Eisprinzessin. Nur du kannst ihn töten!«
»Aber warum? Was nützt Cernunnos euch tot?«
Nevis presste die Lippen aufeinander, bis sie nicht mehr als ein Strich waren. »Das Blut des Weissen Königs Cernunnos, des sterblichen Unsterblichen ist der Schlüssel für die Büchse der Pandora.«


~Mile~

Der Gestank von verbrennendem Fleisch hing ihm noch immer in der Nase und hinter seinen Lidern wollten die Flammen, die an den toten Körpern leckten, nicht erlöschen.
Da das Gewitter über Tempus noch immer in vollem Gange war und auch der Regen kein Ende fand, hatte man Mile gebeten, den Scheiterhaufen im Hof zu entzünden, bevor die Nacht bösen Geistern die Macht schenkte, in die toten Leiber zu fahren.
Natürlich hatte er die Bitte erfüllt... und sich damit eine schlaflose Nacht mehr eingebracht.
Er hatte in Twos schon viele schreckliche Dinge mitangesehen, aber manchmal fiel es ihm schwerer, sie zu vergessen und nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, schien er seine Schmerzensgrenze langsam überschritten zu haben...
Wieder entglitten ihm seine Gedanken und rissen an der dünnen Kruste der Wunde, in der die Klinge der Sorgen sich stetig tiefer in sein Fleisch grub. Wie sollte er in den Zeitpalast gelangen, wie sollte er die Dunklen bezwingen, wie sollte er seinem Schicksal gerecht werden, was musste er tun? Selbst die Prophezeiung hatte er sich zu Rate ins Gedächtnis gerufen, doch keine der Zeilen ergab Sinn für ihn. Die Freiheit nur Gehässig lacht, es springt ein Funke durch die Nacht, war der Teil, der auf diesen Abschnitt ihrer Bestimmung hindeutete. Der Teil mit der Freiheit beschrieb wohl seinen aktuellen Zustand, ratlos, verzweifelt, frei aber doch völlig hilflos. Aber das mit dem Funken? Ob er damit gemeint war? Es war jetzt Nacht, aber es hatte sich ihm noch immer kein Weg ergeben, wie er in den Zeitpalast kam!
»Scheisse«, zischte er ins Nichts und hustete. Er schluckte nichts, sein Mund war trocken, er hatte Durst. Draussen hatten die Rebellen Fässer und Eimer aufgestellt, um den Regen aufzufangen, da gab es Trinkwasser.
Ergeben öffnete er die Augen und setze sich auf. Sein Rücken knackste, der Boden war hart. Der Gewohnheit wegen tastete seine rechte Hand erst einmal nach seiner Waffe. Er hatte von der breiten Auswahl an Waffen des Arsenals Gebrauch gemacht und sein Chepesch gegen ein Schwert getauscht, das in Länge und Balance Kayat so ähnlich wie möglich war. Eine erstklassige Waffe und doch vermisste er Kayats rote Klinge, der in Schärfe, Leichtigkeit und Härte einfach nichts das Wasser reichen konnte. Doch die Waffe, die ihm einst König Orion überreicht hatte, lag zusammen mit all den anderen kostbaren Waffen der Xilsar irgendwo im Zeitpalast.
Er band sich das Schwert in der Scheide um die Hüfte und stand auf.
In der Schildhalle des Zeughauses war es stockdunkel. Nur ab und an erhellte ein ferner Blitz für den Bruchteil einer Sekunde den Raum und warf die harten Schatten der schlafenden Körper, wie ein weites, atmendes Meer über den Boden.
Er hatte sich am frühen Abend zusammen mit Nimmertiger, Peter, Faritales und Sero schlafen gelegt. Die meisten der Rebellen, abgesehen von jenen, die aufgrund ihrer Rasse Nachts nicht schliefen, wie beispielsweise die Vampire, oder Freiwillige, die sich bereiterklärt hatten, Wache zu schieben, hatten es ihnen gleich getan, denn alle waren in den letzten Tagen an die Grenzen ihrer Kräfte gekommen.
Lauter Donner grollte über sie hinweg und Mile dachte an Schwalbentänzer, der jetzt bei diesem Unwetter fliegen musste. Hoffentlich würde er am nächsten Morgen wohlbehalten zurückkehren...
Mit weiten Schritten stelzte er über die schlafenden Körper hinweg, nickte beim Vorbeigehen den beiden Wachen zu, die neben der Saaltür stumm Karten spielten und trat in einen Korridor. Gerade wollte er nach rechts in Richtung Treppe abdrehen, da hörte er von links eine Diele knarren, gefolgt von einem Geräusch, das klang wie... ein Kichern?
Sofort zuckte seine Hand zum Schwertgriff und verharrte dort. »Hallo?«, fragte er und späte ins Dunkel.
»Sicher nur eine Ratte«, brummte eine der Wachen in seinem Rücken.
»Eine Ratte war mitverantwortlich für Drosselbarts Tod«, antwortete Mile grimmig, entspannte seine Haltung jedoch wieder. Er drehte sich noch einmal zu den Wachen um: »Wir verstecken uns im Nest des Feindes, es ist Nacht und die gehört noch immer allem Bösen.«


~Sabrina~

»Er lebt! Bei allen Himmeln, er lebt!« Sichtlich erleichtert lehnte Red ihren dunklen Haarschopf gegen die Obsidiangitter.
»Bist du denn auch sicher, dass sie dich nicht angelogen hat?«, fragte Aschenauge skeptisch.
»Warum sollte sie?«, entgegnete Sabrina, die sich augenblicklich weigerte, an etwas anderes als Miles Überleben zu glauben.
»Um dein Vertrauen zu erlangen.«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Nein, es war anders. Ich hatte eher das Gefühl, sie wollte mich kennenlernen... und... Vergebung suchen...«
»Schwachsinn!«
»Zügle dich, Aschenauge!«, forderte Jeremy Topper. »Sabrina ist ihre Nichte. Nur weil sie eine der Dunklen ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht neugierig sein kann. Und letzteres ist gar nicht so abwegig. Nevis war schon immer das schwächste Glied der Dunklen. Sie hatte die wenigsten Anhänger und die geringste Motivation, sich gegen die Herrscher zu stellen.«
»Sie behauptet, Rumpelstilzchen hat sie dazu gezwungen, weiterhin eine der Dunklen zu bleiben. Und sie ist angeblich dafür verantwortlich, dass Damaris«, sie zögerte und warf einen unsicheren Blick in Richtung linke Zelle, »in Helios aufgetaucht ist und Tobias anwerben wollte. Sie war sich sicher, dass er ablehnen und die Herrscher warnen würde...«
»Wir wissen nicht, ob er das jemals getan hat. Schliesslich ist er einfach verschwunden«, brummte Lichterfänger kalt.
»Wir wissen auch nicht, ob das alles nur Lügen waren«, wandte Falk ein. »Was denkst denn du Sabrina, glaubst du ihr?«
Sie zuckte die Schultern und legte eine Hand auf Cernunnos Flanke, der ganz ruhig neben ihr stand und von dem frischen Heu frass, das man ihm während ihrer Abwesenheit gebracht haben musste. Henkersmalzeit. »Ich weiss nicht recht. Aber das ist erstmal sowieso egal, denn sie hat mir etwas über die Pläne der Dunklen verraten.«
»Ach ja?«, kommentierte der Herzkasper spitz. »Da bin ich ja mal gespannt.«
Sabrina holte tief Luft. »Sie wollen, dass ich Cernunnos töte.«
»Bumm«, murmelte Aschenauge.
»Was? Aber warum? Warum wollen ihn alle tot sehen?«, fragte Falk in die Runde.
»Sie meinte, sein Blut sei der Schlüssel, um die Büchse der Pandora zu öffnen und weil er angeblich die erste Schöpfung der Ur-Eisprinzessin ist, kann ihn auch nur eine Eisprinzessin auslöschen. Aber warum sollte jemand diese verfluchte Allmachtspieluhr öffnen wollen? Da drin steckt doch das Übel der gesamten Menschheit oder nicht? Ausserdem nutzen sie die Büchse ja schon, um die Barriere aufrecht zu erhalten!«
»Es sind die Dunklen«, brummte der Herzkasper düster. »Was auch immer sie sich davon erhoffen, es wird nichts Gutes sein.«
»Hat sie auch erwähnt, was geschieht, solltest du dich weigern?«, fragte Red und wandte ihr Gesicht Sabrina zu. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, als hätte sie die letzten Nächte kein Auge zugemacht. Sie war blass, wirkte richtig kränklich...
»Ja, haben sie«, antwortete Sabrina düster und strich Cernunnos, ihrem Botschafter des Winters, über das weiche Fell.
»Lass mich raten«, zischte Aschenauge. »Sie werden uns einen nach dem anderen umbringen.«
»Auf eine möglichst qualvolle Art und Weise«, bestätigte Sabrina und ihr lief ein Schauer über den Rücken. »Fuck, wir sitzen so was von knietief in der Scheisse.«
»Bis zum Hals«, brummte Federreiter.
»Wir sind schon längst untergegangen«, berichtigte Nebelfinger.
Sabrina seufzte und liess sich zu Boden sinken. »Was soll ich jetzt tun? Ich... kann Cernunnos doch nicht...«
»Du wirst ihn nicht töten!«, fiel Falk ihr ins Wort. »Du darfst sie nicht gewinnen lassen!«
»Aber dann werdet ihr alle umgebracht!«
»Wäre ja nicht das erste Mal«, antwortete der Pirat mit einem Lächeln, das viel zu ernst war.
»Hook hat recht«, meinte der Hutmacher. »Du darfst sie nicht gewinnen lassen. Das ist es nicht wert, das sind wir nicht wert. Wir sind nur ein paar arme Tropfen in einem Kerker. Aber diese Entscheidung, die wird diese ganze Welt, mehrere Welten, vielleicht sogar den ganzen Weltenbaum beeinflussen!«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Ich weiss nicht, ob ich das kann...«
»Du musst!«, schaltete Red sich wieder ein. »Und glaube mir, es wird hart. Härter, als alles, was du dir vorstellen kannst. Ich war schon einmal eine Gefangene der Dunklen und sie haben auch mich bearbeitet, haben mich gefoltert... Aber du musst dem standhalten!«
»Aber das kann ich nicht!«, rief sie. »Wie denn? Ihr seid doch meine Freunde, meine Familie. Ich liebe euch, da kann ich doch nicht einfach zusehen!« Ihr Blick heftete sich wieder auf Cernunnos und sie tastete nach dem unsichtbaren Band zwischen ihnen. »Aber ihn... Wie soll ich diesem Wesen etwas antun können. Alles in mir sträubt sich nur schon gegen den Gedanken!«
»Was auch geschehen wird«, versprach Falk, »wir werden es ihnen nicht leicht machen. Wann immer sich die Möglichkeit bieten wird, wir werden sie bekämpfen!«


~Mile~

Er hatte die Rüstung über Nacht angelassen. Das war zwar nicht sonderlich bequem, dafür sicherer, sollten sie über Nacht überfallen werden. Unter der Brust-und Rückenplatte sowie dem Kettenhemd war sein Gambeson noch immer völlig durchweicht, darum war es ihm auch egal, als frischer Regen ihm den Rücken hinablief.
Kriegsherr Regen benetzte sein Territorium mit neuen Rekruten und verkündete mit prasselndem Brüllen seinen Siegeszug.
Ohne den verkohlten Überresten des Scheiterhaufens Beachtung zu schenken, stapfte er direkt auf die überlaufenden Regenfässer zu, während er den Wachen auf der Mauer ein kurzes Handzeichen als Gruss gab.
Er tunkte die Hände in das klare Wasser, hob es zum Mund und stillte seinen Durst.
»Nebelfinger sagt immer, man soll nicht so schnell trinken, da verschluckt man sich sonst!«
Mile hustete, wirbelte herum, rutschte auf dem schlammigen Boden aus und landete auf dem Hintern.
»Buh!«, flüsterte Mondkind und hielt sich ihre Laterne so unters Gesicht, dass scharfe Schatten ihr Gesicht verzerrten.
Mile hustete sich das restliche Wasser aus der Luftröhre. »Was zum Teufel... W-was tust du denn hier?!«
Seine Cousine gluckste und senkte die Laterne wieder. »Ich spiele im Schatten, einem Funken gleich.«
»Sehe ich«, murmelte Mile und winkte die Kleine zu sich, um sie in den Arm zu nehmen und hochzuheben, »und du erklärst mir gleich mal, warum, aber jetzt gehen wir erst einmal rein, du bist ja auch schon ganz durchnässt.«
Mondkind kicherte, was verdächtig wie das Kichern klang, das er eben auf dem Flur gehört hatte. »Macht nichts, wir müssen sowieso gleich weiter.«
»Kommt nicht in Frage, du solltest gar nicht hier sein!«
»
Ich helfe dir den Weg hinein, denn dein Schicksal ist auch mein.«
Mile blieb stehen und blinzelte auf Mondkind hinab, die seinen Blick aus klaren Amethysten erwiderte. Ein unkontrolliertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »In den Zeitpalast?«
Sie nickte. »Für was hat man Träume?«
»Dann bist du der Funke?«
Mondkind nickte. »Weisst du doch! Papa hat mich immer so genannt!«
»A-aber warum hilfst du mir... uns erst jetzt?«
»Wann denn dann? Das Schicksal muss nun einmal seinen Lauf nehmen, so wie es bestimmt ist. Alles, was geschehen musste, ist geschehen.«
Mile schüttelte den Kopf. »Nein, warte, aber das geht doch gar nicht. Ich bin kein Traumwandler, dafür brauchen wir doch Jeremys Spezialtee!«
Seine Cousine verdrehte die Augen. »Den brauchst du nur, wenn du in meinen Kopf willst. Das hier wird eine normale Traumreise. Falk ist ja auch kein Träumer und Sabrina hat ihn trotzdem mit sich nehmen können.«
»Dann dürfen wir keine Zeit verlieren, Sabrina und die anderen sind mit Sicherheit irgendwo in den Kerkern und erleiden...«
Mondkind liess ihn nicht ausreden. Sie streckte sich, legte ihm die kleinen Hände auf die Augen und mit einem Mal war Kriegsherr Regen verstummt...


------------------------

Hyru liebe Leser,

Ich weiss, ich weiss, es hat ganz schön lange gedauert, aber I'm bäck und lasse das Schicksal seinen Lauf nehmen.
Das war ein Kapitel, das zu Schreiben eeeeecht gedauert hat, weil ich so viele Dinge bedenken musste und und und... Es ist nicht enorm viel passiert, war wieder ein Info-Überbrückungskapitel, dafür wird das nächste (das hoffentlich bald kommt) richtig fett episch!
Lasst mir bitte ein Feedback, Gedanken, Visionen, Theorien oder eine Beschreibung eurer Lieblingssocken da! Sehr interessieren würde mich übrigens, was ihr von Nevis haltet. Wie schätzt ihr sie ein?
Die Sache mit Eril und Arillis war vermutlich auch ein ziemlicher Hammer. Was sind eure Gedanken darüber?

Für die besonders Spitzfinden unter euch, ja, ich habe den Lichterfresser auch noch abgeändert. Ihr habt vielleicht in ‚Die Lügen der Grimm' mal was von diesem Wesen gelesen, aber dat hab isch gelöscht. :3
Ausserdem habe ich auch den Prolog noch etwas aufgemotzt. Einfach weil ich Bock hatte. Also nur so btw^^

So und jetzt ändere ich endlich überall die Namen von Ignatz und Eira und den Familiennamen und die Namen von Hedwig und Damaris und den Göttern und pfffft...
Gleich danach hocke ich mich an Kapitel 75, da kribbelt es mir schon in den Fingern nach. Ausserdem bin ich krank und da ist Schreiben halt immer der beste Zeitvertreib ;P
Stellt 'ne Packung Taschentücher bereit, packt eure Herzen in Luftpolsterfolie ein, denn ansonsten werden sie zu brechen drohen...

Soundtrack des Kapitels:
Hollow Tune Brick + Mortar

Gehabt euch wohl,
Eure Dreamy

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