Plötzlich Indianer - Eine Zei...

By Booky_2017

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Die siebzehnjährige Marie hatte sich so sehr auf die Kursfahrt mit ihrem Englisch-Leistungskurs gefreut, der... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kaptel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog

Zugabe

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By Booky_2017

Annas Hand, die das Telefon hielt, sank herunter. Mit glasigen Augen starrte sie auf ihren Schreibtisch mit den Stapeln von Papieren und sah doch nichts. Der Computerbildschirm flimmerte — oder war das ihre Sicht? Alles wirkte verschwommen, unscharf. Die Stimme von Frau Bühner, der Englischlehrerin ihrer Tochter, am anderen Ende der Leitung klang noch immer in ihrem Ohr nach.

„... haben eine Suchexpedition gestartet, die aber noch keine Spuren ergeben hat. Außer dem Handy ihrer Tochter haben wir nichts gefunden. Es tut mir so leid."

Marie sollte verschwunden sein? Einfach so verschollen, in irgendeiner Höhle in Amerika? Anna merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie verschränkte die Finger fest miteinander, um sie unter Kontrolle zu bringen, und zwang sich, einen klaren Kopf zu bewahren. Was tun?

Sie musste ihren Mann anrufen, um ihm die Hiobsbotschaft zu überbringen. Auch wenn sie nicht mehr viel miteinander sprachen, seit die Scheidung feststand und er ausgezogen war ... das würde sie ihm sagen müssen. Ganz automatisch wählten ihre Finger die Nummer und hoben das Telefon wieder an ihr Ohr.

„Hallo, Michael", sagte sie heiser.

„Anna? Kann ich dich später zurückrufen? Es passt gerade nicht gut." Seine Stimme klang harsch, abweisend. Im Hintergrund hörte sie ein leises Summen. Vermutlich saß er gerade im Auto, wieder einmal auf dem Weg zu irgendeinem Meeting.

„Es geht um ... Marie", hörte sie sich selbst sagen. „Ich habe einen Anruf von ihrer Lehrerin bekommen. Es ist ... etwas passiert." Ihre Stimme brach und sie musste kurz schlucken, um ihre Fassung zu bewahren. Ihr Mann schwieg; sie spürte beinahe seine Spannung.

Und dann erzählte sie ihm stockend, was sie gerade erfahren hatte, und es war, als würde das Geschehene erst dadurch Wirklichkeit werden und zu ihr durchdringen. „Was sollen wir tun?", fragte sie, als sie geendet hatte. Ihre Stimme war nur noch ein Wimmern und sie verabscheute sich dafür.

„Bleib ganz ruhig", erwiderte Michael fest. In Krisensituationen bewahrte er immer einen kühlen Kopf. Dafür hatte sie ihn einst geliebt. „Sie suchen doch nach ihr, hast du gesagt. Bestimmt finden sie sie bald und alles findet ein gutes Ende."

„Und was, wenn nicht?", flüsterte Anna in den Hörer.

Michael zögerte einen Moment. „Ich komme zu euch ... Sag Max nichts davon. Er muss sich nicht unnötig Sorgen machen."

„In Ordnung", hauchte sie und legte auf.

Und dann bahnten sich die Tränen doch ihren Weg. Sie legte den Kopf in ihre Hände und schluchzte jämmerlich, dankbar, dass sie sich ihr Home Office mit niemandem teilen musste.

Am Abend herrschte eine seltsame Stimmung am Tisch. Anna hatte Nudeln mit Bolognesesoße gekocht, Max' Lieblingsgericht, doch er wollte heute kaum etwas davon essen. Er ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte, wenn sein Vater freiwillig mit ihnen zu Abend aß und es dabei nicht einmal Streit gab. Michael und Anna schwiegen oder antworteten nur einsilbig auf seine Fragen. Wann immer das Telefon klingelte, sprang Anna auf und rannte mit ihrem Handy aus dem Raum, damit Max nichts hörte, falls ...

Doch es waren nur eine Bekannte und ihr Chef von der Agentur, die sie rasch wieder abwimmelte. Sie konnte sich jetzt weder mit Arbeit befassen, noch ihrer Freundin zuhören, die von ihren kleinen, unwichtigen Problemchen erzählte.

„Was ist denn los, Mama?", bohrte Max, als sie wieder in die Küche kam.

„Nichts, ist schon gut. Ich ..." Sie suchte nach einer guten Erklärung.

Ein Klingeln an der Tür ersparte ihr eine weitere Ausflucht.

Michael und sie wechselten einen Blick. Wer konnte das sein? Die Polizei? Aber nein, hier in Deutschland hatten sie doch nichts damit zu tun. Trotzdem waren Annas Knie weich, als sie zur Tür ging, und sie war sogar froh über Michaels Begleitung.

„Hallo, Frau Stetter?", grüßte der Mann, nachdem sie geöffnet hatte. Er trug die Uniform eines Postbote und hielt ihr einen recht großen, dicken Brief entgegen.

Anna starrte darauf, während sie überlegte, warum die Post um diese Zeit ausgeliefert wurde. Sonst kam sie doch immer vormittags. Hatte das etwas zu bedeuten? Und hatte der Brief nicht einen amerikanischen Poststempel?

Der Briefträger fragte erneut nach ihrem Namen und Michael antwortete. „Ja, wir sind Stetter." Er schob sich an ihr vorbei und nahm den Brief entgegen.

„Ich bräuchte dafür eine Unterschrift", sagte der Briefträger und tippte etwas auf seinem Monitor ein. Michael unterschrieb und verabschiedete den Mann, dann schloss er die Tür. Er drehte den Brief in seiner Hand und sah auf den Absender.

„Hm, Brown&Brown, Legal and Notary Services, Omaha, Nebraska. Ein Notar? Keine Ahnung, was die von uns wollen."

„Vielleicht ein Irrtum", meinte Anna, doch auf dem Etikett stand eindeutig ihre Adresse.

Michael zuckte mit den Schultern und nahm den Brieföffner vom Garderobenschrank. Ein Ratschen von Papier, dann schaute er in den Umschlag und stutzte. Anna drängte sich neben ihn.

„Was ist das?", fragte Max, der hinter ihnen im Flur stand.

„Ich weiß es nicht, Schatz", sagte Anna zerstreut. Ihr Blick haftete auf dem Inhalt, den Michael jetzt aus dem Umschlag zog. Es war ein weiterer, quadratischer Umschlag aus dickem, vergilbtem Papier, der mit einer Paketschnur umwickelt war. Er war mit einem altmodischen Siegel ausgestattet, in das zwei ineinander verschlungene „B"s eingelassen waren — vermutlich stand das für „Brown&Brown". Und dann entdeckte sie, in kaum noch lesbarer Tinte, erneut ihre Adresse ... Annas Herz stockte. Diese Handschrift kannte sie doch. Das geschwungene große S, die Art, wie die beiden kleinen Ts in ihrem Namen miteinander verschmolzen ...

„Das ist doch Maries Handschrift", stieß sie hervor.

Michael runzelte die Stirn. „Glaubst du? Es steht kein Absender darauf."

„Mach es auf", drängte sie ihn und hätte ihm den Umschlag am liebsten aus der Hand gerissen. Doch ihre eigenen Finger zitterten zu sehr, als dass sie diese Paketschnur aufbekommen hätte.

Michael widmete sich dem Knoten mit frustrierender Gelassenheit. Mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs Annas Unruhe und sie war drauf und dran, eine Schere aus der Küche zu holen, als es ihm endlich gelang. Er zog die raue Schnur ab und ließ sie beiseite fallen.

Jetzt hielt Anna es nicht mehr aus. Sie griff nach dem Umschlag, riss das Papier über dem Siegel vorsichtig auf und schlug die Klappe nach oben. Ihr Mund war trocken, als sie einen gefalteten Bogen Papier daraus hervorzog. Es wirkte ebenso alt wie der Umschlag selbst. Als sie es auffaltete, fiel etwas auf den Boden. Max war schneller als sie und Michael. Er tauchte zwischen ihre Beine und hob das Objekt auf, das Anna nur als Foto erkannt hatte.

Als er darauf blickte, wandelte sich seine Miene von Überraschung zu Freude und dann zu Verwirrung. „Hey, das ist ja Marie. Mann, wieso hat sie mir nicht gesagt, dass sie zu den Indianern geht, wenn sie in Amerika ist? Das ist ja voll fies."

„Was?", fragten Anna und Michael gleichzeitig.

„Na, hier." Max zeiget ihnen das Foto.

Ein Schwarz-Weiß-Bild, schon leicht verblasst, sodass der Kontrast langsam verloren ging. Dennoch erkannte sie das Motiv. Das war Marie! Wirklich und wahrhaftig. Aber wie war sie denn angezogen? Wie eine Indianerfrau. Und sie stand vor einem dieser Zelte, wie hießen sie noch: Tipis? Neben ihr ein junger, gut aussehender Mann mit langen schwarzen Haaren, ebenfalls in Indianerkluft. Während er ernst schaute, lächelte Marie leicht und wirkte zufrieden ... ja, glücklich.

„Was zum ...?", sagte Michael.

Annas Herz raste, als sie sich wieder dem Papierbogen zuwandte, und richtig, es handelte sich um einen Brief, der mit Maries Handschrift bedeckt war. Sie hatte sich offensichtlich Mühe gegeben, gleichmäßig und leserlich zu schreiben, doch hier und da waren Tintenflecken zu sehen, als hätte sie eine altmodische Feder genutzt. Anna begann zu lesen.

Liebe Mama, lieber Papa, lieber Max,

wenn ihr diesen Brief erhaltet (hoffentlich geht alles gut, immerhin muss er einige Jahrzehnte überdauern und später zur richtigen Zeit über den Teich geschickt werden), wisst ihr sicher schon von meinem Verschwinden in den Black Hills.

Als Erstes möchte ich euch versichern, dass es mir gutgeht, wirklich! Ihr braucht keine Angst um mich zu haben, auch wenn das, was ich euch gleich erzählen werde, sicherlich schwer zu glauben sein wird. Und da es keine leichte Art gibt, es zu sagen, tue ich es jetzt sofort und ohne Umschweife: Ich bin in die Vergangenheit gereist. Genauer gesagt ins Jahr 1864. Es ist passiert, als ich in der Höhle in den Black Hills eine Kristallformation angefasst habe. Plötzlich wurde ich ohnmächtig und bin draußen im Wald während eines Gewitters wieder aufgewacht, ohne zu wissen, wo ich war. Ein Indianer hat mich gefunden und zu seinem Dorf gebracht, in dem ich jetzt wohne, als eine von ihnen.

Ich weiß, wie das für euch klingen muss. Ich würde es ja selbst nicht glauben können, wenn ich es nicht erlebt hätte. Aber das Foto ist mein Beweis. Schaut mal auf das Datum auf der Rückseite. Das hat ein Fotograf aufgenommen, der ein Jahr nach meiner Ankunft in unser Dorf kam. Neben mir steht Ohitika, mein Mann. Ja, ich habe geheiratet, aber bitte krieg jetzt keinen Kollaps, Mama. Hier ist alles anders und auch ich habe mich verändert.

Ich habe leider keinen Platz, um alles aufzuschreiben, was mir passiert ist. Ich wollte euch nur mitteilen, dass ihr euch keine Sorgen machen müsst. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, zurückzukommen, hätte ich sie ergriffen. Aber Ohitika und ich haben die Höhle später erkundet und die Stelle mit den Kristallen war von einem unterirdischen Fluss versperrt. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in die Gegenwart kommen kann.

Für einen Moment habe ich überlegt, ob ich diesen Brief nicht einige Wochen eher an euch ausliefern lassen soll, um mich davor zu bewahren, überhaupt auf diese Reise zu gehen. Doch das würde bedeuten, dass ich Ohitika nie kennenlernen würde, und all meine Freunde vom Stamm der Lakota. So sehr ich euch auch vermisse, euch und all meine Freunde in der Gegenwart, ich liebe Ohitika. Ich kann und will ihn nicht verlassen, besonders angesichts von allem, was noch vor uns liegt ... Bitte sagt Sarah, dass ich sie total vermisse und unendlich froh bin, dass sie meine Freundin war ... und hoffentlich noch immer ist. Ich wünsche ihr alles Gute. Und ich wünsche mir, dass ihr auch glücklich werdet. Ich hab euch lieb ... dich auch, Max, auch wenn du mich manchmal genervt hast (und sei mir nicht böse, dass ich jetzt bei den Indianern lebe, wo du selbst immer so gern sein wolltest).

Ich weiß nicht, ob euch meine Zeilen ein wenig trösten konnten, aber ich hoffe es so sehr. Ich bin glücklich hier.

Alles Liebe,

Eure Marie!

PS: Ja, die Idee für den Brief durch die Zeit ist aus „Zurück in die Zukunft" :-) Wer hätte gedacht, dass mir mein Lieblingsfilm noch mal nützlich werden würde ...

Anna schwindelte und sie ließ den Brief sinken. 1864? War das alles ein schlechter Scherz, den ihre Tochter sich mit ihr erlaubte?

„Was ist, was steht da drin?", fragte Max und blickte mit großen Augen von ihr zum seinem Vater.

„Wir müssen diesen Brief der Polizei in Amerika zeigen. Vielleicht wird sie von diesen Leuten festgehalten und erpresst", stammelte Anna, ohne ihren Sohn zu beachten..

Michael sagte nichts. Er drehte das Foto um und tatsächlich, dort war in schwarzer Tinte das Datum aufgeschrieben, der 4.8. 1865. Doch das sagte nichts, überhaupt nichts.

„Du glaubst doch nicht, dass das stimmt?", fragte sie ihn. Gerade er, der immer alles logisch und rational anging, konnte das doch nicht für bare Münze nehmen!

Michael seufzte. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber jetzt haben wir immerhin einen Anhaltspunkt, einen Hinweis, dem wir nachgehen können. Und wir werden ihm nachgehen, das verspreche ich dir."

Er sah sie an und zum ersten Mal seit Langem lag wieder so etwas wie Zuneigung in seinem Blick, nicht mehr die kalte Distanziertheit wie meist in den letzten Monaten. Oder war es Mitleid? Sie merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Michael zog sie in seine Arme. Das hatte er schon ewig nicht mehr getan. Sie fühlte sich gegen ihren Willen geborgen. Anna lehnte den Kopf an seine Schulter und schluchzte.

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Da einige von euch wissen wollten, was in der Gegenwart passiert ist, nachdem Marie in die Zeit zurückgereist ist, habe ich dieses kleine Zusatzkapitel geschrieben. Ich hoffe, es gefällt euch.

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