Ella - Die Stille nach dem St...

By sibelcaffrey

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"Du kannst versuchen es zu leugnen, dich zu widersetzen und mich von dir fern zu halten. Ich werde aber nicht... More

Prolog
1. In der Zeit gefangen
2. Der Herr des Hauses
3. Retterin in der Not
4. Die neue Krankenschwester
5. Tatsächlich Zigeunerin?
6. Schlaflose Nacht
7. Gebrochen - Teil 1
8. Gebrochen - Teil 2
9. Der leise Held
11. Nass im Regen
12. Der Brief an die Öffentlichkeit
13. Der Verehrer
14. Mi Casa Es Su Casa - Teil 1
15. Mi Casa Es Su Casa - Teil 2
16. Erschwerungen
17. Im Mondschein
18. Rendez-vous mit dem guten Freund
19. provokative Provokation
20. Nathan Kurt
21. Der Kampf - Teil 1
22. Der Kampf - Teil 2
23. Heimweh Teil 1
24. Heimweh Teil 2
25. Wie Du mir, so ich Dir
26. Neues kommt, Altes geht
27. Unerwartete Gäste
28. Du und ich
29. Alles findet seinen Platz
30. Wettlauf gegen die Zeit
31. Alles oder Nichts
32. Schicksal
33. Das Erwachen
34. Prinzipien, welche?
35. Die Zeit rückt näher
36. Liebe, der Zeit zum Trotz
37. Blick in die Zukunft (ENDE)
Epilog
FORTSETZUNG

10. Der Ball

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By sibelcaffrey

Es vergingen die Tage, ohne dass ich die Gelegenheit bekam das Haus zu verlassen. Erst als ich wieder zum Arbeiten ins Krankenhaus ging, konnte ich raus.

Ich hatte den Brief mitgenommen und trug ihn im Korsett, um zu vermeiden, dass er mir versehentlich aus der Tasche fiel und ihn jemand entdeckte.

Das wäre nämlich fatal gewesen. Dieser Brief war wie eine Bombe. Wenn jemand erfuhr, dass ich meine eigene Meinung auf Papier gebracht hatte und vor hatte ihn sogar zu veröffentlichen... tja, dann würde die Bombe hochgehen und ich wäre die Einzige, die dabei draufgehen würde.

Aber diese Angst sollte mich nicht aufhalten.

Also erfüllte ich den ersten Teil meines Plans, indem ich mehr Frauen davon überzeugte, dass wir mehr verdient hatten. Ich erzählte meine Meinung fast beiläufig - sowohl den anderen Krankenschwestern, als auch meinen Patientinnen.

Bedauerlicherweise stimmten mir nicht mal die Hälfte zu.

Die jüngste Krankenschwester war Juli und sie war mit Abstand am naivsten und leicht zu beeinflussen, aufgrund ihres jungen Alters. Ich stellte schnell fest, wie einfach sie zu überzeugen war. Selbst wenn sie zunächst eine Meinung hatte, änderte sie sie sofort wieder, wenn jemand anders dachte. Daher konnte ich ihr die Idee von der Emanzipation in Ruhe einreden, bis sie derselben Meinung war.

An einem vollen Tag im Krankenhaus, ergriff ich meine Chance noch mehr Leute zu überzeugen. Ich nahm Juli mit mir und ging in die große Halle, wo die Leute - bei denen es nichts akutes gab - auf Stühlen warteten, bis sie an der Reihe waren von den Ärzten behandelt zu werden.

Ich sah in die Runde und bemerkte einen Mann mit einem ausgekugeltem Arm. Er hielt ihn sich schmerzverzerrt fest und schien kaum noch länger warten zu können.

Normalerweise rief man einen Arzt für solche Fälle. Und mir war klar, dass sich hier niemand von einer Frau behandeln lassen wollte. Man hätte uns nicht ernst genommen. Man hätte uns das nicht zugetraut.

Aber das wollte ich ändern. Es gab keinen Grund, warum das nicht auch eine Frau machen könnte. Wir waren genauso in der Lage die medizinische Lehre zu studieren, durchzuführen und Doktor zu werden.

„Wir brauchen keinen Mann um das zu erledigen.", sagte ich entschlossen und bat den Mann aufzustehen. Ich nahm seinen Stuhl und platzierte ihn in die Mitte der Halle, so dass uns so viele wie möglich sehen konnte.

Ich spürte die neugierigen Blicke aller auf uns.

„Setzen Sie sich.", bat ich und zeigte auf den Stuhl.

Er hatte schlimme Schmerzen, aber schaffte es dennoch mich mit großen Augen völlig verängstigt anzusehen. „Sind Sie sicher, Fräulein? Wollen Sie nicht lieber einen Arzt rufen?"

Ich drückte den Patienten wortlos seitlich auf den Stuhl. Ich gab ihm einen Blick, den ich von Mr Kurt nur allzu gut kannte und der keine Widerworte erlaubte. Der Patient hielt den Mund.

Die anderen Schwestern schienen nicht begeistert von meinem Vorhaben, aber ich ignorierte die Blicke und das Gemurmel.

„Komm, Juli", sagte ich über meine Schulter, „Und lern etwas dazu."

Juli eilte an meine Seite, aber Großschwester Helene kam dazwischen. „Wag es ja nicht! Du weißt doch gar nicht, wie man den Arm wieder einrenkt. Außerdem würde deine Kraft nicht reichen. Wir holen besser Doktor Thomas oder Richard."

Sie wusste nicht, dass sie mich mit ihrer lächerlichen Aussage nur noch mehr anspornte. Ich merkte, wie die Augen der anderen Patienten und Krankenschwestern auf uns lagen.

„Lektion Nummer eins:", sagte ich an Juli gewandt, aber laut genug, dass es jeder hören konnte,  „man braucht keine Kraft aufzuwenden, um einen Arm einzurenken."

Ich positionierte den ausgerenkten Arm über die Stuhllehne.

„Lektion Nummer zwei: Der Schmerz des Patienten entsteht, weil der Oberarmknochen - genannt Humerus - gegen den Schulterknochen drückt, aber nicht hineingleiten kann."

„Lässt du das gefälligst sein!", zischte Helene und packte mich am Arm, „Du wirst noch größere Schaden anrichten."

Ich riss mich los. „Lektion Nummer drei.", fuhr ich ungehindert fort, „Man bringt den Oberarm in einen 45° Winkel zum Körper." Ich tat, wie ich erklärt hatte.

„Lektion Nummer vier: Man muss am Arm ziehen und nicht drücken, denn sonst würde man noch größere Schaden anrichten." Ich sah mit einem vielsagenden Blick zu Helene rüber, die bereits rot überkochte vor Wut.

Ich zog langsam am Arm und ließ ihn dann vorsichtig wieder zurück, wobei er völlig von alleine in seine ursprüngliche Position glitt.*

Der Patient keuchte auf.

„Der Schmerz ist weg.", sagte er überrascht.

Es herrschte kurz Stille.

Dann brach ein lauter Applaus aus und erfüllte den ganzen Saal. Stolz sah ich mich um. Die Leute schienen völlig überrascht, dass es doch wirklich geklappt hatte. Am Türrahmen zu einem Behandlungsraum sah ich Dr. Thomas, der ebenso applaudierte - er war nicht sauer. Stattdessen nickte er mir zuversichtlich zu. Als hätte er nichts anderes von mir erwartet und wusste, dass ich das hinkriegen würde. Als wäre er stolz wie ein Vater.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht unterdrücken. „Ich hoffe, du hast alles mitgeschrieben, Juli."

An diesem Tag hatte ich viele Bewunderer gewonnen. Ich hoffte einfach, dass es jedem zeigte, dass auch Frauen in der Lage waren Männerarbeit zu erledigen.

Als meine Schichtende näher kam, begab ich mich in die Umkleide und zog mich um, da ich geplant hatte noch zur Druckerei zu gehen.

Allerdings wurde mir ein Strich durch die Rechnung gemacht, da der liebe Schmidt überpünktlich war. Leider hätte ich ihn auch nicht bitten können wieder zu gehen, denn seine Angst vor Mr Kurt war zu groß, als dass er mich alleine nach Hause gehen lassen würde. Und da ich nicht mit Schmidt gemeinsam zur Druckerei gehen konnte - weil das genauso auch mein Todesurteil gewesen wäre - ließ ich mich von ihm zum Anwesen bringen.

Dort angekommen herrschte völliges Durcheinander.

Hilde mit einem halbgeschminktem Gesicht in der Küche und fragte verzweifelt nach ihrer Brosche. Mathilda lief hin und her und trug Tücher mit sich. Von Rosalie war keine Spur.

„Was ist denn los?", fragte ich verwirrt.

„Heute Abend ist doch der Ball", erinnerte mich Marie, die gerade dabei gewesen war sich die Haare zu toupieren.

„Der ist doch erst am Freitag.", warf ich verwirrt ein.

„Heute ist Freitag, du Dummerchen.", lachte sie auf und schüttelte nur den Kopf.

Oh.

Ups.

Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, wie die Tage verflogen sind - so verbissen war ich in meinen Plan gewesen.

„Ziehst du dich gefälligst um, Mädchen!", schimpfte Mathilda beim Vorbeigehen.

„Ich wollte nur schnell kurz mal wohin. Ich bin auch sofort wieder zurück.", warf ich verzweifelt ein, aber sie warf mir einen strengen Blick zu.

„Nichts da! Wir sind knapp in der Zeit! Los jetzt."

Ich seufzte resigniert. „Ich habe mein Kleid nicht. Du wolltest es doch verbessern.", erinnerte ich sie an den merkwürdigen Bommel am Kleid

Sie hielt in der Bewegung inne. „Ah ja! Das habe ich bereits erledigt. Komm mit."

Ich folgte ihr auf ihr Zimmer. Sie ließ die Tücher in ihren Händen auf das Bett fallen und machte den Schrank auf.

Sie nahm das dunkelviolette Kleid heraus und zeigte es mir. Sie hatte den hässlichen Bommel entfernt. Ohne war das Kleid kaum wieder zu erkennen. Es war schlicht und unauffällig. Es gefiel mir.

„Bist du dir sicher, dass du es so haben willst?", fragte Mathilda skeptisch.

Ich nickte und nahm ihr das Kleid ab. Der Stoff war weich unter meinen Fingern.

„Dann sieh zu, dass du dich fertig machst!", sagte sie plötzlich mit neuem Elan. „Der Hausherr will nicht warten müssen. Er mag das nämlich ganz und gar nicht."

Ich verdrehte die Augen. Das wunderte mich nicht. Zeit war ja Geld - und das war sicher nichts, was Mr Kurt sich nehmen lassen würde.

Ich ging also auf mein Zimmer und legte das Kleid auf dem Bett ab, um mich auszuziehen. Ich nahm auch den Brief aus dem Korsett, da ich ihn für den Abend nicht brauchen würde, und versteckte ihn wieder unter der Matratze.

Ich zog das Kleid über, aber anders als die Alltagskleider, musste dieses mit Schnüren festgezogen werden. Daher rief ich an der Tür Marie zur Hilfe. Sie kam mit ihren hochtoupierten Haaren herbei und zog mit schnellen Griffen die Schnüre fest.

Ich betrachtete mich im Spiegel; Das Kleid schmeichelte mir. Es war nicht zu eng und ließ mir Freiraum zum Atmen. Vor allem verschleierte er meinen großen Hintern.

Nein, mein Hintern war nicht groß!

Er war nur größer als der Durchschnitt, versuchte ich mich selbst aufzumuntern. Und der Durchschnitt war halt zu klein.

„Die Farbe bringt deine Augen zur Geltung.", meinte Marie und riss mich aus meinen depressiven Gedanken.

„Damit wirst du aber nicht auffallen können.", warnte sie mich ernst und zeigte auf mein Kleid.

Ich nickte zufrieden. „Das hoffe ich auch."

Marie sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank und verließ mich mit einem „Wie du meinst."

Dann machte ich mich an meine Haare. Auch hier hielt ich es schlicht. Ich flocht mir die vorderen Strähnen nach hinten. Da Haargummis noch nicht erfunden wurden, entschied ich mich sie hinten mit einer Klammer hochzustecken, so dass meine Haare halboffen waren und mir in Wellen über die Schulter fallen konnten. Ich trug keinen Schmuck und trug mir auch nichts auf das Gesicht auf.

Selbst wenn ich gekonnt wäre mit Make-up, würde ich mir nichts aus dem 19. Jahrhundert ins Gesicht schmieren, das sie als Make-up verkauften.

Ich trat aus dem Zimmer und war die erste, die fertig war - und das obwohl ich die letzte war, die angefangen hatte.

Also aß ich noch etwas, da ich seit dem Frühstück nichts mehr im Magen hatte.

Mitten beim Essen stürmte Mathilda rein; In einem beigen Kleid mit - wen wundert's? - Tüll und vielen, kleinen Perlen am Saum. „Wir müssen los! Die Kutschen stehen draußen!"

„Ich brauche noch 5 Minuten!", rief Hilde panisch aus ihrem Zimmer.

„Nichts da, junge Dame! Du kommst jetzt sofort her!", erwiderte Mathilda und lief wieder raus - wahrscheinlich um ihr zu helfen.

Rosalie kam seelenruhig in die Küche, wobei ich mich beim Kauen fast verschluckt hätte. Sie war atemberaubend schön. Das blaue Kleid schmiegte sich perfekt an ihren schlanken, langen Körper.

Ich sah auf mein Essen hinab und legte die Gabel beiseite. Irgendwie hatte ich doch nicht mehr so großen Hunger.

Ihre Haare hatte sie zu einem komplizierten Dutt hochgesteckt. Sie hatte sich Rouge und Lippenstift aufgetragen. Sie würdigte mir keinen Blick, als sie durch die Küche ging und aus der Hintertür wieder hinaustrat.

Als ich meinen Teller auswusch, kam Peter in seinem Anzug herein und setzte sich ermüdet auf einen Stuhl. Er hatte im Grunde am wenigsten zu tun gehabt, aber schien am erschöpftesten.

Kurze Zeit später eilte Mathilda mit Hilde und Marie jeweils an einer Hand haltend in die Küche. „Wir wären dann soweit. Los, jetzt! Der Hausherr sitzt schon in der Kutsche."

Wir gingen gemeinsam raus.

Vor dem Tor standen zwei Kutschen. Mathilda drängte uns in die hintere, wo Rosalie bereits wartete.

Dass ich das mal klarstellte; Der verehrte Mr Kurt saß alleine in der anderen Kutsche, während wir uns zu sechst in diesen quetschen mussten.

Du kannst dir vorstellen, dass die Fahrt dementsprechend unbequem war. Rosalies Ellenbogen stieß mir immer in die Rippe, wenn die Kutsche über ein Schlagloch fuhr - und im 19. Jahrhundert gab es unglaublich viele von denen, bemerkte ich an diesem Abend.

Als wir ankamen, atmete ich erleichtert auf.

Der Kutcher machte die Tür auf und half jedem von uns auszusteigen.

Augenblicklich drang Musik aus der Ferne in mein Ohr.

Ich sah auf das Haus. Es war nicht viel ansehnlicher als das Anwesen von Mr Kurt, aber es war um einiges größer.

Apropos Mr Kurt. Von ihm war keine Spur. Natürlich war er sich zu schade zum Warten gewesen und war sofort reingegangen, sobald seine Kutsche angehalten hatte.

„Genießt diesen Abend heute.", sagte Mathilda an uns alle gewandt, „Das wird womöglich die einzige Gelegenheit in eurem Leben sein, an dem ihr mit gehobenen Gästen festlich begehen werdet."

Die Augen der Mädchen strahlten. Man sah ihnen an, wie sehr sie sich freuten eine solche Möglichkeit geboten zu bekommen. Wie es schien, waren sie vorher noch nie auf einem Ball.

Ein Butler stand am Tor und verbeugte sich hochachtungsvoll vor uns, als wir näher traten. Wir erwiderten die Begrüßung und ließen uns von ihm zum Hinterhof führen, wo sich der atemberaubend große Wintergarten befand. Als wir eintraten, wurden wir von lauter Musik, Gelächter und Wärme empfangen. Ein weiterer Butler kam uns entgegen und nahm uns die Mäntel ab. Ich nahm mir die Gelegenheit und sah mich um. Die großen Fenster ließen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hinein, welche den ganzen Raum in einen goldenen Ton tauchten. Es waren unglaublich viele Menschen da, die tranken, lachten und tanzten. Einer sah schicker aus, als der andere. Einer sah wichtiger aus, als der andere.

Der Butler wies uns einen freien Tisch zu und bot uns verschiedene Getränke an.

Die Mädchen schienen völlig verblüfft und erstaunt. Sie genossen die Aufmerksamkeit, die sie bekamen.

Als ein neues Lied begann, hakte sich Mathilda lachend bei Peter ein und zog ihn mit sich auf die Tanzfläche. Wir jubelten ihnen zu und applaudierten.

Es dauerte auch nicht mehr lang, bis Rosalie von einem ansehnlichen Mann zum Tanzen gebeten wurde. Sie ließ sich nicht zwei Mal bitten und ergriff die Hand des Herren, bevor sie in der Menge verschwand.

Marie und Hilde begannen die bekannten Personen aufzuzählen, die sie sahen, und diskutierten deren Stil in Kleidung.

Ich blickte über die Menge und fand nach langem Suchen Mr Kurt am anderen Ende des Raums mit drei weiteren Herren. Er unterhielt sich mit ihnen, während er allerdings keine Zeichen von Entspannung oder Spaß zeigte. Wie er gesagt hatte, sah er diesen Ball nur als geschäftliche Tätigkeit. Er lockerte seinen harten Ausdruck keine Sekunde und schien sich auch nicht ablenken zu lassen.

Mir fiel auf, dass die umstehenden Damen sich immer wieder zu ihm umdrehten und kicherten. Ich spürte ein Kribbeln in meinen Fingern und nahm meinen Blick von den Frauen.

Vermutlich lachten sie ihn nur aus. Er war immerhin eine Witzfigur!

Oder sie fanden ihn attraktiv und gutaussehend.

Gutaussehend?

Ha!

Wohl kaum!

Mr Kurt war doch nicht gutaussehend...

Ich merkte kaum, wie ich über meine Schulter hinweg zurück zu ihm sah.

Okay, er war ein kleines bisschen gutaussehend.

Aber nur ein kleines bisschen!

Ich drehte mich abrupt wieder um. Was dachte ich da?!

Reiß dich zusammen, Ella!

Gab's hier kein verdammtes Alkohol?

„Entschuldigung.", rief ich den nächstbesten Butler mit einem Tablett voll Getränke herbei, „Haben Sie vielleicht Champagner oder etwas ähnliches?"

Der Mann sah mich mit großen Augen an. „Sie wollen das doch nicht für sich selbst, Miss?"

Ich runzelte die Stirn. „Natürlich. Für wen sonst?"

„Aber, Miss, das kann ich nicht machen..."

Ich seufzte. „Lassen Sie mich raten, es gehört sich nicht als Fräulein Alkohol zu trinken, nicht wahr?"

Er nickte perplex.

Ich biss die Zähne zusammen. „Na gut.", zischte ich, „Dann zieh Leine!"

Ich drehte mich um, aber merkte, dass er nicht gegangen war. Fragend hob ich eine Augenbraue.

„An welcher Leine soll ich ziehen, Miss?", fragte er steinrunzelnd.

Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. „Das heißt, Sie dürfen jetzt gehen.", erklärte ich genervt.

Er nickte verwirrt und trat weg.

Als ich mich wieder zu Mr Kurt umdrehte, war er nicht mehr da. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und suchte den Raum ab, aber er war nirgends aufzufinden.

Ich zuckte die Achseln.
Konnte mir doch egal sein, wo er sich rumtrieb.

Eine halbe Stunde verging damit, dass ich mir Maries und Hildes Klatsch und Tratsch anhören musste, als ich plötzlich ein Räuspern neben mir hörte. Überrascht sah ich auf.

Ein junger Mann - vielleicht in meinem Alter - in einem perfekt sitzenden Anzug und kindlich hellen Locken lächelte mich schüchtern an. Ich sah ihn fragend an.

„Guten Abend, Fräulein. Ich sehe Sie bereits seit einer ganzen Weile hier alleine stehen und dachte mir, ich geselle mich zu Ihnen."

War das ein Versuch zu flirten? Sowas gab's im 19. Jahrhundert?

„Ich bin nicht allein. Wie Sie sehen, bin ich mit meinen Freunden hier.", erwiderte ich und zeigte auf Marie und Hilde.

Der junge Mann sah verlegen zu Boden. „Das habe ich so nicht gemeint. Entschuldigen Sie, falls ich Sie beleidigt haben sollte."

„Nein, so schnell kann man mich nicht beleidigen.", versicherte ich mit erhobenem Kinn.

Er nickte erleichtert und schien meine Worte als Aufforderung zu sehen. „Mein Name ist Robert. Robert Arthur Wendt. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?"

Ich sah hilfesuchend zu Marie und Hilde rüber. Diese verstanden meinen Blick aber völlig falsch  und nickten, bevor sie sich diskret entfernten.

Nein! Bleibt hier!, flehte ich stumm, aber die dummen Nüsse verstanden natürlich nichts und waren fort, noch ehe ich was sagen konnte.

Ich wandte mich mit einem gezwungenem Lächeln wieder zu Robert.

„Gertrud.", log ich schließlich, „Ich heiße Gertrud von..." Ich sah an ihm hinab, „Pfützenreiter."

„Fräulein von Pfützenreiter.", sagte er völlig ernst, wobei mir ein Grunzen entwich, „Darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?"

Ehe ich zu einer Ablehnung den Mund öffnen konnte, spannte sich der junge Robert abrupt an und sah auf etwas, das hinter mir lag.

Noch ehe ich mich umdrehte, fühlte ich die kalte Aura, die uns plötzlich umgab.

Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper.

Ich sah langsam zu Mr Kurt, der mit den Händen in der Hosentasche hinter mir stand. „Sir?"

Er ignorierte mich und lächelte den jungen Mann an. Ich erstarrte. Mr Kurt lächelte - und man hatte ihn nicht gefoltert oder mit einer Waffe gedroht. Er lächelte wahrhaftig aus freien Stücken.

Es machte mir Angst.

Ich sah zu Robert, dem es nicht anders erging.

Lauf!, schrie ich stumm mit meinen Augen, rette dich solange du kannst, du Narr!

„Ich muss Sie enttäuschen, Sir. Aber die junge Dame hatte Ihren ersten Tanz mir versprochen.", sagte Mr Kurt seelenruhig, ohne dass das Lächeln von seinen Lippen wich.

Huh?

Hatte ich?

Was ging hier vor?

Ich sah Mr Kurt an. War er der echte? Hatte man Mr Kurt entführt und ihn mit einer billigen Kopie ersetzt? Das musste es sein. Anders konnte ich mir das nicht erklären.

„Oh.", machte Robert, „Das wusste ich nicht. Entschuldigen Sie vielmals." Er verbeugte sich und verschwand schnell in der Menge, als hinge sein Leben davon ab - was vermutlich auch so war.

Ich drehte mich zu Mr Kurt um, dem das Lächeln wieder vergangen war und der altbekannte emotionslose Ausdruck in seinem Gesicht erschien.

Dann packte er mich ohne Vorwarnung am Ellenbogen und zog mich mit sich.

„Hey!" Ich versuchte meinen Arm zu befreien, aber er ließ nicht los.

Überrascht stellte ich fest, dass er mich auf die Tanzfläche zerrte. Ich war völlig neben der Spur, als wir mitten zwischen den tanzenden Leuten standen. Ich sah zu ihm auf, kurz bevor er seine Hand in meine legte. „Fall jetzt nicht auf.", warnte er mich mit ernstem Ton, seine Augen dunkel und ausdruckslos.

Er zog mich zu sich und legte mir einen Arm um die Taille.

Viel mehr aus Reflex, als aus Verstand, legte ich ihm meine freie Hand auf die Schulter. Ich hielt den Atem an, aber spürte seinen auf meiner Stirn. Ich wusste erst nicht, was ich tun sollte und war überfordert mit der Situation. Als er anfing uns im Takt der Musik zu führen, lag ich wie eine leblose Leiche in seinen Armen.

Er konnte wirklich gut tanzen, aber das hinderte mich und meine Tollpatschigkeit nicht davon ab ihm ständig auf die Füße zu treten.

Aber er sagte nichts.

Ich blinzelte zu ihm auf. Er sah mich nicht an, sondern blickte durch die Menge - völlig konzentriert.

Ich versuchte mein bestes, das Gefühl seiner harten Muskeln unter meinen Fingern und seine große Hand um meine kleine zu ignorieren. Aber es fiel mir schrecklich schwer.

„Was ist denn los?", traute ich mich nach einer Weile zu fragen - vor allem, um mich abzulenken.

Er antwortete nicht, wich meinem Blick aus und sah weiterhin durch die Menge, als würde er etwas suchen.

„Sir, geht es Ihnen gut?", versuchte ich es erneut, „Sie verschwenden grad Zeit und Energie fürs Tanzen und verdienen dabei kein Geld."

„Du musst gehen.", sagte er plötzlich völlig ernst.

Ich runzelte die Stirn. „Was?"

„Du sollst diesen Ort verlassen."

„Ich verstehe nicht ganz.", gab ich zu.

„Was gibt es da nicht zu verstehen?", zischte er, wobei ein Muskel an seinem Kiefer zuckte.

„Wir sind doch erst gekommen.", warf ich ein, „Wieso soll ich sofort wieder gehen?"

Genervt sah er zu mir hinab. „Hörst du endlich auf, ständig Fragen zu stellen und tust einfach das, was man dir sagt."

„Nein.", erwiderte ich und hob trotzig mein Kinn, „Nein, das kann ich nicht."

„Das habe ich schon gemerkt.", knirschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Wenn Ihnen das nicht gefällt, kann ich gerne mit dem jungen Mann tanzen, den Sie verscheucht haben."

Sein Griff um meine Taille wurde fester - aber lockerte sich blitzschnell wieder.

Als wäre es nie wirklich passiert.

„Dazu wird es nicht kommen.", sagte er und blickte wieder durch die Menge, „Du wirst nämlich diesen Ball verlassen."

„Und wo soll ich bitte hin, Sir?"

„Natürlich zum Anwesen zurück."

„Alleine?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Er wusste doch, was beim letzten Mal passiert war. Er sah wieder zu mir hinab. Sein Kiefer war angespannt, als hätte er denselben Gedanken.

„Nein.", antwortete er schließlich ernst, „Kevin würde dir Gesellschaft leisten."

„Kevin?" Wer sollte das sein?

„Mr Schmidt."

Oh!

Ich hatte völlig vergessen, dass er auch einen Vornamen hatte.

„Habe ich das richtig verstanden? Statt hier zu bleiben und Spaß zu haben, sollte ich also freiwillig mit Schmidt zum Anwesen zurückkehren? Eine schlimmere Strafe konnte Ihnen wohl nicht einfallen, Sir."

Mr Kurt seufzte. „Er soll nur zum Schutz da sein. Du sollst nicht mit ihm Bingo spielen."

„Bei allem Respekt, Sir, Schmidt ist nur ein Strich in der Landschaft. Wenn es zu einem Überfall kommt, müsste ich ihn retten und nicht anders herum."

Sein Griff um meine Hand wurde fester. „Du kannst hier aber nicht bleiben. Daher bleibt dir keine andere Wahl."

„Wollen Sie mir nicht einfach verraten, warum ich so dringend verschwinden soll?"

Er nahm seinen Blick von der Menge und richtete ihn wieder auf mich. In seinen dunklen Augen änderte sich plötzlich etwas. Sie waren kalt gewesen, jetzt aber vermischte sich noch etwas anderes hinein, das ich nur schwer deuten konnte.

„Er ist hier.", hörte ich ihn über den Lärm und die Musik hinweg sagen. Ich blinzelte einen Moment verständnislos.

Mr Kurt sah mir zu, während ich seine Worte verarbeitete.

Er zeigte mit einem Nicken auf die andere Seite des Raums. Ich sah hinüber, woraufhin sich mein ganzer Körper anspannte.

Lieutenant Leonor.

Er stand quer gegenüber von uns und unterhielt sich mit einer jungen Dame. Mein Herzschlag beschleunigte sich sofort bei seinem Anblick. Auch wenn er noch Wunden im Gesicht aufwies, schien er völlig entspannt.

„Gerate jetzt nicht in Panik.", flüsterte mir Mr Kurt zu, „Das letzte, was wir brauchen, ist es, dass du zusammenbrichst und dich in eine Ecke verkriechst oder in Ohnmacht fällst."

Ich nahm meinen Blick von dem Offizier und sah stirnrunzelnd zu Mr Kurt. „Weil ich sowas auch tun würde.", sagte ich spöttisch und versuchte mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

„Würde mich nicht wundern, wenn du gleich anfängst zu weinen.", sagte er trocken.

„Wie bitte?!", fragte ich fassungslos.

„Hilflose, schwache Frauen tuen viel, wenn sie verzweifelt sind.", erwiderte er unbeirrt.

„Hilflos und schwach?", stieß ich hervor und geriet vor Wut außer mir. „Ist das hilflos genug für Sie?" Ich trat ihm kräftig auf den Fuß, woraufhin er sich einen schmerzerfülltes Keuchen unterdrückte. Sein Kiefer war zum Zerreißen angespannt und er sah mich aus Feuer spuckenden Augen an. Er ließ sich nichts weiter anmerken. Ich hob trotzig das Kinn.

„Gut, wenn du meinst, dass du keine von diesen Frauen bist, dann wirst du wohl zu sehen, dass du hier gleich verschwindest.", brachte er hervor, nachdem er sich weitestgehend gefasst hatte.

Ich sah forschend in seine Augen. „Sie haben das absichtlich gemacht!", merkte ich entsetzt.

„Was?"

„Mich geärgert, damit ich meine Angst vergesse!"

Er war einen Moment völlig still.

„Hat es funktioniert?"

„Ja.", knurrte ich verbittert, „Sie elender, dreckiger, nerviger -."

„Mit Schmeicheleien kommst du bei mir nicht weit, Fräulein.", unterbrach er trocken.

Ich versuchte mich aus seinen Armen zu lösen. „Lassen Sie mich los."

„Ich habe gesagt, du sollst nicht auffallen.", knurrte er und hielt mich fest, „Du kannst gehen, wenn der nächste Tanz beginnt."

Ich presste die Lippen zusammen und wich seinem Blick aus. Ich war zwar nach wie vor angespannt, aber eindeutig ruhiger. Die Tatsache, dass der Lieutenant hier war, hatte mich zugegebenermaßen erschreckt - und ich wusste nicht, was ich getan hätte, wenn Mr Kurt mich nicht auf seine merkwürdige Art und Weise beruhigt hätte. Ich starrte auf Mr Kurts Brust, als mir ein Gedanke kam.

„Müssten Sie nicht auch von hier verschwinden, Sir?", fragte ich, „Wenn er Sie sieht, wird es doch sicher ungemütlich." Das Bild von Lieutenant Leonor, wie er nur in Unterwäsche am Baum gefesselt war, erschien vor meinem geistigen Auge.

„Nein. Ich bin einer der einflussreichsten Männer dieser Stadt. Ich lasse mir von einem einfachen Offizier nichts sagen.", antwortete er, „Außerdem habe ich noch einige geschäftliche Gespräche zu führen, die ich mir seinetwegen sicher nicht entgehen lassen würde."

Ich nickte benommen und presstedie Lippen zusammen.

Mr Kurt führte uns geschmeidig durch die Tanzfläche - und ich trat ihm auch viel weniger auf die Füße - als die Musik schließlich langsam zum Ende kam. Ich schluckte schwer und sah ihm nicht in die Augen. Die Menschen um uns herum begannen sich aufzulösen.

„Du kannst jetzt gehen. Wieso bist du noch hier?", hauchte er.

Weil ich mich nicht von diesen Händen lösen kann, dachte ich mir. Er machte auch keine Anstalten mich loszulassen.

Sei nicht schwach, Ella! Beweg deinen fetten Arsch hier raus, bevor dich das Monster sieht!

Ich sah ein letztes Mal in Mr Kurts tiefen, dunklen Augen, ehe ich einen Schritt zurück machte und mich von ihm löste.

Da war dieser Moment wieder; Wir sahen uns wortlos in die Augen. Es schien so simpel - und doch war es viel mehr. Mein Herz pochte mir wie wild gegen die Brust.

Bekam ich ein Herzinfarkt? Das waren doch klare Zeichen eines Klammerflimmerns.

Mit dem letzten Fünkchen Verstand, das ich besaß, zwang ich meine Füße sich zu bewegen und Mr Kurt hinter mir zu lassen. Ich lief mit eiligen Schritten in Richtung Ausgang. Dabei war ich so konzentriert auf den direkten Weg hinaus, dass ich nicht merkte, wie sich in letzter Sekunde jemand vor mich stellte und ich mit der Person zusammenprallte.

„Oh, Entschuldigung.", murmelte ich reflexartig und sah auf.


*~*~*~*~*~*~*~*~*

Huhuuuuu!

*versteckt sich hinter dem Bildschirm und kichert*

Entschuldige den Cliffhanger!

Als Entschädigung gab es heute ein extra langes Kapitel. Und beim nächsten werden die Fetzen fliegen - so viel kann ich verraten.

Ab heute uploade ich nur noch Montags und/oder Donnerstags. Also einmal pro Woche auf jeden Fall, aber zwei Mal die Woche schaffe ich nur, wenn wieder weniger los ist.

Ich hoffe auf dein Verständnis.

*knickst damenhaft zum Abschied*

Bis zum nächsten Mal!

Deine Miss Caffrey.


* Bitte nicht zu Hause nachmachen! Es gibt verschieden Arten von ausgerenkten Schultern, deshalb gibt es auch verschiedene Manöver den Arm wieder einzulenken. Ruft für solche Fälle lieber einen Notarzt! (Ella ist natürlich ein Profi und hat mit einem Blick erkannt, was für eine Art von Manöver sie bei dem Patienten anwenden musste, aber solange DU kein Arzt bist, tu das bitte nicht.)

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