Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer

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By MaraPaulie




Kapitel 48

Das Versprechen von niemals und immer


~Mile~

Das Feuer wärmte seine kalten Hände. Jedes Mal, wenn ein Regentropfen in eine der goldenen Flammenzungen fiel, zischte es leise und das Wasser verdampfte.
Verdammter Regen!
Mile war mittlerweile so durchnässt, dass ein Windhauch genügte und er am ganzen Körper fror. Doch Mile hatte ja sein Feuer, das ihn wärmte.
Er erreichte eine Kreuzung. An den Häusern konnte er sich nicht orientieren, denn die sahen alle gleich aus. Steinern, verlassen und nass. Er hätte auch nach dem Turm des Tempels Ausschau halten können, da dieser ja der Mittelpunkt der Stadt war, doch auch das war nicht möglich, denn dieser wurde von den anderen riesigen Gebäuden verdeckt.
Das Fazit war also: Er hatte sich verirrt! Schonwieder!
»Links oder rechts? Links oder rechts?«, brummte Mile ratlos. Er entschloss sich rein intuitiv für links. Drei Schritte später wurde er jedoch schon aufgehalten und zwar von einer Stimme.
»Das ist die falsche Richtung, Mylord!«
Mile blickte sich suchend um.
»Wer spricht da?«
»Nur ein Junge«, antwortete die Stimme. Sie klang jung. Beinahe kindlich. Mondkind? Nein. Diese Stimme war eindeutig männlich, noch vor dem Stimmbruch.
Mile spitzte die Ohren. Sein übernatürliches Gehör erlaubte ihm, den Sprecher zu orten. Irgendwo hinter ihm auf der rechten Seite. Vermutlich hinter einer Hausecke...
So drehte Mile sich um und starrte zu besagtem Versteck. Nun, ein Versteck war es nun nicht mehr, denn der geheimnisvolle Unbekannte stand bereits sichtbar auf der Strasse.
Peter Pan.
Mile hatte bisher nicht mehr als zwei Worte mit dem Jungen aus dem Nimmerland gewechselt. Er hatte schlicht andere Prioritäten und zu wenig Zeit gehabt. Doch nun stand er vor ihm. Peter Pan. Der Held seiner Kindheit.
Er hatte sich den Jungen, der niemals erwachsen wird, anders vorgestellt. Vielleicht etwas grösser, die Kleider wie in den Filmen aus grünem Stoff oder aus Blättern. Dieser Peter trug stinknormale Kleider. So stinknormal, wie sie in der Märchenwelt sein konnten. Ein weisses Leinenhemd, eine kurze, braune Lederhose und ein dunkler Ledergürtel, an dem einige Messer, Dolche und Säckchen hingen. Schuhe besass er keine.
Das Gesicht des Jungen hatte etwas Freches, Intelligentes aber auch Trauriges und Verlorenes. Seine braunen Augen glitzernden genauso frech und ein wenig überheblich. Sein Haar war orangenrot und verstrubbelt, als hätte er an diesem Morgen versäumt, sich zu kämmen.
»Verfolgst du mich?«, fragte Mile amüsiert.
Peter schwebte durch die Luft um mit Mile auf gleicher Höhe zu sein. Auge in Auge sahen sie sich nun gegenüber.
»Ich habe dich Beobachtet, Lichterlord. Du hast dich tapfer geschlagen. Um ehrlich zu sein, ich beneide dich sogar ein wenig«, murmelte der Junge und lächelte freudlos.
Mile war verwirrt. Wieso hatte Peter ihn beobachtet? Wieso sollte er ihn... beneiden?
Er machte bereits den Mund auf, um Antworten zu bekommen, legte Peter bereits los.
»Bevor du fragst, junger Herrscher, lass mich erklären. Komm, ich zeige dir den Weg zurück und du hörst mir zu...«
Also nickte Mile und ging hinter der Märchenfigur her, die vorausschwebte.
»Wusstest du, dass Falk mein Adoptivbruder ist?«, meinte Peter. Er hing nun in der Luft, die Beine zum Schneidersitz gefaltet. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und liess sich den Regen ins Gesicht prasseln.
»Nein, das wusste ich nicht«, gab Mile überrascht zu. »Ich dachte, ihr beide wärt Erzfeinde.«
»Ausnahmsweise stimmt, was du in den Büchern deiner Welt gelesen hast. Captain Hook und ich sind Feinde, doch früher waren wir Brüder. Unsere Eltern waren beide verwitwet. Als sie heirateten brachte meine Mutter meine grosse Schwester Arielle und mich in die Ehe. Unser neuer Stiefvater war der leibliche Vater von Falk. Als Kinder haben wir uns sehr gut verstanden. Hook war der grosse Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte. Mit meiner Schwester hatte ich nie viel anfangen können. Ich hatte sie geliebt, doch sie war nun mal ein Mädchen gewesen. Falk hingegen war sehr interessiert an Arielle. Er verliebte sich in seine Adoptivschwester.«
Peters Stimme war ein Spiegel seiner Emotionen. Immer wenn er von Arielle, seiner grossen Schwester sprach, war sie erfüllt von Trauer und Schmerz, doch bei Hook bebte sie nur so vor Wut und Abscheu.
Alleine daran konnte Mile erraten, dass Peter Pans Märchen kein Happy End hatte und er sollte Recht behalten.
Peters Geschichte war unglaublich tragisch und traurig. Wenn Hook doch nur anders gehandelt hätte! Er hätte Medusa aufhalten, Arielle vor ihrem schrecklichen Schicksal bewahren können! Doch stattdessen war der Pirat in seinem Selbstmitleid ertrunken und hatte Arielle nicht geholfen.
»Du siehst«, murmelte Peter, nachdem er Mile alles erzählt hatte, »du bist nicht der einzige, der diesen Piraten loswerden will. Ich habe Hook bis heute nicht verzeihen können. Er hat Arielle nicht geholfen. Für mich ist und bleibt er ein Mörder. Hassen kann ich ihn nicht. Jedenfalls nicht mehr. Trotzdem ist er für mich kein Bruder mehr. Als ich heute sah, wie du, Mile, ihm das Handwerk gelegt hast... Zum ersten Mal fühlte ich so etwas wie Befriedigung. Falk hat seine erste grosse Liebe, eine seiner Hände, ja, vermutlich auch einen Teil seiner selbst verloren. All das macht den Verlust meiner Schwester nicht wieder gut. Doch heute, heute hat Falk noch viel mehr verloren. Die Person, die er liebt. Auch das bringt Arielle nicht wieder zurück, doch trotzdem mildert es meinen Schmerz. Es heisst ja, Rache sei der falsche weg. Trotzdem fühlt es sich unglaublich gut an!«
Rache.
Mile schluckte.
Das war nicht der Peter Pan, den er aus den Büchern zu kennen geglaubt hatte. Dieser Peter war kaputt. Zerbrochen an dem Verlust seiner Schwester, der mit dem n Bruders einherging. Die Rache hatte ihn zerfressen wie ein hässlicher Käfer den Stamm eines Baumes.
Peter Pan, der schwebende Junge war ein Racheengel...
»Du glaubst Hook also? Du glaubst ihm, dass er Sabrina liebt? Was macht dich dabei so sicher?«, hakte Mile nach. Er selbst hatte mittlerweile eingesehen, dass der Pirat Gefühle für seine Schwester hegte. Wieso hätte der Pirat sich bei ihrem Duell sonst so verhalten sollen? Trotzdem wollte er es nun aus Peters Mund hören.
Der Junge liess sich mit seiner Antwort Zeit. Schliesslich sagte er: »Seit Arielle tot ist, hat Hook nie wieder geliebt. Ich weiss das, weil ich immer ein Auge auf ihn hatte. All die Jahre habe ich ihn immer wieder aufgesucht. Er war mein Ventil um all meine Trauer, Angst, Wut, Hass und den Schmerz loszuwerden. Ich hatte nicht anders gekonnt, als ihn zu verfolgen. Und in all dieser Zeit habe ich ihn niemals mit einem Mädchen gesehen. Es hatte immer wieder irgendwelche Kneipenhuren gegeben, doch keine hatte er geliebt. Für einen Piraten mag das nun nicht wunderlich sein, doch selbst der einsamste Seemann verliebt sich ab und an. Doch Falk hatte seit Arielle niemanden geliebt. Ich denke, er hatte sich selbst die Schuld an ihrem Tod gegeben und darum hatte er sich selbst damit bestraft, niemanden lieben zu können. Doch dann tauchte deine Schwester auf. Sabrina. Als ich Falk dann mit ihr gesehen habe, ich hielt es für einen Traum...«
Peter drehte sich zu ihm um und brummte: »Verstehst du, was ich meine? Mit Sabrina hat Falk einen neuen Lebenssinn entdeckt. Und nun hast du ihn fort geschickt. Wie auch immer du das geschafft hast, du hast ihm damit alles genommen!«
Miles Mund war ganz trocken geworden. Er versuchte zu schlucken, doch das einzige was er schaffte, war ein Kratzen in seinem Hals.
Er hatte Hook alles genommen.
Die Wut, die er zuvor auf den Piraten gehabt hatte, schwand. All die Gründe, die er gehabt hatte, um den Captain hassen zu können, wirkten auf einmal schrecklich unwichtig.
Er hatte Hook alles genommen.
Gut, der Pirat war ohne Zweifel ein Monster und Mörder gewesen, doch nun war da noch etwas anderes. Liebe. Der Pirat liebte seine Schwester. Und Sabrina? Erwiderte sie diese Gefühle?
All die schrecklichen Gräueltaten, die Hook veranstaltet hatte... Durfte man dem Bösen verbieten, zu lieben? Durfte man einem Monster alles nehmen?
Einmal Monster, immer Monster.
War es möglich, sich zu verändern? Konnte ein Pirat zum Held werden?
Vielleicht war die Welt nicht wirklich schwarz und weiss. Vielleicht gab es hier und da graue Flecken. Vielleicht gab es zwischen Gut und Böse noch etwas anderes. Von beidem etwas. Gut und Schlecht. Wann wird schwarz zu weiss, wann Feuer zu Eis?
Doch nun war es zu späht. Der Pirat war gegangen und daran würde auch Mile nichts mehr ändern können. Bestimmt war es auch besser so. Ja, ganz bestimmt! Er hatte die richtige Entscheidung gefällt!
Mile blickte auf, um sich bei dem Jungen zu bedanken.
»Peter, ich...«
Doch Peter war weg.
»Peter?«
Keine Antwort...
Anscheinend hatte sich der Junge, der niemals erwachsen wird, heimlich aus dem Staub gemacht.
Fluchend drehte Mile sich im Kreis und blinzelte durch den Regen.
Er stand mitten auf der Strasse. Links und rechts standen die Häuser dicht an dicht nebeneinander. Einige kaputte Fässer und deren Einzelteile lagen auf dem Pflasterstein verstreut.
Dies konnte eine von tausend Strassen Aramesias, doch irgendwie kam Mile dieser Ort bekannt vor... Er und Hook mussten, als sie auf der Suche nach einem Duellier-Platz gewesen waren, diese Strasse überquert haben...
Auf einmal vernahm er hinter sich Schritte. Gleich darauf rief eine erstaunte Stimme seinen Namen.
Au Backe!
Langsam drehte er sich um...


~Sabrina~

»Mile?«
Das konnte doch nicht wahr sein! Dieser verdammte Vollidiot!
Sabrina konnte es kaum fassen. Da stand ihr Bruder wie ein begossener Pudel mitten auf der Strasse vor ihnen. Einfach so!
»Hey Leute...«, rief Mile unsicher und lächelte gespielt fröhlich.
Sabrina schüttelte den Kopf und sah dann zu Red. Die Rote starrte Mile genauso perplex an, wie sie es zuvor getan hatte. Also tat sie es ihr gleich und stierte wieder ihren Bruder an, der gerade auf sie zugeeilt kam.
»Oh, Sabrina! Himmel, bin ich froh, dass es dir gut geht! Ich habe mir so schreckliche Sorgen gemacht! Was ist bloss...«
Weiter kam er nicht, denn Sabrina unterbrach ihn, indem sie ihn anbrüllte, wie eine latent aggressive Furie mit Migräne.
»Halt bloss dein verdammtes Maul du endbescheuerte Evolutionsbremse von Bruder!«
Ohne nach links oder rechts zu sehen stapfte sie auf Mile zu. So wütend wie jetzt war sie nicht mehr gewesen, seit Kim ihr in der zweiten Klasse eine Ratte in den Turnbeutel gesteckt hatte. Nun gut, genau genommen war es keine Ratte, sondern der Hamster Ferdinand, das Klassenmaskottchen, gewesen. Trotzdem war das echt eine riesen Sauerei gewesen, denn am Ende des Tages waren ihre Turnklamotten voller Hamsterkot und den Überresten von Ferdinand gewesen. Ja, Überreste, denn Ferdinand hatte diese Reise in ihrem Turnbeutel leider nicht überlebt.
»Ich glaub, es hackt! Mile! Ich wache auf und im nächsten Moment darf ich durch halb Aramesia rennen, nur weil mein Bruder, die Oberpissnelke, es nicht ertragen kann, wenn ich mal einen Kerl habe! Du wolltest dich mit Falk duellieren? Was zum Teufel ist los mit dir? Hast du dir dein eigenes Hirn zu Staub verbrannt oder was? Was wäre, wenn jemand verletzt worden wäre?«
Mile glotzte sie aus grossen, grünen Augen an. Er klappte den Mund auf und wieder zu. Beinahe sah er aus wie ein Fisch.
Red trat neben sie und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Beruhige dich, bevor du hier noch einen Blizzard auslöst!«
Sabrina versuchte sich zu entspannen. Tatsächlich hatte sie alle Regentropfen in einem Radius von zwei Metern um sie herum, zu Hagelkörnern werden lassen. Fasziniert liess sie ihren Blick über die glitzernden Eisperlen schweifen.
Faritales, der sich bisher dezent zurückgehalten hatte, gab nun auch seinen Senf dazu. Lautstark plärre er los: »Da haste deinen Bro ja echt zusammengesäckelt! Schau mal, wie der guckt! Als hätte ihm jemand das Gehirn aus dem Schädel geprügelt! Apropos geprügelt... Wo ist der Piratenheini eigentlich?«
Das Herz blieb ihr beinahe stehen. Ihr wurde gleichzeitig heiss und kalt.
Falk!
Sabrina sah zu ihrem Bruder auf. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, doch sie brachte nur ein Krächzen heraus.
»Wo ist er? Wo ist Falk?«
»Sabrina... Es ist besser so, vertrau mir!«
»Was hast du mit ihm gemacht?«
Okay, nun war ihre Stimme wieder da.
»Junge! Nicht so laut! Da fallen einem ja die Ohren ab!«, protestierte Faritales und presste sich beide Pranken auf die Ohren.
»Mile, wo ist der Pirat?«, half Red und starrte ihren Gefährten durchdringend an.
»Er tut dir nicht gut. Hook ist ein Monster! Du kannst ihm nicht vertrauen. Er hat dich nicht verdient.«
Himmel, das war ihr alles so egal! Sie wollte nur wissen, wo er war.
»Mile, ich schwöre bei allem was ich habe, wenn du mir nicht sofort sagst, wo Falk ist, dann werde ich dir das nie, niemals verzeihen!«
Er zögerte. Das sah sie ihm an.
»Mile! Bitte! Wie konnten wir uns nur so weit voneinander entfernen? Ich verstehe nicht, wie du mir das antun konntest!«
»Ich will dir doch nichts Böses! Ich war überzeugt... Ich dachte, ich müsste dich vor ihm schützen!«
»Das musst du nicht. Wirklich! Er ist alles, was ich will. Bitte...«
Vermutlich waren es die Tränen, die ihr nun in die Augen stiegen. Vielleicht war sich Mile aber auch selbst nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hatte.
Vielleicht, vielleicht...
Jedenfalls beugte sich ihr grosser Bruder zu ihr hinab. Er nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest an sich.
»Sabrina... Es tut mir so Leid... Ich... ich weiss auch nicht, was in mich gefahren ist... Ich glaube, ich war so... eifersüchtig... Keine Ahnung. Ich bin noch immer der Meinung, dass dieser Pirat nicht der Richtige für dich ist, aber diese Entscheidung musst du treffen.«
Sabrina war steif wie ein Brett. Sie konnte Mile nicht umarmen. Nicht nach alle dem, was er angerichtet hatte. An diesem Chaos war er schuld!
»Wo ist Falk?«, zischte sie ein letztes Mal.
»Ich weiss es nicht sicher. Ich denke, er ging Richtung See. Ich... ich denke, ich habe ihn dazu gebracht, zu gehen. Vermutlich ist er auf dem Weg zu seinem Schiff...«
»Zu... zu gehen?«
»Du musst schnell laufen. Schnell! Bevor er sein Schiff erreicht hat! Schnell, Sabrina!«
Sie riss sich von ihm los. Panisch drehte sie sich im Kreis.
Falk!
»Wie soll ich das schaffen? Nein! Nein! Mile! Wie konntest... Er darf nicht...«
Vollkommen ausser sich begann sie zu rennen. Orientierungslos und blind vor Panik.
»Da geht es nicht lang!«, rief ihr jemand nach. Vermutlich war es Red...
Irgendetwas riss sie von den Füssen und hob sie hoch. Der andere Körper war stark und warm. Der Geruch kam ihr sehr bekannt vor.
»Mile! Lass mich runter!«, schrie sie ihren Bruder an und zappelte wild drauf los.
»Was hast du vor?«, rief Red und sah besorgt zu Sabrina, die keifend und tobend in den Armen ihres Bruders hing.
Mile lächelte verschmitzt. »Wir besuchen einen alten Freund.«


~Mile~

Die Ställe zu finden war nicht schwer. Man musste nur der Spur aus Pferdeäpfeln folgen, die in regelmässigen Abständen von zehn bis zwanzig Metern auf dem Pflasterstein verstreut lagen. Nicht einmal der Regen konnte den Mist wegspülen.
Als sie ihr Ziel schliesslich erreicht hatten, schien auch Sabrina klar geworden zu sein, was Mile vorhatte.
»Denkst du wirklich, wenn ich reite werde ich ihn noch einholen können?«, murmelte sie kleinlaut.
Mile stellte sie auf ihre Füsse und nahm sie bei der Hand.
»Wer hat etwas von Pferden gesagt«, meinte Mile und zog seine kleine Schwester mit sich.
Die Ställe Aramesias waren alle in einem gigantischen Gebäude untergebracht. Gigantisch im Sinne von flächendeckend. Die Ställe musste man sich vorstellen wie eine steinerne, quadratische Arche Noah. Eigentlich war es ein überdachtes Labyrinth aus hölzernen Kämmerchen. Es gab sogar einen zweiten Stock!
Es gab vier Ausgänge, an jeder Hauswand eine grosse Flügeltür, die gross genug war, damit ein Elefant hindurchgepasst hätte.
»Hereinspaziert!«, rief Mile und hielt seiner Schwester eine der Türen auf. Sabrina schlüpfte unter seinem Arm hindurch und er folgte ihr. Red und Faritales blieben draussen im Regen stehen. Vermutlich wollten die beiden ihnen etwas Zeit für sich lassen.
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wurde es sofort wärmer. Es roch nach Tieren und Stroh. Von überall schallten Tierlaute zu ihnen herüber. Von Pferdewiehern zu Grillenzirpen über Elefantentröten bis hin zu Löwengebrüll...
Doch das Atemberaubendste an diesen gigantischen Ställen war das Licht. Da alles in den Ställen aus Holz und Stroh, also leicht entzündbarem Material bestand, hatte man auf Kerzen oder Petroleumlampen verzichten müssen. Die Alternative waren Glühwürmchen. Milliarden von ihnen! Wie unzählige, winzige Sternchen schwirrten sie über ihren Köpfen. Das unterschwellige Brummen ihrer feinen Flügelchen erfüllte jede einzelne Stallbox...
Gerne hätten sich die Geschwister von diesem wundervollen Anblick mitreissen lassen, doch natürlich blieb dazu keine Zeit.
»An was für ein Reittier hattest du denn für mich gedacht?«, fragte Sabrina, nachdem sie eine Weile in dem Irrgarten aus Stallungen herumgeirrt waren.
»Er ist weniger ein Reittier sondern eher ein Freund...«, murmelte Mile abwesend. Er reckte den Hals um in die Vergitterten Fenster der Boxen hineinzusehen.
Eine gigantische Libelle, ein wunderschöner Pegasus, ein riesenhafter Elefant...
»Kann ich euch helfen?«
Mile sah sich suchend um. »Hast du das gehört?«, fragte er Sabrina stirnrunzelnd. Er hätte schwören können, dass da gerade jemand gesprochen hatte. Die Stimme gehörte definitiv nicht Sabrina, ausser sie hatte zuvor einen halben Tank Helium eingeatmet. Genau so klang diese unbekannte Stimme nämlich. Als hätte jemand Helium eingeatmet!
Sabrina nickte, doch dann murrte sie: »Ist doch auch egal! Mile, ich glaube ich nehme einfach irgendein Pferd. Mit etwas Glück werde ich Hook finden und...«
»Suchhunde findet ihr im Obergeschoss ab Reihe zweiunddreissig!«
Schonwieder diese Stimme!
»Hallo? Wer spricht da?«, fragte Mile und sah sich erneut suchend um.
»Hier! Hier unten!«
Die Geschwister senkten ihre Blicke und starrten den Sprecher an. Vor ihnen auf dem strohbedeckten Boden stand ein winziges Männlein. Es hatte die Grösse eines Daumens. Seine Gliedmassen waren dünn wie Streichhölzer und sein Kopf war rund wie eine Murmel. Das Männlein trug Kleider aus dünnen Stofffetzen. Sein blonder Haarschopf wurde von einer quietschroten Zipfelmütze bedeckt, deren Zipfel beinahe so lang war, wie das Männlein gross.
»Wer bist denn du?«, fragte Sabrina und kniete sich zu dem Winzling hinab. Sie streckte ihre Hand aus und das Männlein kletterte ihre Finger hoch.
»Ich bin der Däumling!«, verkündete der Winzling stolz und verbeugte sich tief.
Sabrina richtete sich wieder auf, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Däumling nicht ausversehen fallen zu lassen.
»Der Däumling aus dem Märchen!«, murmelte Mile fasziniert und musterte das Männchen.
Der Däumling sah eigentlich aus wie ein ganz normaler, zwölfjähriger Junge. Er hatte ein freundliches Gesicht, eine lustige Stubsnase und wache, braune Augen. Ganz normal – bis auf die Daumesgrösse.
»Hör mal, Däumling«, meinte Mile aufgeregt. »Du scheinst dich doch in diesen Ställen ganz gut auszukennen, nicht wahr?«
Der kleine Junge nickte und prahlte: » Eine Kuh hatte mich verschluckt und naja... Hier bin ich wieder rausgekommen. Seit dem lebe ich hier und ich kenne mich in diesen Ställen besser aus, als jede Maus!«
»Dann kennst du auch meinen Freund Astrar!«, jubelte Mile. »Bitte, führe uns zu ihm!«
Sabrina warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie hatte den riesigen Löwen natürlich noch nicht kennen gelernt und wusste darum auch nichts von ihm.
Der Däumling hingegen schien Astrar nur zu gut zu kennen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
»Grosse Katze! Böse Katze!«, murmelte er leise.
»Bitte, wir brauchen diesen A... Wie auch immer!«, versuchte Sabrina den Däumling zu überreden.
»Gut, gut!«, jammerte der Winzling. »Folgt meinen Anweisungen!«


~Sabrina~

Gesagt, getan.
Der Däumling hatte sie durch den ganzen Stall gelotst, bis sie vor der Box dieses „A-Irgendwas" standen.
»Danke, kleiner Mann«, murmelte Sabrina und hielt dem Däumling ihren kleinen Finger hin. Dieser wurde von den Minihänden des Männleins ergriffen und geschüttelt. Die gleiche Prozedur folgte auch bei Mile, dann verabschiedete sich der Däumling auch schon wieder und verschwand hinter einem Strohballen.
»So«, brummte Mile feierlich. »Sabrina? Bereit meinen Freund Astrar kennen zu lernen?«
»Hmm...«, murrte sie. Herrje, das ging ihr alles viel zu lange! Sie wollte doch nur Falk wiederfinden! Hoffentlich würde sich dieser Aufwand hier auch lohnen!
Mile schob den Balken, der die Holztüren von aussen verschloss, zur Seite. Dumpf landete er in dem Stroh. Ihr Bruder zwinkerte ihr zu und riss dann die Flügeltür des Stalls auf...
Das erste was Sabrina sah, waren zwei tellergrosse, goldene Katzenaugen. Dann folgte ein breiter, schwarzer und haariger Katzenkopf, der von einer dunklen und vollen Mähne umkränzt wurde. Hinter dem Kopf war der Rest des Löwenkörpers zu erkennen. Muskulös und kräftig.
Im ersten Moment dachte Sabrina, sie würde schonwieder träumen. Beinahe glaubte sie, erneut ihrem Vater in Löwengestalt gegenüberzustehen.
Sie lächelte.
»Hallo Astrar«, begrüsste Mile den riesigen, schwarzen Löwen.
»Hallo kleiner Lord. Es wurde aber auch Zeit, dass du dich mal wieder bei mir blicken lässt!«, knurrte Astrar und blinzelte den jungen Lichterlord verschlafen an. Anscheinend hatten sie ihn geweckt.
Der Blick des Löwen fiel auf Sabrina.
»Oh«, brummte der Animanore freudig, »wie ich sehe, hast du mir was zum Fressen mitgebracht.«
Nein. Eindeutig nicht ihr Dad...
»Untersteh dich! Das ist kein Futterhappen, das ist meine Schwester. Das ist Sabrina Beltran, die Eisprinzessin!«
Astrar senkte demütig den Kopf und schnurrte: »Verzeiht, Prinzessin. Ich bin schon längere Zeit nicht mehr aus diesem Stall hinausgekommen, da verwechselt man ab und zu Freund mit Futter...«
»Zu mir bist du nie so höflich«, maulte Mile gespielt empört.
Der Animanore grunzte und fauchte: »Du bist auch keine hochwohlgeborene Lady!«
Sabrina räusperte sich und trat zögernd auf das riesige Tier zu. Diese Grösse war nun wirklich respekteinflössend!
»Es freut mich, dich kennen zu lernen, Astrar«, murmelte sie etwas scheu.
Der Löwe brummte fröhlich und brachte damit seine Schnurrhaare zum Zittern.
Sabrina drehte sich zu ihrem Bruder um. Die Stirn hatte sie skeptisch in Falten gelegt, als sie ihn fragte: »Und... auf dem da soll ich reiten
Mile nickte lächelnd.
Astrar knurrte beleidigt.
»Also hör mal, kleines Fräulein! Ich bin wohl das Beste was du unter all diesen Wiederkäuern hier finden wirst!«, brummte er und richtete sich zu seiner vollen Grösse auf, wobei er sich jedoch den Kopf an der Decke stiess, einige Glühwürmchen zu Matsch zerquetschte und es dann doch lieber sein liess.
Sabrina seufzte ergeben. Hauptsache sie würde Falk schnell finden. Er war das einzige, was sie zu verlieren hatte.
»Pass auf«, rief Mile ernst. »Du musst jemanden finden. Und zwar so schnell wie möglich. Sabrina muss mit ihm reden und...«
»Alles klar. Hauptsache ich komme aus diesem stickigen Holzkäfig raus. Hast du gesehen? Die haben meine Box mit einem Holzbalken abgeriegelt. Als ob mich so ein Zahnstocher aufhalten könnte. Lächerlich!«
»Lass uns keine Zeit verlieren!«, rief Sabrina und rannte Richtung Ausgang.


~Mile~

Mile hob Sabrina auf den Rücken des Löwen. Ihre Hände krallten sich sofort in das schwarze Fell des Tieres.
»Halt dich gut fest!«, riet ihr Red, die zusammen mit dem komischen, kleinen und dicken Dämon zu ihnen gestossen war.
»Und wehe du frisst sie auf!«, drohte Faritales dem Löwen, der jedoch nur heiser lachte.
»Pass auf dich auf. Ich weiss zwar nicht, was du an diesem Kerl findest, aber ich kann dir nur raten, die Finger von ihm zu lassen«, rief Mile ihr zu, während der Löwe sich aufrichtete.
Sabrina schüttelte den Kopf und antwortete: »Mile, das ist wirklich nicht deine Sache! Du hast wirklich genug Schaden angerichtet. Ich schwöre dir, wenn dieses Chaos vorbei ist, wird dir noch etwas blühen! Die Sache ist noch lange nicht gegessen!«
Plötzlich brüllte Astrar. Er streckte sich und hielt die Nase in den Regen. Dann knurrte er aus tiefster Kehle: »Auf geht's!«
Er machte einen Satz von drei Metern und wetzte davon. Jeder seiner Schritte liess Fontänen aus Wasser aufspritzen.
Mile sah Astrar und Sabrina nach. Am liebsten wäre er ihnen hinterhergerast.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Was hat deine Meinung geändert?«, fragte Red, die neben ihn getreten war.
Red. Die gute, treue Red...
Mile legte einen Arm um ihre schmalen Schultern und flüsterte: »Ich weiss es nicht. Ich denke, es war das Gespräch mit einem kleinen Jungen. Er wollte mich nicht überzeugenrückgängig zu machen, was ich Hook angetan habe. Er wollte mich eher dafür loben. Ich denke, da ist mir klar geworden, dass ich so nicht sein will. Ein Racheengel, verstehst du? Und Sabrina... Nun, ich denke sie gab mir den Rest...«
Red schüttelte den Kopf.
»Verrückter Feuerjunge. Nein, ich verstehe nicht. Ist auch egal. Ich bin einfach nur froh, dass du dich wieder besonnen hast.«
Sie lächelte ihn an.
Red.
Immer fand sie die richtigen Worte...


~Sabrina~

Die Regentropfen schossen ihr wie winzige Hagelkörner ins Gesicht, doch Sabrina ignorierte sie.
Falk!
Nur er war im Moment wichtig.
Sie krallte ihre Finger in das schwarze Löwenfell und presste ihren Körper ganz fest an den des Animanoren. Bei jedem seiner Sätze wurde sie kräftig durchgerüttelt.
»Nach wem suchen wir zwei Hübschen eigentlich?«, rief Astrar nach einer Weile.
»Nach einem Piraten... Reicht dir das?«
Astrar nickte, wobei er Sabrina beinahe abgeworfen hätte.
»Ich habe vor einem halben Jahrtausend gerne Ausflüge zu den Fischerdörfern in Oz gemacht. Seemänner haben ihren ganz eigenen Geruch und schmecken tun sie auch sehr speziell. Den Piraten werde ich leicht finden. Meine Nase ist besser als alle in diesem Land.«
Mit diesen Worten blieb der Löwe ruckartig stehen und hielt seine ach so lobenswerte Nase in den Wind. Er schnuppere.
Wenn mal davon absah, dass diese Katze die Grösse eines Familienautos hatte, sah das irgendwie ganz niedlich aus. Wie dieses Riesenviel das gigantische Näschen in die Höhe hielt...
Gedankenverloren schnurrte Astrar: »Ich rieche... Rum... und Salz... Meereswasser...«
»Heisst das, du hast ihn?«
»Ich denke schon. Er muss hier durchgekommen sein... Halt dich fest!«
Und weiter ging die wilde, tolle Jagd. Mit einem Affentempo raste der Löwe durch Aramesias Strassen. Ab und an legte er eine Vollbremsung ein, um erneut die Luft zu prüfen und sich zu vergewissern, dass er die Spur des Piraten nicht verloren hatte.
Häuser flogen an ihnen vorbei. Ihre Umgebung wurde zu einem Gewischt aus Farben, als hätte ein verrückter Künstler mit seinen Pinseln auf die Leinwand eingeschlagen. Beinahe endlos war der Ritt auf dem Löwen. Immer näher schienen sie dem Westtor zu kommen.
Und dann blieb Astrar auf einmal stehen, setzte sich und liess Sabrina ohne Vorwarnung von seinem Rücken rutschen.
»Huch... Was...«, quiekte sie und schaffte es gerade noch, sich mit den Füssen abzufangen.
»Psst! Er ist hier...«
»Wo?«
Der Löwe trat einen Schritt zurück, deutete mit einer Tatze auf eine Kreuzung und brummte: »Rechts. Eine Strassenecke weiter. Ich dachte, du solltest diesen Piraten nicht gleich mit einem riesigen, schwarzen Löwen über den Haufen rennen. Normalerweise reagieren die Menschen etwas sensibel auf meine Anwesenheit...«
»Da wirst du wohl Recht haben. Danke Astrar! Ich stehe tief in deiner Schuld!«
Sie strich dem Löwen über die bebende Flanke.
»Es war mir eine Ehre«, fauchte das Tier und senkte den Kopf.
Sabrina lächelte. Dann lief sie los. Immer schneller...
Sie bog in die Strasse ein, von der Astrar behauptet hatte, Falk müsse dort sein...
Schnaufend stolperte sie über den Grund. Beinahe wäre sie auf dem nassen Pflasterstein ausgerutscht...
Dann verschlug es ihr den Atem.
Falk!
Er sah sie nicht.
Er hatte ihr den Rücken zugedreht.
Langsam lief er die Strasse hinab. Immer weiter auf das Westtor zu, das am Ende auf ihn wartete.
Aber das durfte er nicht! Er durfte Aramesia nicht verlassen!
Er durfte sie nicht verlassen!
Und darum rief sie ihn.
»Falk!«
Und er blieb stehen.
Mitten auf der Strasse. Mitten im Regen.
Doch er drehte sich nicht um. Hatte er Angst, sich verhört zu haben?
Also rannte sie auf ihn zu. Ihre Schritte sprängten die Pfützen.
»Falk!«, rief sie. »Falk! Bleib hier! Bleib stehen!«
Er drehte sich um.
Sie fiel ihm um den Hals.
»Bleib... bleib hier, hörst du? Du darfst nicht gehen. Ich... ich brauche dich doch!«
Es war schwer, die richtigen Worte zu finden. Es war schwer, überhaupt etwas heraus zu bekommen, denn sie atmete schwer.
Falk rührte sich nicht.
Keine starke Piratenhand strich ihr tröstend über den Rücken. Niemand hielt sie fest.
Er stand einfach nur da.
Sie liess ihn los und trat einen Schritt zurück, brach ihre Verbindung jedoch nicht, berührte seinen Arm.
»Falk? Was ist los?«
»Du machst es nur schwerer, Sabrina.«
Was sollte das denn heissen?
Sie musterte ihn.
Er sah wirklich übel aus.
Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Schultern hingen herab, als würde eine gigantische Last sie herunterziehen. Aber das Schlimmste waren seine Augen. Sie waren leer. Leer, als hätte jemand alle Freude, alles Schöne aus ihnen herausgeschnitten und eine Hülle zurückgelassen. Leer und hohl...
»Du wirst doch wohl nicht auf Mile hören? Wirst du nicht! Nein!«
»Aber was er sagt stimmt!«
»Blödsinn! Falk! Du darfst ihm das nicht glauben!«
Falk lächelte sie traurig an. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde in tausend Stücke zerbrechen. Wie konnte Hook nur glauben, was Mile ihm eingetrichtert hatte?!
»Er hat Recht, Sabrina. Ich bin was ich bin. Ein Pirat. Ein Monster. Du hast etwas Besseres verdient als mich. An meinen Händen klebt das Blut von zu vielen Unschuldigen. Wie hatte ich nur annehmen können, dass ich mich ändern könnte? Und du, Sabrina... Deine Wange. Sieh dich nur an! Jetzt ist es vielleicht nur ein Kratzer, doch was wäre gewesen, hätte ich dein Auge getroffen? Du kannst das nicht auf die leichte Schulter nehmen! Ich sehe vielleicht nicht aus wie ein Monster, doch was wäre wenn doch? Wenn ich dir von all dem Grauen erzählen würde, das ich verbreitet habe... Würdest du mir den Rücken zukehren?«
Vorsichtig strich er ihr übers Gesicht und küsste sie auf die Stirn.
Dann drehte er sich um und ging...
»Nein!«
Sie konnte ihn nicht gehen lassen! Sie musste ihn aufhalten.
»Sabrina. Ich muss gehen, bevor ich dir das Herz breche!«
»Aber genau das wird passieren, wenn du nun verschwindest!«
Der Pirat hielt inne.
Sabrina rannte um ihn herum, baute sich vor ihm auf.
»Falk, hör nicht auf Mile. Mir ist egal was er sagt. Mir ist egal was die ganze Welt von uns denken mag... Nur bitte, bitte bleib!«
Er zögerte.
Sabrina begann zu schluchzen und warf ihm alles an den Kopf, was ihr gerade einfiel.
»Du magst dich für ein Monster halten, doch das stimmt nicht! Du hast dich geändert, nein, du warst niemals wirklich schlecht! Und bei allen Himmeln! Verdammt, ich liebe dich doch!«
Er lächelte.
Dieses verfluchte schiefe und spöttische Lächeln.
»Das wird nicht funktionieren, Prinzesschen.«
»Wieso nicht?«
»Weil all das auf Lügen aufgebaut wäre!«
Sabrina schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht.
»Was zur Hölle redest du da?«, rief sie verständnislos.
»Du hast mich oft gefragt, wieso ich mit dir gekommen war.«
Sie nickte und antwortete: »Du meintest, weil ich dir einen Ausweg, eine Chance gegeben habe...«
Der Captain nickte und flüsterte: »Das ist nicht die ganze Wahrheit.«
Sabrinas Herz zog sich zu einem Klumpen zusammen. Ein schwarzer, rauer, schwerer Klumpen, der in ihrer Brust sass. Ihre Stimme war rau als sie fragte: »Was für eine Wahrheit gibt es denn noch?«
Der Pirat schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Er lief zu einem der Häuser, lehnte sich dagegen und rutschte dann die Fassade hinab. Da sass er dann. Vollkommen durchnässt von dem Sommergewitter, gebrochen und traurig.
Das nasse, tintenschwarze Haar klebte an seiner Stirn. Regentropfen rannen sein Gesicht hinab und tropften ihm vom Kinn.
Sabrina setzte sich neben ihn. Sie konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Dieses Gesicht, das sie so sehr liebte... Jetzt mehr als jemals zuvor.
Der Pirat schloss die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken, dann begann er zu erzählen: »Einen Tag bevor du auf mein Schiff, die Black Swan kamst, an jenem Tag hatten sich einige Seemänner gegen mich aufgelehnt. Ich fürchtete eine Meuterei und liess die Männer über Bord werfen. Das war für die Männer kein Todesurteil. Zwar ist das Tintenmeer einer der gefährlichsten Ozeane die wir hier in dieser Welt haben, doch unser Schiff war nicht weit von den Küsten der Avalon-Inseln entfernt. Sie müssen es also überlebt haben, wenn alles gut gegangen ist. Trotzdem war der Rest der Mannschaft aufgewühlt. Ein Captain, der seine eigenen Leute über Bord wirft, lebt äusserst gefährlich...«
Sabrina blinzelte.
Eine Meuterei? Davon hatte Hook ihr noch nie etwas erzählt!
»Und einen Tag später bist du aufgetaucht, Sabrina«, brummte der Pirat und drehte den Kopf zu ihr. Sein Blick war voller Reue. »Ich habe dich die ganze Zeit angelogen.«
Sabrina schüttelte den Kopf. Das konnte alles nicht stimmen! Das durfte nicht stimmen!
Von den Gefühlen, die sie überrollten wie ein Güterzug, überwältigt, rappelte sie sich auf und lief einige Meter von Falk weg.
»Soll... soll das heissen... Du bist nur mit mir gekommen, weil du dieser Meuterei entkommen wolltest? Es war... alles nur gespielt?«
Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen. Da sich ihre Tränen in kleine Eisperlen verwandelten, konnte sie nicht darauf hoffen, dass Falk es nicht sehen würde.
»Nein, das habe ich nicht gesagt! Alles ist wahr! Du hast mir wirklich die Möglichkeit gegeben, mich zu ändern. Ich wollte eine Chance, das musst du mir glaube, Sabrina!«
Sie wirbelte zu ihm herum. Sie war nicht wütend. Das einzige Gefühl, dass sie gerade ernsthaft in die Knie zu zwingen drohte, war die Angst.
Die Angst, sich erneut in den Falschen verliebt zu haben. Die Angst, ihre Gefühle würden nicht erwidert werden.
»Und was ist mit... mit mir? Ging es jemals um mich? Hast du...«
Falk riss die Augen auf und starrte sie durchdringend an. »Du glaubst, ich würde dich nicht... Sabrina! Um Himmelswillen, sag das nicht!«
Und dann stand er auf. Mit grossen Schritten kam er auf sie zu, zog sie an sich und küsste sie.

Es war wie beim ersten Mal.
Damals, auf dem Schiff.
Irgendwo im Tintenmeer.
Später in der Besenkammer.
Damals, im Baum der Verstossenen als sie sich gerade erst kennenzulernen begonnen hatten...
Und doch anders.
Alles rundherum verschwand.
Da war nur Falk.
Falk, der sie hielt.
Falk, alles was zählte.
Und in ihr begann es zu toben.
Doch dann löste er sich von ihr und drehte sich um.
»Es tut mir Leid... Ich... ich sollte gehen...«
Sabrina, die noch ganz benommen war, konnte nicht antworten.
»Du hast etwas Besseres verdient. Du musst jemanden finden, dem eine Hand anstelle einer Waffe aus dem Arm wächst. Du brauchst jemanden, der sich nicht in dich verlieb, nachdem er dich angelogen hat. Ich weiss, du wirst jemanden finden!«
Ohne ein weiteres Wort huschte er an ihr vorbei, doch es hatte gereicht, um sie aus ihrer Trance zu wecken.
»Das wird nicht funktionieren, Pirat«, murmelte sie und streckte den Arm aus, um ihn fest zu halten. Tatsächlich blieb er stehen.
»Wieso nicht?«
»Weil ich diesen Jemand schon gefunden habe.«
Mit diesen Worten legte sie beide Hände in seinen Nacken und sah ihm tief in die Augen.
Blau.
Blau wie der wilde Ozan.
»Falk, ich weiss, ich habe dich lange warten lassen. Ich brauche lange, um anderen zu vertrauen, geschweige denn, ihnen meine Liebe zu gestehen. Mir ist es egal, wer du bist. Monster, Pirat, wie auch immer! Captain Falk James Jones Hook. Ich liebe dich. Ich werde dich nicht gehen lassen. Niemals. Und selbst wenn du mich belogen hast, so hast du nun die Wahrheit gesagt und das bestärkt mich nur noch mehr. Ich vertraue dir. Darum darfst du nicht gehen. Ich traue dir und ich liebe dich. Falk, ich verspreche dir, ich werde dich nicht gehen lassen. Niemals.«
Und dann war es wieder da. Das Licht in seinen Augen.
Falk lächelte sein schiefspöttisches Lächeln. »Und ich werde nicht gehen. Ich verspreche dir, ich bleibe bei dir. Immer.«
Und dann küssten sie sich wieder.
Vor dem Westtor.
Mitten auf der Strasse.
Mitten im Regen.


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Hallöchen allerseits!

Ihr habt es so gewollt. IHR wolltet es so.
Guuut, ich gestehe, ich auch :3

Da is er.
Der Kitsch.
Dafür hab ich mir echt den „Schnulzen-Oscar" verdient, nicht? (Hehe Oscar... Auuuuu)
Ich hoffe, ich habe die Situation irgendwie gut und logisch geschildert. Auch der Grund, wieso Falk mit Sabrina gekommen ist, erscheint jetzt logischer finde ich :)
Ich hoffe auf Kritik! Wie war das Kapitel?

Dann kann ich leider nicht anders. Noch ein Lied :3
Ich sage euch, hört es euch an! Es ist das absolut Schönste, was ich zu bieten habe.
Raise your Love von RHODES.
Wuuundervoll. Ich liebe dieses Lied! So unglaublich tragisch und mit so, so, so vielen Höhen, in denen man das Fliegen lernt und solchen Abgründen, in die man fällt und nicht mehr herauskommt...
Egal! Hört es euch an! ;P

Und noch einmal ein fett+kursiev getipptes TUT MIR LEID, weil ich es gestern doch nicht geschafft hatte, dieses Kapitel zu vollenden.

So, ich hoffe, ihr hattet euren Spass und sitzt nun heulend vor Rührung vor euren PCs oder Smartphones :*

Liebe Grüsse,
Eure Dreamy

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