Sprechende Hände

By lonelydesertflower

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»Welche Sprache sprichst du, wenn du nicht hören kannst?« fragte ich ihn, aber er sah mich einfach stumm an u... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
SPIN-OFF IST VERÖFFENTLICHT
Fortsetzung
UPDATE !

Kapitel 16

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By lonelydesertflower

Ich brannte, seine Stimme wieder hören zu können.
*

Bevor die Situation eskalierte, stand ich auf und packte hektisch meine Tasche. Es war klar, wieso Ünal hier war. Er wollte Toprak und mich draußen haben.

»Ist er eine sprechende Person?« fragte der Imam den Zwilling »Oder gehört er zu Ihnen?«

Topraks Zwilling, der direkt neben dem Imam stand, schien Ünal wohl zu kennen. So wütend wie er ihn anstarrte, merkte ich, dass auch Ünal ihn kannte. Für die Beiden war dies zweifellos nicht die erste Begegnung.

Da fiel mir ein, dass Ünal im Krankenhaus von einem Bruder und einer Narbe gesprochen hatte. Er kannte ihn!

»Nein, Imam Hamza« antwortete der Zwilling zischend und kratzte nervös seine Stirn »Der hier gehört zu niemandem.«

Ünal ignorierte ihn, denn sein Blick haftete auf Toprak, der inzwischen aufgestanden war.

»Los, jetzt« stresste Ünal mit zusammen gebissenen Zähnen und warf mir einen warnenden Blick zu.

Natürlich tat ich das nicht, weil ich ihm gehorchen wollte. Die Kinder und der Imam, waren der einzige Grund. Ich wollte Unruhe vermeiden. Also quetschte ich mich wieder an den Sitzen vorbei, entlang der Fensterseite, aber plötzlich stellte sich Toprak vor mich. Mein Herz raste wie verrückt und ich konnte meine Sorge um ihn nicht mehr zurück halten. Ünal war zu allem im Stande.

Mit ruhigem Blick schaute Toprak durch seine Locken, die ihm über seine Stirn taumelten. Mit einer Hand zeigte er seinem Zwilling eine Gebärde und er wusste, dass er es mir übersetzen soll.

»Du entscheidest. Ich respektiere« sagte sein Zwilling auf deutsch, damit es keiner Verstand. Ich nickte.

*

»Nächstes Mal« lachte Ünal im Garten der Akademie »löschst du deinen Verlauf, oder noch besser; du googelst nicht, wo du hingehst.«
»Ünal, das geht zu weit! Siehst du nicht, dass dein Verhalten alles schlimmer macht?«
»Nein« Ünal zuckte mit den Schultern »Alles, was ich sehe, ist meine verrückte Freundin, die von diesem Pantomimen verführt wird. Was für eine Art Psycho ist der!?«

Topraks Blick haftete auf seinen Lippen. Trotzdem, antwortete er Ünal nicht. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sein Zwilling auch kommen würde, aber er musste sich noch um die Klasse kümmern.

»Sag es doch« forderte Ünal und grinste spöttisch zu Toprak »O-der hast du et-wa dei-ne Spra-che ver-lor-en?« sagte er in lauten Silben.

»Hey!« rief ich »Du Unmensch, kannst du dich nicht benehmen? Was soll das Ganze werden?!«
»Sollte ich dich fragen! Erst in Deutschland, dann sogar hier... Es ist wohl zum Hobby geworden, mich zu betrügen, was?«
»Wir sind kein Paar mehr, Ünal« erklärte ich ihm langsam und bemitleidend, denn er schien wohl wirklich dumm zu sein »Tu' dir selbst einen Gefallen und check das mal endlich.«

Auf einmal ließ Ünal ein hysterisches Lachen raus und klatschte in die Hände. »Witzig! Weißt du, deine Eltern werden dich nicht zwingen, unser Söz nachzuholen...« Er zeigte mit einem Finger auf mich und kam näher »sondern du wirst selbst wieder zu mir zurück kommen.«

Ich stöhnte und schloss meine Augen. Wie könnte ich ihm das jemals klar machen, ohne vorher meinen Verstand zu verlieren? Gerade, als ich ihn ein letztes Mal warnen wollte, hörte ich Schritte hinter uns.

Ünal lachte »Na super, die sprechende Kopie kommt.«

Ich drehte mich um und Toprak merkte, dass ich etwas hörte und tat das Selbe. Sein Zwilling kam wütend angelaufen und schnaufte laut durch die Nase. »Du Ehrenloser-«

Als er fast in Ünals Reichweite stand, hielt ihn sein Bruder rechtzeitig zurück und schob ihn weg. Er zeigte ihm wütende Zeichen und entwich dem festen Griff.

»Du bist es also« fauchte sein Zwilling zu Ünal und versuchte seinem Bruder zu entgehen »Verschwinde, bevor ich dich in Stücke zerreiße!«

»Warte, was ist los?« fragte ich verwirrt. Ich verstand nicht. Wenn er ihn kannte und so reagierte, wieso tat es dann auch nicht Toprak?

Toprak schnipste mit dem Finger, um die Aufmerksamkeit seines Bruders zu bekommen. Anschließend gebärdete er mit einem fragenden Gesichtsausdruck kurze Zeichen. Sein Zwilling stöhnte und ließ nach.

»Habt ihr's bald?« lachte Ünal, woraufhin Topraks Zwilling seine Augenbrauen noch tiefer stutzte.

»Vergesst es. Komm jetzt, Züleyha« sagte Ünal.
»Nein!« widersprach ich.
»Na gut, dann muss ich es dir wohl vor denen erzählen« meinte er und kam mir näher.

»Diese zwei Brüder sind Kriminelle« erklärte er langsam und blickte mir ohne zu Blinzeln in die Augen »Ich weiß nicht, was er dir alles in Südstadt eingeredet hat, aber er lügt.«

Topraks Bruder schnaufte wütend und übersetzte gleichzeitig. »Was redest du für einen Schwachsinn?! Sag ihr doch, wer der wahre Kriminelle hier ist! Dass du ein Vergewaltiger bist! Dass Mahmud-«

»Er ist professioneller Lügner, Züleyha« flüsterte Ünal und starrte mich mit wahnsinnigen Augen an, um sicher zu gehen, dass ich zuhörte. »Dieser Spinner hat seine eigenen Eltern umgebracht! Er ist ein Stalker! Oder was glaubst du, wieso er wusste, dass wir am Vapiano waren? Wo ich mein Auto geparkt hatte? In welchem Krankenhaus du warst? Wann du in der Türkei sein würdest?«

Langsam drehte ich meinen Kopf zu Toprak und sah ihn kurz aus der Perspektive, die mir Ünal erklärte. Nein. Nichts ergab Sinn. Ünals Vorwurf konnte nicht stimmen. Es war wieder einmal eine Lüge. Oder?

"Du entscheidest, ich respektiere" hatte er gesagt. "Hier bist du sicher" hatte er gesagt. "Hat er das getan?" wollte er im Krankenhaus wissen.

»Nach all dem, was ihr getan habt« begann der Zwilling und kam einige Schritte vor »Versuchst du immer noch Yusufs Leben zu ruinieren. Du hast keinen Gramm Menschlichkeit in dir.«

Er hat Yusuf gesagt. Innerlich platzte ich vor Neugier, weil ich wissen wollte, was zwischen denen abging.

In dem Moment rannten die Kinder aus dem Gebäude und wurden von ihren Eltern empfangen. Ein Kind erkannte uns und rannte glücklich in unsere Richtung. Es war Görkem, der Schüler, der wissen wollte, ob er im Paradies hören werden kann...

»Ich bringe dich um, Eşkazan« drohte sein Zwilling, bevor er sich lächelnd zu Görkem wandte. Er legte eine Hand auf Görkems Schulter und verließ zusammen mit ihm den Garten und ging zu seinen Eltern.

»Verschwinde, Ünal« sagte ich, was sich anfühlte wie eine Endlosschleife »Merkst du nicht, dass du nutzlos bist?«

Ünal starrte wütend erst zu mir, dann zu Toprak rüber, um ihm dann kopfschüttelnd auszulachen. Er wurde so laut, dass ich mich kurz umsah, ob uns nicht jemand bemerkte. Aber mir fiel sofort wieder ein, dass hier alle taub waren.

»Ich?! Soll verschwinden?!« wiederholte er und pustete laut aus, um sein Lachen zu kontrollieren. »Sag diesem Stück Schwer-Von-Begriff, dass er verschwinden soll! Oder hast du die Gebärdensprache noch nicht raus, Züleyha? Warte, lass mich für dich...«

Ünal hob seine Hände an die Brust und machte lächerliche Bewegungen, bis er dann seinen Mittelfinger hob.

In der Sekunde holte Toprak aus und schlug mit seiner Faust direkt in Ünals Gesicht. Bevor die Wucht ihn zurückschlug, stand Ünal wieder Fest auf dem Boden und schlug ebenfalls zurück, direkt auf Topraks linkes Ohr.

»Hör auf!« brüllte ich und versuchte etwas zu machen. Zum Glück kam sofort sein Bruder angerannt und schob die Beiden auseinander. Mit all meiner Kraft bemühte ich mich, Ünal wegzudrücken.

»Verschwinde jetzt!« fauchte ich ihn an »Sofort!«

Er hob sein Handgelenk an die Nase und bemerkte das Blut. Mit verwildertem Ausdruck, sah er ein letztes Mal zu mir und zu Toprak, bevor er sich dann rückwärts entfernte. »Du bist tot, Yusuf« flüsterte er und lief zügig weg.

*

»Sicher?« fragte mich sein Zwilling, als wir vor dem Klassenzimmer standen.
»Schon okay« beruhigte ich ihn nickend »Wir können uns auch ohne einen Dolmetscher unterhalten.«

Toprak schloss die Tür und setzte sich gegenüber von mir auf einen Stuhl. Er spielte mit seinen Fingern und zögerte, die Unterhaltung zu starten. Aber Geduld hatte ich keine mehr.

Langsam wagte ich es, meine Hand zu bewegen und legte sie vorsichtig auf seine nervösen Hände. Unsere Augen trafen sich endlich.

»Wie ist es passiert?« sprach ich deutlicher als je zuvor. Kein Zweifel, dass er das sofort richtig lesen würde, aber er schien mir nicht antworten zu wollen. Stattdessen zog er seine Hände frei und ließ meine Hand in der Mitte des kalten Tisches liegen.

Mir wurde warm im Gesicht und ich schämte mich wieder, ihm nahe getreten zu sein. Er wollte das wohl nicht... Oder, er fürchtete sich vor irgendetwas.

»Ünal kann uns nichts tun« versicherte ich ihm und nickte.

Seine Mundwinkel zuckten kurz und er schüttelte sehr leicht seinen Kopf. Langsam spalteten sich seine Lippen und er atmete ein. Ich bereitete mich auf sein Geflüster vor, aber zu meinem Erstaunen, ertönte eine normale Stimme, die den Raum erhellte.

»Ich habe keine Angst vor ihm.«

Ich brannte, seine Stimme wieder hören zu können. Wellen flossen durch meinen Körper, jedes Mal, wenn er einen einzelnen Buchstaben traf. Gleichzeitig hinterließen seine Worte einen Schall in meinem Kopf. Wieder und immer wieder wollte ich seine Stimme hören.

Ob er meine Stimme auch hören will? Meist verfallen die hörenden Menschen in ein Mitleid, nach dem Motto, dass "die armen Gehörlosen ja gar keine Musik, nein, nicht einmal Vögelgezwitscher hören können". Die Ironie dabei ist, dass die Hörenden selbst fast nie dieses vielgelobte Vögelgezwitscher wertschätzen. Nie wird es bewusst wahrgenommen, dass man etwas hört. Dass die Vögel gerade zwitschern und Geräusche von sich geben. Aber der Gedanke, dass sie im Hintergrund fehlen würden, reicht für diesen Mitleid aus.

Ich bemitleidete ihn aber nicht. Ganz im Gegenteil.

Der Kloß in meinem Hals ließ nicht locker, aber ich schluckte ihn runter und fragte verwirrt »Um was genau machst du dir Sorgen?«

»Um dich, Züleyha« sprach er.

Ich schüttelte meinen Kopf und beugte mich vor. Vorsichtig hob ich meine Hand an sein linkes Ohr, wo Ünal gerade eben getroffen hatte.

Er rührte sich nicht, sondern beobachtete still, was ich vorhatte. Er sah mir nicht direkt in die Augen, aber suchte meinen Blick. Ich wusste jedoch, was ich tun wollte.

Mit der Angst, etwas zu überstürzen, kämpfte ich nicht mehr. Mein innerer Wille war an diesem Punkt viel zu stark, um es aufzuhalten. Neugier trieb mich an. Und das Verlangen nach Antworten. Das Bedürfnis, die Wahheit zu erfahren.

Langsam fuhr ich mit meinen Fingern durch seine Locken an den Seiten und strich sie nach hinten, um sein Ohr sehen zu können.

Was ich sah, zerbrach mein Herz.

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