Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 71 - Der Gewissenlose

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By MaraPaulie





Kapitel 71

Der Gewissenlose


~Sabrina~

Sie hielt ihn fest, als könne er ihr jeden Moment entgleiten und fallen wie sein Bruder. Seine Tränen brannten auf ihrer Haut. Er zitterte und sie wagte nicht, sich den Schmerz vorzustellen, der ihn zum Beben brachte.
Sie hatte versucht, ihn zu einer der Kajüten zu bringen, doch Falk hatte sich geweigert, überhaupt aufzustehen. Er sass noch immer da, wo er gestanden hatte, als... Peter sich das Leben genommen hatte.
Smee hatte mittlerweile das Steuer übernommen und alle waren wieder an ihren Posten, doch jegliche Euphorie oder Aufregung war verschwunden. Die Schlacht hatte sie eingeholt, der Tod war ihnen zu nahe gekommen.
Falk hob seinen Kopf von ihrer Schulter. Er war bleich, seine Augen gerötet und ihr Ozean war stürmisch. Erschöpft vom Weinen lehnte er sich gegen das Schanzkleid. »Wie weit ist es noch?«, knurrte er und seine Stimme verriet ihr, dass er seiner Dunkelheit gefährlich nah war.
Sie wünschte, die Jolly Roger befände sich noch immer friedlich auf den Wellen des Lacco Lugondon schaukelnd weit, weit weg von Tempus, mehrere Wochen vom Palast entfernt, doch leider war die Realität eine andere. »Vielleicht zehn Minuten, wenn uns jetzt nichts mehr aufhält«, antwortete sie leise und legte ihre Hand auf die seine. Sie zuckte zusammen, als sie seine Qual wahrnahm. Falk brannte in seiner persönlichen Hölle. Sein zweites Geschwister, das er unter tragischen Umständen verloren hatte.
»Er war schon immer schneller als ich...« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, was sich anfühlte wie ein Hieb ins Gesicht. »Oh ich bin verdammt...«
»Du weisst, dass es nicht deine Schuld ist, ja? Du kannst nichts dafür.«
»Aye«, knurrte er und wandte den Blick ab. »Mein Bruder hat mich schliesslich freigesprochen, bevor er sich in den Tod gestürzt hat.«
»Falk, hör auf...« Sie schob sich in sein Sichtfeld. »Was kann ich tun?«
Seine Kiefer malten. »Ich muss was umbringen und zwar schnell...«
»Dazu wirst du gleich Gelegenheit haben«, brummte Miles Stimme hinter ihr.
Sie sah zu ihm auf und zog die Brauen hoch.
»Ich weiss, sie hatten keine Zeit mehr für das Gesicht, aber das macht nichts. Da war zum Glück nichts Ernstes. Haufenweise blaue Flecken, das haben die Hellelfen schnell hingekriegt«, murmelte ihr Bruder und kratzte an dem getrockneten Blut auf seiner Stirn.
»Du hattest ein riesen Glück«, meinte Red, die neben ihn trat. Noch immer sass ihr der Schreck im Nacken, das sah man ihr an. »Bei allen Himmeln, wie kann man gleichzeitig so viel Glück und Pech haben?«
»Frag das lieber den toten Hans...« Ihr Bruder kniete sich zu ihr herab. »Wie geht es ihm?«, raunte er ihr zu.
»Wie es einem geht, wenn der Bruder vor den eigenen Augen Suizid begeht«, antwortete sie nüchtern. Sie wischte sich die dünne Eisschicht, die ihre eigenen Tränen auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten, weg, stand auf und knüpfte drei Säckchen von ihrem Gürtel los. Zwei verteilte sie an Red und Mile, den letzten behielt sie für sich. »Da drin ist unser Taxi auf die Brücke. Verteilt das Zeug nicht zu früh, wir brauchen nur eine winzige Priese, sie wird genügen, um vom Schiff auf die Brücke zu kommen«, erklärte sie ihnen.
Mile lockerte die Bänder um das Säckchen und ein leichter Schimmer erhellte sein Gesicht. »Wow...«
»Was habe ich gerade gesagt? Sei vorsichtig!«, ermahnte sie ihn.
Mile nickte und schnürte den Sack zu. Betreten legte sich sein Blick wieder auf Falk, dessen Augen Löcher in den Nebel starrten. »Es tut mir sehr leid, Falk. Wenn ich nicht so unaufmerksam gewesen wäre, hätte Morgan mich nicht überraschen können und...«
»Wir hätten den Bastard töten sollen, als wir Gelegenheit hatten. Ich hätte ihn umlegen sollen. Tausend Jahre Erfahrung auf See und ich habe nichts dabei gelernt. Begegnest du einem Arschloch, bring es um und gib ihm keine Chance...«
»Nein«, widersprach Sabrina. »Vergiss nicht, dass du auch einmal auf der falschen Seite gestanden hast. Und du hast deine Chance genutzt.«
»Ist das so?«, knurrte er und stemmte sich gegen die Reling, um aufzustehen. »Wenn ich nicht hier wäre, würde Peter jetzt noch leben.«
»Dafür ich vielleicht nicht.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn besser umarmen zu können. »Falk, du musst durchhalten, hast du gehört? Das Schicksal ist der Teufel, aber du darfst dich jetzt nicht gehen lassen. Halte durch, es ist die Hölle, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Weisst du, was ich meine?«
Der Pirat kniff die Augen zusammen, hielt die Luft an, als würde er versuchen, die Hölle auszusperren.
»Falk, schaffst du das?«
Er seufzte und rieb sich über die Augen. »Aye...«

Im Zentrum von Tempus, da, wo der Zeitpalast stand, hier, an der tiefsten Stelle des Tals, dort war der Nebel am dichtesten. Die Häuser unter ihnen waren verschwunden, nur die Rauchschwaden, das Grau, das sich durch das Weiss zog wie Marmormuster aus Luft, zeugten von ihren brennenden Dächern. Ab und an flog ein flammendes Geschoss über sie hinweg, manchmal nur knapp am Bug oder den Segeln vorbei, dann konnte Sabrina die Hitze auf ihrer Haut spüren.
Wie die Welt um sie im Nebel verschwunden war, hatte sich eine seltsame Stille ausgebreitet. Nur wenn man die Luft anhielt, die Augen schloss und seine Ohren anstrengte, konnte man in weiter Ferne dumpf die Trommeln hören, die den Takt des Lieds von Blut und Stahl angaben.
Dass sie die Barriere durchbrochen hatten, wurde ihr erst bewusst, als sie schon auf der anderen Seite waren. Die Barriere hatte keine Farbe, keinen Klang, keinen Geruch und keinen Geschmack. Nur ganz kurz, bevor sie durch sie hindurchflogen, schien die Luft zu flackern. Auf einmal war die Luft weg, wie in einem Vakuum und schon war sie wieder da, zog als Wind an ihr und dann... waren sie durch.
Sie flogen weiter durch das Nebelmeer, das Schiff knarzte, das Nichts wollte scheinbar nicht enden. Erst als Sabrina sich schon fragte, ob sie überhaupt noch in die richtige Richtung flogen, schob sich der Zeitpalast aus dem Weiss und liess die Jolly Roger zum Staubkorn werden.
Die Türme des Palastes ragten aus dem Boden wie zwei lange Zähne, deren Spitzen sich in den Nebel verbissen. Das Schimmern der glatten Oberflächen wirkte stumpf, die Farben nur Pastell. Er war so gross, dass die einzelnen Ausläufe, die Erker und Zinnen, die Fenster und Spitzen vom Nebel geschluckt wurden wie die Formen weiter Landschaften.
»Wir brauchen mehr Auftrieb«, brummte Falk und zog das Sturmglas aus seiner Manteltasche. An den Steuermann gewandt befahl er: »Dreh etwas ab, wir fliegen zu tief.«
Der Steuermann nickte, drehte das Rad schwungvoll nach Backbord und das Schiff legte sich sanft in eine Schieflage. Ein starker Wind traf auf den Bauch des Schiffs, hob es hoch, drückte gegen das Heck, blähte die Segel und liess die Jolly Roger mit doppelter Geschwindigkeit vorschnellen. Sie gewannen rasch an Höhe, schraubten sich am linken der Türme hoch.
Endlich hatten sie die Brücke, die die Türme des Palasts miteinander verband, erreicht und die Jolly Roger blieb wenige Meter über ihr in der Luft stehen.
Falk drückte Smee, der neben ihnen stand, sein Sturmglas in die Hand. »Hör her, alter Freund. Wage es nicht, umzukommen. Und solltest du es schaffen, dass mein Schiff am Stück bleibt, wäre ich dir auch sehr dankbar...«
Smee grinste ein Goldzahnlächeln, zog die Nase hoch und brummte: »Aye aye, Captain!«
Sabrina öffnete ihr Säckchen und eine feine, goldene Staubwolke quoll daraus hervor. Feenstaub.
Die Feen, die sie damals von Falks altem Piratenschiff gerettet hatte, waren ihr etwas schuldig gewesen. Das hatten sie nun mit dem goldenen Wunderzeug beglichen.
Die Xilsar funktionierten wie ein Uhrwerk. Sie stellten sich in Reihen hinter Red, Mile und ihr selbst auf, erhielten ihre Dosis, stiegen über die Reling und liessen sich auf die Brücke schweben. Neben den Kriegen hatten sich auch drei Hellelfen bereiterklärt, sie auf das Selbstmordkommando zu begleiten. Sie hatten sich Sabrina zuvor als Jian, Asa und Valyn vorgestellt. Die Chance, dass sie sich diese Namen behalten können würde, war zwar relativ gering, aber wer wollte es ihr heute verübeln?
Falk war der letzte, der sich seine Portion bei ihr abholte. Er wartete, bis sie sich ihre eigene Priese über den Kopf gestreut und den Beutel wieder an ihrem Gürtel befestigt hatte. Während sie gemeinsam auf die Reling stiegen, fragte er: »Bist du bereit?«
»Nein«, antwortete sie nüchtern. »Du?«
»Aye.«, meinte er und machte ein Gesicht, wie sie es noch nie an ihm Gesehen hatte. Sein Ozean war schwarz wie der des Tintenmeers, auf dem sie sich damals zum ersten Mal getroffen hatten. Dieser Blick, aus dem sie seine Entschlossenheit las, färbte auf sie ab. Sie straffte die Schultern und nahm ihn bei der Hand. »Du hast recht, ich bin es auch. «
Sie schloss die Augen, wie es eine der Anweisungen der Feen gewesen war. Augen schliessen, ans Fliegen denken, ans Fliegen glauben.
Sie stellte sich vor, wie ihre Füsse sich von dem Holz lösten, ihr Körper der Schwerkraft trotzen und sie sicher auf der Brücke landen würde. Schon spürte sie, wie ihre Gedanken zur Realität wurden. Sie flog...


~Mile~

Als er die Augen wieder öffnete, stand er mit beiden Beinen auf festem Grund. Dieser war von einer dicken Schicht Moos und Laub bedeckt, hier und da wuchs sogar das eine oder andere Gestrüpp. Nur an wenigen Stellen blitzte weisser Granit darunter hervor.
Die Brücke hatte ein rostiges Geländer, das heute niemanden mehr vor einen Sturz bewahren würde. Wie weit der Weg nach unten war, blieb einmal mehr ein gut behütetes Geheimnis des Nebels.
»Haben es alle geschafft?«, rief Fjore und schirmte mit der Hand seine Augen ab. Die Elfen hatten extra für die Schlacht auf alle Vampire einen Zauber gelegt, der ihnen erlaubte, für einen Tag in der Sonne zu wandeln.
Sabrina, die eben neben ihm landete, antwortete ihm: »Ja, wir waren die letzten an Deck. Jetzt ist da nur noch Smee ,die Crew und eine Hand voll Sanitäter.«
»Gut«, meinte Mile mit einem Nicken und sah zu, wie die Jolly Roger sich, beinahe hundert Meter über ihren Köpfen, aus ihrem Stillstand befreite und sich von den Winden des Sturmglases forttragen liess. Zurück in den Nebel, zurück in die Schlacht. »Dann geht es jetzt los.«

Sich zu trennen wäre ein Fehler. Es war zwar schwieriger, mit einer grösseren Gruppe unentdeckt zu bleiben, doch sie wussten nicht, wie gross die Wachtruppen sein würden, denen sie vielleicht begegneten. In der Unterzahl zu sein, konnten sie sich nicht leisten. Darum war die oberste Regel, sich um keinen Fall entdecken zu lassen. Sollten sie Feinden begegnen, mussten sie einem Kampf aus dem Weg gehen. Keine Konfrontation! Hier ging es um alles, denn wenn sie die Allmachtspieluhr nicht unschädlich machen konnten, war da nicht die geringste Chance auf einen Sieg.
Die Allmachtspieluhr unschädlich machen... Das war einfach gesagt, aber wie sie das anstellen sollten, hatte ihnen keiner verraten... oder verraten können, denn niemand wusste, wie die Dunklen die Kraft aus ihr zogen, mit der sie die Barriere aufrechterhielten. Selbst in der Prophezeiung war nirgends ein Hinweis darauf zu finden, wie sie mit der Spieluhr zu verfahren hatten. Höchstens die Zeile „Beide Schlüssel sind dabei, lassen dunkle Mächte endlich frei", könnte als Hinweis darauf zu verstehen sein, aber war es wirklich eine gute Idee, die Büchse zu öffnen? Die Wege des Schicksals waren unergründlich und vielleicht war es auch nur wieder eine Finte der Orakel, gerichtet an die, die nicht den Verstand dazu besassen, aus den gedichteten Worten schlau zu werden und die nötigen Schlüsse zu ziehen. Sie würden sehen... Jetzt hiess es, die Büchse zu finden.

Sabrina hatte ihm von dem Palast erzählt, den Wänden aus Gold und Silber, den Deckenmalereien, den tausend Treppen und Gängen überallhin, der Schönheit, die das Bauwerk, trotz all der Düsternis und dem Unheil, das in ihm wohnte, besass. Aber nicht eines der Bilder, die ihre Beschreibungen in seinem Kopf gemalt hatten, konnte der Realität das Wasser reichen.
Sie hatten den Teil des Palastes gewählt, der der Eisprinzessin zustand, da Sabrina sich in diesem bereits einmal befunden hatte und somit die Chance bestand, dass sie sich besser zurecht finden würden.
Die Tür, von der aus sie in den Palast gelangt waren, hatten sie aufbrechen müssen. Dahinter hatte sich ein relativ unspektakulärer Raum befunden, der ihn trotzdem grosse Augen hatte machen lassen. Er war sehr gross, schien in früheren, besseren Zeiten die Rolle eines Hotelfoyers besessen zu haben, sollte jemand von der anderen Seite des Palastes über die Brücke kommen und hier zu Besuch kommen wollen. Alles war von Spinnweben verhangen, die Fenster waren so staubig, dass das ohnehin schon trübe Nebellicht nicht mehr war als ein Hauch, die Möbel verströmten den Geruch von altem Dachboden, was er aber nur dank seiner feinen Nase riechen konnte, denn der Gestank irgendeiner armen Kreatur, das sich in irgendeiner Ecke zum Sterben verkrochen hatte, überlagerte alles andere beinahe vollständig. Verschwinden lassen konnte es das wunderschöne Mosaikkunstwerk am Boden und das Deckengemälde, das leider zu grossen Teilen vom Schimmel zerfressen war, trotzdem nicht. Von der Pracht der Silberwände ganz zu schweigen.
Im Schutze des Raumes wurden die letzten Vorkehrungen getroffen. Mental.
Mile wollte sich nicht noch mehr verrückt machen, versuchte alles aus seinem Kopf rauszubekommen, für das er im Moment keinen Platz hatte. Er unterdrückte seine stete Panik, liess die Nervosität an seinen Fingerknöcheln aus und schob die letzten Schreckensstunden, die Peters Gesicht trugen, in die finstersten Ecken seines Bewusstseins.
Er wippte auf den Fussballen, als Hänsel schnalzte, sich die Aufmerksamkeit eines jeden mit einem strengen Blick sicherte, zur Tür schlich und diese mit einem wuchtigen und entschlossenen Tritt aufbrach.
Es knallte, der Monsterschlächter schob sich lautlos durch die aufgewirbelte Staubwolke, gefolgt von dem leisen Waffenklirren der ihm folgenden Xilsar.
Weiter ging es durch einen hohen und gleichermassen breiten Gang, der genauso unbenutzt schien wie das Foyer. Wieder Silberwände, Mosaikböden und bemalte Decken, die sich nun jedoch simpler hielten. Ab und zu mussten sie unter einer umgeworfenen Säule durchtauchen oder über ganze Reihen zerstörter Büsten vergangener Helden klettern. Das Knirschen, das die Granitbrocken dabei wie Kies in einer Einfahrt von sich gaben, kroch ihm jedes Mal in die Knochen und stellte die Härchen in seinem Nacken auf. Jedes Geräusch könnte der Verräter sein, der sie alle den Hals kosten könnte.
Die Pläne des Palastes, die die Rebellen während der letzten hundert Jahren in die Finger hatten kriegen können, waren unvollständig und aufgrund ihres Alters und Verfalls schwer zu lesen. Die meisten hatten die Dunklen kurz nach ihrer Machtübernahme auf dem ganzen Kontinent zerstören lassen, nur wenige hatten sie übersehen. Darum wussten sie nicht genau, wo der Ballsaal sich befand. Feststellen können hatten sie nur, dass sich der Raum, in dem die Büchse der Pandora aufbewahrt wurde, in dem unteren Drittel der geschätzt hundert Stockwerke liegen musste. Sie befanden sich jetzt im oberen Teil der Mitte. Wie sie sich erhofft hatten, war dieser Teil des Palasts weitgehend unbenutzt und verlassen, doch es war ihnen bewusst, dass, je weiter sie in sein Inneres vordringen würden, die Gefahr grösser wurde.
Ihre Befürchtung bestätigte sich...


~Sabrina~

Nachdem sie drei weitere Flure überwunden hatten, gelangten sie an eine Tür, hinter deren Fenster Licht brannte, wie immer von Staub und Zerfall getrübt, doch trotzdem klar erkennbar. Goldener, warmer Kerzenschein, nicht wie das kühle, weisse Licht des Nebels.
Hänsel, der noch immer die Spitze ihrer Truppe bildete, wie ein Bär vor einem Wolfsrudel, bedachte sie erneut mit einem seiner vielsagenden Blicke und es kam Sarina vor, als würde der Monsterschlächter sie alle warnen wollen. Vor dem was er gesehen hatte und was sie alle bald erleben würden. Doch dann flackerte sein Blick, er drehte sich um, brach mit einem schnellen Handgriff das Schloss auf und schritt auf leisen Sohlen durch.
Links Treppen aus weissem Marmor, jeweils eine nach oben und eine weiter nach unten. Rechts ein Tor, gegenüber eine einfache Dienstbotentür.
Noch war es einfach, sich für eine Richtung zu entscheiden. Runter.
Sie eilten die Treppe hinab, die gar nicht mehr aufhören wollte. Stockwerk um Stockwerk, vorbei an einem Flur voller Gemälde, einem anderen, der nach Seife duftete, noch einer, der ganz im Dunklen lag, ein weiterer, aus dem der Wind ihnen nachheulte, als hätte er sie entdeckt... Sie rauschten an ihnen vorbei, waren die Kulisse der Trance, in die sie mittlerweile verfallen waren. Stufe um Stufe, immer gleich, um Stufe um, der eigene Herzschlag im Ohr, Stufe um Stufe um, Atmen, Stufe, das Klappern der Pfeile, um Stufe, auf ihrem Rücken, Stufe, Atmen, um, das Klirren der Kettenhemden, Stufe um, Herzschlag, Stufe, Stufe, weiter hinab, um Stufe, Stufe, Stufe...
Auf einmal kam Nebelfinger neben ihr ins Straucheln und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, um ihre tolle Jagt nicht im Überschlag fortzusetzen. Das veranlasste Sabrina, stehenzubleiben, woraufhin Bree gegen sie prallte und sie beinahe beide umgestossen hätte.
»Pause«, keuchte Sabrina, die erst jetzt merkte, wie sehr sie aus der Puste war.
»Hat jemand die Stockwerke gezählt?«, knurrte Robin und nahm einen Schluck aus seinem Trinkschlauch.
Bree, die endlich aufgehört hatte, sich bei Sabrina zu entschuldigen, antwortete: »Zweiundzwanzig.«
Gretel rümpfte die lange, schmale Nase und zischte: »Ist noch ein Stück...«
»Braucht jemand irgendwas?«, erkundigte sich eine der Hellelfen, deren Name Asa war, wenn sie sich richtig erinnerte. Niemand gab ihr eine Antwort.
»Und den Ballsaal aufzuspüren wird wohl auch eine eher diffizile Angelegenheit werden...«, kommentierte Fjore und rieb sich über die kalkweisse Stirn.
»Was für eine Angelegenheit?«, plärrte Rosanna und fingerte ungeduldig an ihrer Nagelkeule herum, als könnte sie kaum erwarten, sie in das Hirn irgendeines Soldaten der Dunklen zu versenken.
Sabrina machte den Mund auf, um ihre Mitstreiter auf ihre Lautstärke hinzuweisen, als sie ein lautes Scheppern augenblicklich die Worte in ihrem Kopf vergessen liess.
Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, niemand wagte auch nur zu atmen.
Mehrstimmiges Lachen.
Das war von unten gekommen...
Sabrinas Blick suchte den ihres Bruders. Mile starrte ins Leere; sein typischer Gesichtsausdruck, wenn er von seinem übermenschlichen Gehör Gebrauch machte. Er blinzelte, schien genug gelauscht zu haben. Er keuchte: »S-Soldaten... unten. Es... es sind viele...«
Irgendwie schaffte es ein leises »Scheisse« gerade noch, über ihre Lippen zu huschen, dann stand sie schon nicht mehr am gleichen Ort, als hätten ihre Beine gelernt, sich ohne das Zutun ihres Hirns zu bewegen. Sie sprang die Treppen hoch, zurück in die obere Etage, wo der Wind sie mit seinem verhöhnenden Pfeifen empfing.
»Wohin?«, zischte sie mit vor aufkommender Hysterie zittriger Stimme. Blindlings stolperte sie weiter. Wo war Mile? Falk? Waren sie nicht eben noch hinter ihr gewesen?
Sie drehte sich um sich selbst, fand sich allein in dem windigen Flur.
Metall auf Stein, Schritte, Stimmen, aus der Richtung, aus der sie glaubte zu kommen.
Eine Hand legte sich über ihren Mund, presste ihn zu. Das Herz schien ihr in der Brust zu bersten, sie wehte sich mit allem, was sie hatte.
»Au, au! Psst, ich bin es!«
Erneut erlitt sie beinahe einen Infarkt. »Nebelfinger«, flüsterte sie erleichtert, als die Hand sich von ihrem Gesicht löste und sie sich zu ihm umdrehen konnte.
Er lächelte blass, zog sie hinter sich her in einen leeren Wandschrank und schloss die Türen hinter ihnen. Viel Platz hatten sie nicht, Nebelfinger musste seine Kriegssense quer halten und der Atem des anderen blies ihnen ins Gesicht.
»Wo sind denn alle hin?«, hauchte sie, noch immer hockte ihr der Schreck tief in den Knochen. Sie wusste selbst nicht genau, wieso sie so ängstlich war, auf diesen Tag hatte sie so viel trainiert. Auf dem Platz der Zähne in Aramesia, während des Marschs über die Hohlen Hügel, in den Waldgärten von Wyr... Aber ihr Wissen, ihr Training, die einstudierte, flinke, fliessende Bewegung ihres Arms hinter ihren Kopf, mit der sie im Schlafe einen Pfeil aus dem Köcher ziehen, ihn an die Sehne ihres Bogens legen und diesen mit einer kaum nennenswerten Kraftanstrengung und haargenauer Präzision mitten in das Auge jedes Gegners schiessen konnte, war weg... weg gewesen, denn nun war alles wieder da und sie ärgerte sich über ihre kopflose Panik.
»Alle haben sich versteckt. Was war mit dir los?«, fragte er noch leiser als sie selbst.
»Panik...« Vielleicht, weil auf einmal alles so schrecklich real war, so endgültig, so unabwendbar, Sieg oder Tod, es war völlig schwarzweiss.
Der dünne Spalt zwischen den Schranktüren warf einen Lichtstrich auf Nebelfingers Gesicht, der sich bog, als er die Brauen hob. Panik war gefährlich. Panik machte dumm. Panik konnte ihr Henker sein und das wusste der weisse Rabe genauso gut wie sie.
»Ich weiss«, flüsterte sie und starrte in die Dunkelheit, die ihre Füsse umgab.
Einen Moment schwiegen sie, lauschten auf Schritte oder Stimmen, aber da schien nichts mehr zu sein. Zur Sicherheit verharrten sie aber noch etwas länger in ihrem Versteck. »Wir haben alle Angst«, flüsterte ihr Cousin irgendwann , während er mit einem Auge durch den Türspalt spähte. Das Licht fiel genau durch seine Iris, rot wie ein Rubin. »Du darfst dich nur nicht von ihr beherrschen lassen. Mach sie zu etwas Nützlichem. Verwandle sie.«
Sie runzelte die Stirn. »In was denn? In ein weisses Kaninchen?«
Er gluckste. »In das, was du brauchst. Mut zum Beispiel.« Er hob eine Hand, langte in seinen Kragen, zog sich das Lederband, das darunter zum Vorschein kam, über den Kopf und reichte es ihr. Sieben Federn, eine weisse unter den sechs schwarzen, deren Enden von einer violetten Glasperle zusammengehalten wurden, strichen über ihre Handfläche.
»Das hat Mondkind mir vor ein paar Jahren geschenkt. Ich habe es immer behalten. Sie sagte, es würde auf mich aufpassen. Die Perle hat sie sich extra aus den Haaren geschnitten«, erklärte er leise und seine angespannten Züge wurden weich. »Eine Feder von jedem von euch?«
Er nickte. »Das mache ich mit meiner Angst. Ich mache sie zu Mut, weil ich mir vorstelle, dass ich so eine bessere Zukunft für meine Familie schaffen kann.« Er lächelte. »Nimm du sie, du gehörst auch zur Familie. Ich werde es auch ohne schaffen.«
»Danke!«, flüsterte sie berührt und legte sich das Lederband um.
»Klar doch. Ich glaube an dich, jetzt musst du nur noch an dich selbst glauben. Mach dich bereit, die Luft scheint rein...«
Sie nickte, zog einen Pfeil, legte ihn an die Sehne, die sie bis zum Kiefer spannte.
Nimmertiger stiess die Türen auf, das Schild erhoben, die Kriegssense über den Kopf gestemmt, bereit zuzustechen.
Tatsächlich waren sie allein im Flur und Sabrina wollte schon aufatmen, als ein gellender Schrei sie so erschreckte, dass sie einen Ziertisch erschoss.
Nebelfinger riss die Augen auf. »War das nicht...?«
Eher er seinen Satz beenden konnte, sprang die nächste Tür auf und Rosanna schoss hervor. »Sie haben jemanden entdeckt!«, fauchte sie. »Scheiss auf „keine Konfrontation"!« Sie riss ihre Nagelkeule in die Luft und stürmte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen und nun Rufe und Kampfgeräusche drangen.
Sabrina und Nebelfinger jagten ihr nach.

Robins Finger lagen krampfartig um den Schaft der Hellebarde, die ihn an die Wand nagelte wie eine Trophäe. Die Spitze hatte sich tief in seinen Bauch gegraben. Mit einem Ausdruck puren Entsetzens, den Mund zu einem nicht enden wollenden Schrei aufgerissen, sah er seinem Blut zu, das aus der Wunde auf den Fussboden sprudelte, wo es von dem hellen Teppich gierig aufgesogen wurde.
Zwei ihrer Heiler waren bereits zur Stelle. Während Asa mit geschlossenen Augen einen Zauber murmelte, versuchte der andere Lyrelvar, die Blutung mit einem abgerissenen Vorhang zu stillen, während Robins Schreie immer leiser wurden...
Der einstmalige Besitzer der Hellebarde lag mit einem Pfeil in der Schulter und gespaltenem Schädel in der Ecke, während die restlichen Soldaten der Dunklen gegen Aschenauge und Oskar kämpften.
Die beiden Xilsar versuchten mit aller Macht, ihre Angreifer von den beiden Hellelfen fern zu halten, doch die Lage schien aussichtslos. Der quadratische Raum war voll mit Soldaten, die die kleine Gruppe in die Ecke gedrängt hatten, ohne eine Fluchtmöglichkeit, denn aus dem Raum führten nur zwei Türen. Die, aus der die Soldaten in den Raum strömten und die, in der Rosanna, Nebelfinger und Sabrina standen.
Die Klinge des drittältesten Rabenjungens kreuzte sich mit der eines Gegners, während er mit dem Schild den nächsten abwehrte. Oskar stürzte sich mit einem gewaltigen Knurren auf einen anderen Soldaten und verbiss sich in dessen Gesicht, wobei beide zu Boden gingen. Diese Gelegenheit wollte sich ein weiterer Soldat nicht entgehen lassen. Er hob seine Axt, um sie auf den Rücken des Wolfs niederfahren zu lassen, als ihn ein Pfeil in der Brust traf und ihn zu Boden riss.
Ehe Sabrina es sich versah, hatte sie schon den nächsten Pfeil gezogen und ihn sirrend in den Hals eines weiteren Feindes gejagt.
Mit einem animalischen Kampfschrei schwang die Barbarentochter ihre brutale Waffe, zerfetzte einem Mann das Gesicht und traf den nächsten an der Schulter, in der die Nagelkeule stecken blieb. Ohne zu zögern trat sie ihm das Bein weg, sodass er umknickte, die Keule aus seiner Schulter gerissen wurde und ihm das Fleisch wie ein Rechen die Erde zerfurchte.
Einen Moment glaubte Sabrina, sich übergeben zu müssen, doch das war schnell vorbei, als sie gerade noch beiseite springen konnte, um dem Stich einer Partisane auszuweichen, die sich beinahe in ihren Oberarm gebohrt hätte. Die Soldatin holte erneut aus, ihr Gesicht war völlig ausdruckslos...
»Aaaah!«, brüllte Nebelfinger und seine Kriegssense riss der Angreiferin die Gurgel auf.
Ihr blieb keine Zeit, sich über all das Blut zu wundern, denn wie in einem Automaten wurde die tote Soldatin durch einen anderen ersetzt, dessen Leben sie in Sekundenschnelle mit einer fliessenden Bewegung und einem Pfeil beendete.
Der Griff zu den Pfeilen, das Anlegen, das Zurückziehen der Sehne, der Schuss, das Sirren, der dumpfe Aufprall, wenn die Spitze des Geschosses die Rüstung des Feindes durchbohrte, das leise Schmatzen, wenn es sich in Gewebe, Muskeln und Fleisch grub und... die Schreie... es wurde zu einem grässlichen Rhythmus.
Nebelfinger kämpfte neben ihr, deckte ihr den Rücken. Jedes Mal, wenn ein besonders wuchtiger Hieb seinen Schild traf, fürchtete sie, er würde in die Knie gehen, doch der Albinojunge blieb auf den Beinen. Immer wieder und wieder stiess er seine Sense in die Menge, spiesste auf...
Die Schreie, das Klirren, dieses nicht endende Echo in den Ohren. Eisen auf der Zunge, Pochen in den Schläfen...
Sie rutschte aus, klatschte auf den blutgetränkten Teppich, schlitterte weiter, knallte gegen ein fremdes Paar Beine. Über ihr schwebte das Gesicht eines Soldaten. Ihre vor Schrecken geweiteten Augen spiegelten sich in seiner Klinge, während seine eigenen starr waren wie die einer Puppe. Der Stahl peitschte auf ihr Bein nieder...
Das Eis fuhr aus ihren Fingerspitzen. Wie eine Raubkatze sprang die Kälte den Mann an, schlang sich um seinen Körper, frass sich durch Metall, Stoff, Fleisch bis auf die Knochen, liess ihn fallen, worauf sein Körper auf dem Boden aufschlug und barst wie eine Stickstoff-Blume.


~Mile~

Es war buchstäblich eine Schlacht.
Als Mile den Raum betrat, was sein erster Impuls, einfach umzukehren und so schnell zu rennen, wie seine Beine ihn tragen konnten.
War das hier jetzt wirklich seine Realität?
Die Soldaten der Dunklen waren nicht schwer von den Rebellen zu unterscheiden: Sie alle trugen die gleiche Rüstung, bestehend aus einem grauen Gambeson, auf dessen Brust eine grosse, rote Sieben prangte, vereinzelten Teilen einer schwarzrot bemalten Plattenrüstung und einem gleichfarbigen Helm. Die meisten von ihnen trugen Hellebarden oder Partisanen, einige besassen auch einen Schild, ein Schwert oder eine Axt.
Viele waren von ihnen waren nicht mehr übrig. Um sich am Kampf mit den letzten zwanzig zu beteiligen, musste er über den Krater aus Leichen steigen, der sich um die überlebenden Xilsar gebildet hatte.
Er erreichte Aschenauge und Oskar, die sich sichtlich erschöpft mit den letzten drei Soldaten auf ihrer Seite des Raumes schlugen.
Mile zog sein Schwert und machte kurzen Prozess. Er fiel sie von hinten an, stach dem Ersten in den Rücken, liess Kayat stecken, warf den Zweiten mit voller Wucht gegen die Wand und brach dem Letzten mit einer raschen Bewegung, die ihm Gretel während ihres Trainings beigebracht hatte, das Genick. Dabei war es ihm egal, dass er sie feige von hinten angegriffen hatte. Mit Ehre starb man...
Falk, Fjore und Katmo, die sich ihm angeschlossen hatten, warfen ihm nur einen kurzen, entrückten Blick zu, bevor sie sich den restlichen Soldaten widmeten, die sich bereits auf sie stürzten.
»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte er Aschenauge und Oskar, während er sein Schwert aus der Leiche des ersten Soldaten zog. Der erste, den er heute getötet hatte...
»Nein«, knurrte Oskar, dessen Pelz dunkler war als sonst. »Das ist ein Desaster, völlig unkoordiniert sind wir auseinandergestoben wie die Hühner...«
»Das sind keine Menschen«, unterbrach ihn Aschenauge. »D-die... Augen...«
Den Rest hörte Mile nicht mehr. »Sabrina!«
Sie stand inmitten von Bergen aus Körpern und Eis, aus denen in alle Richtungen Pfeile ragten, war blutbespritzt und in ihren Augen lag ein Ausdruck, den er noch nie gesehen hatte. Ein Pfeil sirrte von ihrer Sehne und sie wirbelte herum, um dem Soldaten hinter ihr eine eiskalte Druckwelle entgegenzuschleudern, die ihn augenblicklich erstarren, fallen und zerschellen liess, während ihr Pfeil im gleichen Moment in die Schläfe ihres ersten Gegners fuhr.
Auch Falk hatte sie entdeckt. Geschickt fing der Pirat den Kopf einer Streitaxt mit seinem Haken ein, riss sie dem letzten noch lebenden Angreifer aus den Händen und nutzte dessen Schwung, um ihn mit seinem Degen zu durchbohren.
Er erreichte Sabrina als erstes...


~Sabrina~

Ihre Pfeile waren tödliche Präzision, ihr Eis unaufhaltsam, doch mit jedem Schuss zitterte sie schlimmer, der letzte hätte sein Ziel beinahe verfehlt. Der nächste Pfeil klapperte leise gegen die Pfeilauflage, als sie herumschnellte, um einen Weiteren ins Jenseits zu befördern. Ihr Feind stand bereits vor ihr, sie hatte längst aufgehört, seine Züge zu lesen. – Um töten zu können, mussten ihre Feinde gesichtslos werden. Sie spürte, wie die Sehne von ihren Fingern glitt, bis sie seine Augen erkannte... Ozean... Gerade so konnte sie den Bogen noch zur Seite reissen, damit das Geschoss sich in die Wandtäfelung und nicht in Falks Stirn bohrte.
»Ist es vorbei?«, flüsterte sie, denn sie konnte ihre Stimme nicht finden.
»Aye«, antwortete er genauso leise wie sie.
Sie liess ihren Bogen los, wartete, bis sich seine Arme um sie gelegt hatten, er sie festhielt, dann erst erlaubte sie ihren Beinen, nachzugeben. Ihre blutgetränkte Brigantine war so schwer... Es tat gut, festgehalten zu werden, Nähe zu fühlen... »Nebelfinger?«, rief sie, ohne den Kopf aus seiner Schulter zu heben.
»Ja, hier... Ich lebe noch, aber...« Sie hörte ihn würgen.
Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. »Bist du verletzt?«
Mile? Wo war ihr Bruder denn auf einmal hergekommen? Sie sog tief Luft ein und bedeutete Falk, dass er sie loslassen konnte. »Nein, nur ein paar Schrammen«, antwortete sie und starrte ihm direkt in die Augen, als könnte das Waldgrün sie verschlucken. Doch das tat es nicht. Noch immer war es überall rot...
Sie blinzelte. »Was ist mit Robin?«, murmelte sie und stolperte um Mile herum.
Valyn kauerte noch immer in der Ecke, in die die Soldaten sie getrieben hatten. Seine bebenden Finger hatten sich in das Stück Vorhang gekrallt, mit dem er versucht hatte, Robins Blutung zu stoppen, was offensichtlich nicht geklappt hatte. Das Entsetzen hatte den Meisterdieb in den Tod begleitet, war auf seinem Gesicht erstarrt. Neben seiner Leiche lag Asa. Und neben Asa lag ihr rechtes Bein. Auch sie war verblutet...
Sabrina kniete sich neben Valyn und unterdrückte ein Würgen, als der Teppich bei ihrer Gewichtverlagerung ein feuchtes Schmatzen von sich gab. »Hey«, flüsterte sie. »Ich weiss, es ist schlimm, ich... habe so etwas auch noch nie gemacht...« Sie schluckte. »Ich habe noch nie so viele... Menschen getötet...«
Hinter ihr begann jemand zu lachen und als sie sich erbost umdrehte, entdeckte sie Lichterfänger, der sich auf sein Schwert stützte und den Kopf schüttelte. »Das waren keine Menschen mehr«, zischte er. »Hast du ihren Blick nicht gesehen? Wie... ausdruckslos ihre Gesichter waren?«
»Von was redet der?«, fragte Rosanna, die versuchte, die Stückchen, die zwischen den Nägeln ihrer Keule kleben geblieben waren, am Gambeson eines der Gefallenen zu säubern. »Ich hab nicht sonderlich auf die Visagen der Typen geachtet.«
»Sind wir davor nicht gewarnt worden?«, fragte Fjore, der sich mit einem seidenen Taschentuch, das völlig unerklärlicherweise noch immer blütenweiss war, das Blut von den Mundwinkeln tupfte. »Gehirnwäsche. Irgendeine neue Erfindung, ein Fluch oder ein Zauber, der die Zivilisten auf ihrer Seite kämpfen lässt?«
»Ihr... Ihr meint, das waren alles...« Das Fell des gestiefelten Katers sträubte sich am ganzen Körper.
»Unbeteiligte? Unschuldige? Zivilisten? Aber ja. Ich dachte, das wäre allen hier klar...« Der Vampir schob mit dem Fuss den Helm vom Kopf einer Leiche. »Fand es denn niemand verdächtig, dass das hier alles Menschen sind?«
»Was hat das denn damit zu tun?«, fragte Mile mit blockierter Stimme.
»Der menschliche Verstand ist am einfachsten zu brechen«, antwortete er und lächelte spitze Eckzähne.
Wieder würgte Nebelfinger und dieses Mal schaffte er es nicht...
»Bei Klyuss«, knurrte Falk und betrachtete schockiert das Blut, das an seinem Haken klebte. »So viel zu dem Plan, die Zivilisten möglichst nicht zu verletzen...«
»Da kommt jemand!«, zischte Mile und deutete auf einen der Eingänge.
Sofort postierten sich alle ausser Blickfeld der Tür, die Waffen gezückt.
Ein entsetztes »Im Namen aller Himmel!«, veranlasste Sabrina, ihren Bogen wieder zu senken. Red trat in den Raum, die Hand vor Schreck auf den Mund gepresst, den Blick auf die Leichen geheftet.
Eine ähnliche Reaktion folgte von den restlichen Xilsar, die der Roten folgten.
Nun waren sie wieder vollständig... abgesehen von Robin und Asa...
Als Jian ihre tote Artgenossin entdeckte, entfuhr ihr ein stummer Schrei. Mehr fallend als gehend eilte sie auf die tote Elfe zu, fiel neben ihr auf die Knie, schluchzte bitterlich und küsste immer wieder die blasse Hand der Toten.
»Try aiea«, erklärte Valyn leise und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Ihre Liebe...
»Was bei allen Teufeln dieser Welt habt ihr euch hierbei gedacht?«, schimpfte Jeremy Topper mit einer ausladenden Bewegung. »Das ist nicht, was man unter keine Konfrontation versteht! Die Schlacht wird«, er deutete durch die Wand, »da draussen geführt! Wir sind nicht deshalb hier!«
»Wieso? Ist doch gute Arbeit«, stellte Gretel fest. Sie bückte sich ein Stück, um den Halsstumpf eines abgeschlagenen Kopfs zu mustern, zog Brauen und Unterlippe hoch sowie die Mundwinkel runter und nickte. »Sauber!«
»Danke für die Anerkennung! Wir haben diese Trottel gerettet! Sie hatten Robin, die beiden Spitzohren, den Wolf und Aschen... Aschennase oder wie der Typ heisst, entdeckt«, verteidigte Rosanna ihr Eingreifen.
»Auge«, brummte der Rabenjunge etwas pikiert, aber versöhnlich und deutete auf sein andersfarbiges Auge.
»Nein!«, knurrte der Hutmacher und begann vor Erregung leicht zu schielen. »Wir hatten klare Befehle, einen einfachen Plan! Kein Kampf!«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Soll das heissen, wir hätten sie einfach im Stich lassen sollen?!«
Der Hutmacher machte ein gequältes Gesicht. »Unser Auftrag ist...«
»Mein Bruder wäre umgekommen, hätte niemand geholfen«, unterbrach Nebelfinger Jeremy so aufgebracht, wie man es selten an ihm sah.
»Meiner auch«, stellte Red mit strengem Gesichtsausdruck fest.
Der Hutmacher seufzte. »Ich weiss, aber das hier, unsere Mission... zu viel hängt davon ab und...«
»Nein!«, donnerte Nebelfinger und Sabrina zuckte erschrocken zusammen. Der Junge, der so weiss war wie der Nebel hinter den Wänden des Palasts, strahlte auf einmal eine Entschlossenheit aus, wie sie sie erst einmal an ihm gesehen hatte. In Mondkinds Erinnerungen...
Jeremy Topper schien es ähnlich zu ergehen, denn er machte grosse Augen.
»Hutmacher, das wird nicht diskutiert!« Er baute sich vor Jeremy auf und obwohl dieser weit doppelt so gross war wie er, machte Nebelfinger für diesen Moment mehr Eindruck. »Wenn es um Familie geht, wird nicht verhandelt!«
Jeremy Topper sagte nichts. Es entstand ein Blickduell zwischen ihm und dem Albinojungen, das erst endete, als Rosanna laut seufzte, ihre Nagelkeule schulterte und plump wie immer verkündete: »Leck mir einer einen Bieber, wenn es was zum Verkloppen gibt, bin ich dabei. Der Weisse hat gewonnen, Hutmacher. Und jetzt los, gehen wir weiter. Die Leichen lassen wir hier, die sind nur Ballast.« Mit einem Tritt gegen einen Helm, in dem noch ein Kopf steckte, trabte sie aus dem Raum. Aus dem Flur hörte man sie rufen: »'S ist das Blut, kleiner Rabe. Weiss und rot macht sich gut!«


~Mile~

»Wie handhaben wir das, wenn wir das nächste Mal einem Trupp begegnen?«, fragte er Hänsel.
Der Dämonenjäger antwortete nicht. Er konnte es nicht, denn er hatte sich den Korken einer Phiole zwischen die Zähne geklemmt, deren Inhalt er eben über eine seiner Tätowierungen träufelte. Kurz glomm die verschnörkelte Rune auf, dann erlosch ihr schein auch schon wieder. Hänsel stöpselte die Phiole wieder zu und steckte sie an eine Halterung in seinem Gürtel. »Entschuldigt, Mylord. Nur ein Zauber. Bringt mehr als eine Rüstung.« Kurz sah er in Miles Richtung und antwortete auf seine Frage: »Wir kämpfen.«
»Bist du dir sicher, dass...«
»Wir bleiben zusammen und kämpfen«, wiederholte Hänsel bestimmt. Etwas weicher erklärte er: »Wenn wir uns trennen, sind wir viele kleine Ziele, alle einfach zu überrennen. Und wir haben zu viel Zeit miteinander verbracht, als dass wir einander im Stich lassen könnten.«
Mile schluckte. »Drosselbart hätte das bestimmt auch so geplant, das mit dem zusammenbleiben«, brummte er. »Er hatte von Anfang an gewollt, dass wir einen Teamgeist bilden...«
Hänsels Antwort war ein Grunzen, womit Mile sich zufrieden gab.
Die Xilsar hatten beschlossen, sich eine andere Treppe zu suchen. Eine, die weniger zentral war. Die Gefahr, einem Wachtrupp zu begegnen, war so gemildert. Bisher war ihre Suche jedoch erfolglos gewesen und so irrten si noch immer durch die Flure des Stockwerks des ominösen Windes.
»Sie wird Alpträume haben«, knurrte Hänsel auf einmal. »Und sie werden niemals verschwinden.«
Er horchte auf. »W-was?«
»Deine Schwester«, antwortete der Dämonenjäger. »Du hast sie gesehen...«
Miles Blick heftete sich auf den Rücken seiner Schwester. Ihre dunkelblaue Brigantine war nun noch dunkler, fast schwarz. Der weisse Bogen auf ihrem Rücken hatte überall rote Spuren. Vermutlich hatte sie es dem magischen Köcher und deren nie endender Pfeilreserve zu verdanken, dass sie überhaupt noch lebte.
»Sie... wird klarkommen«, meinte Mile und war sich einen Moment selbst nicht sicher, ob er mit Hänsel oder sich selbst gesprochen hatte. »Ich musste auch schon töten.«
»Du bist nicht wie sie«, widersprach der Dämonenjäger. »Mile, du bist ein Killer...«
»Pff, nein, ich...« Er stockte. Killer? »Nein!«
Ein sehr, sehr müdes Lächeln umspielte Hänsels Lippen, was sanft hätte wirken können, wäre da nicht die Narbe, die seine Gesichtshälften neu definierte. »Das habe ich mir auch eingeredet, lange, lange Zeit. Aber es hilft nichts, sich vor der Wahrheit zu verstecken. Das Töten fällt dir leicht, mein Freund, und in einer Welt wie dieser ist das nicht einmal etwas Schlechtes...«


~Sabrina~

Es war das Bild, das sie darauf brachte. Erst war sie daran vorbeigelaufen, hatte sich nichts dabei gedacht, dann hatte sich ganz weit hinten in ihrem Gedächtnis etwas geregt. Eine Erinnerung, unscheinbar und doch so, so wichtig.
Das Bild. Ein Gemälde, wie sie hier zu tausenden die Wände zierten. Eine Herrscherin vergangener Jahrhunderte mit allem Drum und Dran: Rüstung, Waffen, Insignien der Macht, Schmeichelnde künstlerische Freiheiten, Heldenpose, Froschperspektive und ein grosser schwarzer Brandfleck, wo das Gesicht gewesen war. So handhabten die Dunklen es scheinbar mit allen Bildern, die in irgendeiner Weise die Herrscher der Gezeiten anpriesen oder ihre Regierung glorifizierten. Sie hatten die Gemälde mit Farbe, Feuer, Dreck und allem, was ihnen sonst so eingefallen war, demoliert. Meistens nur das Gesicht, in manchen Fällen hatten sie es aber auch auf andere, bevorzugt intimere Körperregionen abgesehen oder sie hatten die hohe Kunst des naturalistisch geprägten Realismus' mit obszönen eigenen Schmierereien ergänzt.
Dieses Gemälde war einer schlichteren Verschandelung unterzogen worden. Die Dunklen hatten es darauf belassen, das Gesicht der vergangenen Herrscherin auszubrennen.
»Was ist?«, brummte Falk, der neben ihr vor dem Gemälde stehen geblieben war.
»Es...keine Ahnung... ein Déjà-vu?«
Er sah sie besorgt an. Schon seit er sie gefunden hatte in... dem Raum... behandelte er sie, als wäre sie auf Glas. Zugegeben, dieser Tag zählte schon jetzt zu den Top drei der schlimmsten ihres Lebens und dieses... Massaker würde sie auf ewig verfolgen, aber sie wusste, wann sie es sich leisten konnte, zusammenzubrechen und wann nicht. Das Erlebnis war frisch genug, um es zu verdrängen. »Hey, ich bin nicht so zerbrechlich, wie du denkst.«
Sein Blick flackerte. »Ich weiss, wie das ist, Sabrina. Du denkst, das Töten wird leichter, du denkst, du wirst kalt und du hältst das aus, aber du lügst dich selbst an.«
Der unerklärliche Wind der Etage blies ihr eine verirrte Strähne ins Gesicht. »Reden wir ein andermal drüber, in Ordnung?« Sie schlossen sich wieder der Truppe an.
»Hey Sabrina«, plärrte es plötzlich hinter ihr.
Sie drehte sich zu Faritales um, der mit nachdenklichem Gesichtsausdruck vor dem Gemälde flatterte. »Das Bild habe ich schon einmal gesehen. Weisst du noch? Da sind wir doch Klamotten für dich holen gegangen und...«
»Ja!« Sie warf die Hände in die Luft. Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»W-was denn?«, fragte Falk, der ein Gesicht machte, als würde sie sich weigern, ihn in einen Insider einzuweihen.
»Ich habe dieses Bild tatsächlich schon gesehen!« Hastig drehte sie sich um sich selbst, suchte nach dem Hutmacher, der sie in den letzten Stunden durch den Palast geführt hatte. »Jeremy!«, rief sie, als sie ihn entdeckt hatte.
Mit strengem Blick drehte der Hutmacher sich zu ihr um, einen Fingerhut an den Lippen.
Mit gedämpfter Stimme, aber nicht minder aufgeregt, erzählte sie ihm von Faritales' und ihrer Entdeckung.
»Okay... und was soll uns das nun bringen, dass du dieses Gemälde kennst?«, fragte der Hüter sie mit unbespielter Skepsis.
»Vielleicht... kann es uns weiterhelfen. Ich bin mir nicht sicher, ich kann wirklich keine Garantie darauf geben, aber vielleicht ist da jemand, der uns helfen könnte...«
»Das ist ehrlichgesagt der erste gute Vorschlag, den ich bisher gehört habe. Es ist sogar der einzige Vorschlag«, knurrte Hänsel und knackte mit den Fingerknöcheln. »Wir können auch noch Tage hier herumirren, aber ich halte es für sinnvoll, diesen Anhaltspunkt zu nutzen, wenn wir schon einmal einen haben.«
Der Hutmacher nickte. »Ist jemand explizit dagegen?«
Niemand meldete sich, selbst Rosanna schien das Herumirren leid zu sein.
»Gut, dann los!«, schloss sie die Abstimmung ab. Flink steckte sie sich ihren Zeigefinger in den Mund und hielt ihn in die Höhe, um die Richtung des Windes auszumachen.

Die Tür des Waschraums hing lose in den Angeln, wurde von dem Sturmwind unaufhörlich immer wieder aufs Neue gegen die Wand geschlagen, was einen riesen Krach verursachte.
Es schien so, als hätten die Dunklen allem, was Hände und Füsse oder etwas Ähnliches besass, eine Waffe in die Hand gedrückt und es auf das Schlachtfeld geführt. Sie waren nicht einem Bediensteten – oder Sklaven – begegnet, obwohl laut des Herzkaspers dies das Quartier der Arbeiter sein sollte.
»Was jetzt?«, brüllte Hänsel gegen den Krach an, den der Wind, der zuvor nur eine leichte Brise gewesen, nun aber ein regelrechter Tornado war, verursachte.
»Ich muss da rein!«, antwortete sie.
»Ich komme mit!«, legte Falk sofort fest.
»Ich auch!«, rief Faritales.
»Bevor sich jetzt alle freiwillig melden, gebiete ich hier Einhalt. Ich schliesse mich aus Sicherheitsgründen an, der Rest der Truppe bleibt hier und überwacht den Flur.«
Mehr oder minder begeistert fügten sich die Xilsar Jeremy Toppers Befehl und verteilten sich in der Nähe der Abzweigungen.
Zu viert näherten sie sich der knallenden Tür.
»Was erhoffst du dir eigentlich hiervon?«, brüllte der Traumdämon, der sich, um nicht vom Winde verweht zu werden, an ihrem Plattenkragen festklammerte.
»Ich habe da so einen Verdacht...«

Der Wind war stärker als das letzte Mal, als sie den Waschraum des Zeitpalasts betrat. Nur wenig Wäsche hing auf den Leinen, die meisten Laken und Kleidungsstücke hatte der Sturm mit sich gerissen.
Sabrina liess einen kleinen Eiskegel in ihrer Hand wachsen und leitete etwas von ihrer Energie in ihn, um ihnen Licht zu spenden. War es das letzte Mal auch schon so dunkel hier drin gewesen? Nein, stimmt, damals hatten im Vorraum Laternen gehangen. Nun hatten sie nur noch die Fliegerbrillen vorgefunden, die ihre Augen vor dem beissenden Wind schützten.
Falk tippte ihr auf die Schulter. Er versuchte, ihr irgendetwas zuzurufen, doch sie konnte ihn nicht verstehen. Seine Augen, die sie durch die runden Gläser der Schutzbrille nur etwas verschwommen sehen konnte, blickten fragend.
Sie zuckte mit den Schultern.
Der Pirat verzog die Lippen. Er schien einen Moment nachzudenken, dann steckte er sich, wie sie es zuvor getan hatte, um den Waschsaal zu finden, den Finger in den Mund und prüfte den Wind. Noch immer war die Handfläche verbunden, denn der Fuchsbiss war nicht verheilt. Falk nickte wissend und winkte seinen Begleitern, ihm zu folgen.
Etwas verwirrt folgten sie ihm, als er sich mit flatterndem Mantel gegen den Sturm stemmte, bis er an der Wand angekommen war. An dieser lief er weiter, sein Blick suchte den Putz ab. Tatsächlich war der Waschsaal einer der wenigen Räume des Zeitpalasts, die Sabrina ohne Versilberung an den Wänden gesehen hatte.
Falk wurde schneller, er hatte scheinbar etwas entdeckt. Er machte halt vor einem Kniehohen Podest, das in den Boden eingelassen war. Wie eine Truhe hatte es einen Deckel, der mit einem Schloss gesichert war, das der Pirat aber mit einem spöttischen Lächeln und einem Ruck seines Hakens mit Leichtigkeit aufbrach. Achtlos warf er den Deckel um, sodass dieser im hohen Bogen aufschwang, bis seine Scharniere ihn stoppten.
Falk langte in die Öffnung, tastete, bekam etwas zu greifen und zog mit einem triumphierenden Grinsen ein Sturmglas hervor, das er mit einigen geübten Fingergriffen verstellte.
Die Veränderung machte sich augenblicklich bemerkbar. Der Sturm zog ab, verebbte zu einem leichten Wind, bis auch der verflog.
»Kein Zauber erschafft bessere Winde als ein Sturmglas«, knurrte der Pirat und verstaute das wertvolle Gerät in der Innentasche seines Mantels.
»Sehr schön«, brummte Jeremy Topper. »Ich hatte schon Angst, dieser Sturm würde mir noch die Federn vom Zylinder reissen!« Etwas fahrig begann er, seinen Hut abzutasten.
Sabrina ging ein paar Schritte weiter, kniff die Augen zusammen und spähte durch den riesigen Raum. Noch immer wippten die Leinen – das Nachbeben des Windes. Sie formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Sero! Komm raus! Ich bin es, Sabrina!«
Der Hutmacher liess von seiner Kopfbedeckung ab. »Du kennst Sero?«
»Hab ihn auf der Traumreise durch dieses Höllennest kennengelernt. Ich dachte, du weisst das.«
Der Hutmacher schüttelte den Kopf. »Mondkind hat mir auf ihre Art berichtet, was du hier erlebt hast, aber dieses Detail hat sie ausgelassen. Erstaunlich, dass der alte Bettvorleger noch lebt. Ich hätte wetten können, dass die irre Königin ihn schon längst um seinen Kopf erleichtert hat.«
»Stimmt ja, ihr habt Vergangenheit«, murmelte sie.
Der Hutmacher nickte. »Keine Spur von ihm«, knurrte er. »Na warte, diesen Angsthasen werde ich aus seinem Bau locken...« Er räusperte sich und rief: »Sero, alter Freund, komm raus! Ich bin es, Jeremy! Du brauchst dich nicht sorgen, die Dunklen sind nicht hier. Hier sind nur Freunde! Komm raus!« Mit dem Anflug eines Lächelns fügte er hinzu: »Du willst doch nicht etwa zu spät kommen?«
Vermutlich war es die zwanghafte Pünktlichkeit des Kaninchens, das es aus der Reserve gelockt hatte, denn auf einmal tauchten zwei weisse Löffelohren hinter einem Wäschekorb auf der rechten Seite des Raumes auf und kurz darauf hopste Sero über die Dielen auf sie zu.
Das weisse Kaninchen sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Blaues, abgenutztes Jackett, zerfetzte, löchrige Hose, Taschenuhr, nervöses Zittern. Als es vor ihnen sass, zog es ein Monokel aus der der Brusttasche und klemmte es sich ins Auge.
»Hutmacher!« Sero schwellte die Brust und stemmte die Arme in die Hüften. »Dass ich dich noch einmal wiedersehen würde, hätte ich nicht gedacht!«
»Meine Rede!«, antwortete Jeremy Topper mit einem ehrlichen Lachen und ging in die Knie, um dem Kaninchen mit dem Zeigefinger die Pfote zu schütteln. »Dass die Herzkönigin dir den Kopf noch nicht abschlagen lassen hat....«
Der Animanor verdrehte die roten Augen. »Damit droht sie mir jedes Mal, wenn ich zu spät komme.«
»Hallo Kaninchen«, begrüsste nun auch Sabrina ihren einstmaligen Retter. »Ich bin auch froh, dich in einem Stück zu treffen.« Sie ahmte die Begrüssung des Hutmachers nach und blieb gleich auf dem Boden knien, um die Frage zu stellen, die ihr Gewissen schon seit Wochen plagte. »Wie geht es dem Herzkasper?«
Die Schlappohren des Kaninchens begannen nervös zu zucken. »Niemand hat von ihm gehört. Gerüchten zufolge, hat ihn der Tod auf Zeit...«
Sie schloss die Augen. »Nein...« Sie hatte es befürchtet...
»Es ist nur ein Gerücht«, versuchte Sero sie zu trösten und sie spürte seine weichen Pfoten auf ihrer Hand. »Vielleicht lebt er noch!«
Sabrina massierte sich die Schläfen, schüttelte den Kopf, blinzelte sich die bereits starr werdenden Tränen aus den Augen, stand auf und nickte ihm zu.
»Hoffen wir es...«, brummte Faritales und bot Sero zur Begrüssung seine Faust an. Als das Kaninchen seine geballte Klaue nur verwirrt musterte, forderte er ihn auf: »Hau rein! Ghettofaust, Kumpel!«
Jeremy Topper schüttelte den Kopf. »Okay, genug geredet und... herumgealbert. Sero, wir brauchen deine Hilfe.«
»Nein!«, rief das Kaninchen sofort. »Nein, ich lasse mich in nichts mehr reinziehen! Könnt ihr vergessen, nichts da!«
Sabrina seufzte. »Sero, du musst nicht kämpfen oder so was, du musst nur...«
»Nein!«, beharrte das Kaninchen. »Ich riskiere für nichts mehr mein Leben. Nachdem die Dunklen erfahren hatten, dass du hier warst, junge Eisprinzessin, war hier die Hölle los! Die haben jeden eigesperrt, gefoltert und aufgeknüpft, der irgendwie mit dem Herzkasper zu tun gehabt hat oder sich anderweitig verdächtig gemacht hatte. Ich bin abgehauen, hab mich versteckt, wie alle anderen, die schlau genug waren. Aber der Wiederstand ist am Ende! Es gibt ihn nicht mehr, Sabrina!«
Sie blinzelte überrascht. Dass es so schlimm war, hatte sie nicht erwartet.
»Wie kommt es eigentlich«, mischte sich nun auch Falk in das Gespräch ein, »dass du, Kaninchen, noch bei Sinnen bist? Wir haben vorhin andere Zivilisten getroffen und...« Er verstummte. Sie spürte seinen Blick auf sich und machte ein starres Gesicht.
»Es ist im Trinkwasser«, murmelte das Kaninchen. »Es gibt keinen Brunnen in ganz Tempus, den die Dunklen nicht vergiftet haben.« Er stockte. »Anfangs hatte ich mich in die Katakomben zurückgezogen, zusammen mit den anderen Widerstandskämpfern. Das Regenwasser, das in den Strassen die Gullys runter ist, konnte man trinken. Das hat vielleicht eine Woche oder so funktioniert. Aber dann sind die Dunklen uns auf die Schliche gekommen und haben die Katakomben geräumt. Säuberung haben sie es genannt...« Das Zucken seines Ohrs ging auch auf eines seiner Augen über. Sero war ein Nervenbündel. »Wir haben uns aufgeteilt. Es gab einige Überfälle auf die Wasservorräte der Dunklen. Einer ist geglückt und die Beute wurde unter den Widerstandsgruppen aufgeteilt. Meine wurde aber vor zwei Wochen...« Er beendete den Satz nicht, stockte, seufzte tief und fuhr fort: »Ich habe mich wieder in den Palast geschlichen. Das ist der Vorteil, wenn man so klein ist wie ich – man wird leicht übersehen. Tja und seither verstecke ich mich hier, ernähre mich von Seifenwasser und dem, was die Küchenabfälle hergeben...«
Falk nickte. Er schien dem Kaninchen zu glauben.
»Mit was haben die Dunklen die Brunnen vergiftet?«, hakte Jeremy Topper nach. »Ist es ein Gift? Ein Zauber? Ein Fluch?«
Das Kaninchen schüttelte den Kopf, sodass die Schlappohren flogen. »Ich weiss es nicht. Ich habe nur gesehen, was es mit den Leuten macht.« Er dämpfte die Stimme, als könne ihn sonst der Fluch, oder um was auch immer es sich dabei handeln, auch treffen. »Am stärksten wirkt es bei den Magielosen. Die Menschen haben am schlimmsten reagiert. Himmel, wie leblos sie alle auf einmal gewirkt haben. Wie ferngesteuert, völlig emotionslos...«
Sabrina dachtet an die abgeschlachteten Soldaten... die leeren Blicke... »Ich weiss«, brummte sie. »Ich habe sie gesehen...«
Sero nickte. »Sie kämpfen, als wäre ihnen im Leben nichts mehr wichtig, achten nicht auf Verluste... Sie haben meine Verbündeten abgeschlachtet, hätte uns der Teufel geholt, wäre ich jetzt glücklicher!«
Falk schnaubte. »Kommt drauf an welcher...«
»Wie auch immer, alter Freund«, rief der Hutmacher und klatschte in die Hände. »Ich weiss, du bist ein Feigling, aber dieses Mal hast du keine Wahl.« Seine Mine wurde diabolisch. »Entweder du hilfst uns oder ich werde dir eigenhändig den Pelz abziehen und eine Uschanka daraus nähen!«
Das Kaninchen, das bei dem Gedanken, als russische Pelzmütze zu enden, nervös mit dem Fuss zu klopfen begann, mümmelte: »D-das würdest du nicht wagen!«
»Oh doch!«, knurrte der Jeremy. »Oder hast du etwa schon vergessen, was ich mit dem Märzhasen angestellt habe, als er versucht hatte, mir den Zylinder zu stehlen?«
Sero zog sich die Löffel lang. »Was braucht ihr?«
»Der Ballsaal«, knurrte Falk. »Wo finden wir ihn?«

Sero liess sich vom Hänsel tragen und dirigierte die Truppe durch den Palast. »Was wollt ihr eigentlich im Ballsaal?«, fragte das Kaninchen mit grossen Augen an Sabrina gewandt.
»Wir haben zuverlässige Informationen, dass die Dunklen dort die Allmachtspieluhr aufbewahren«, antwortete sie ihm und spähte mit gespanntem Bogen um die nächste Ecke. Nur ein weiterer leerer Flur. Die Luft schien rein zu sein, ihre Haltung entspannte sich und sie nickte ihren Verbündeten zu.
»Im Ballsaal«, wiederholte das Kaninchen. Es klang wie eine Frage.
»Ja«, antwortete Mile, dem das Kaninchen noch immer nicht ganz geheuer zu sein schien. »Warum, was ist damit?«
Sero zuckte mit den Schultern. »All die Jahre, in denen ich hier schon durch die Gänge eile, um den falschen Herrschern zu dienen... und die Quelle der Macht der Dunklen hatte ich die ganze Zeit vor der Nase.« Er schnaubte. »Es gibt hier so viele Geheimgänge, versteckte Räume, Labyrinthe und verwunschene Orte... wer hätte gedacht, dass die Spieluhr sich an einem so banalen Ort befindet?«

Wie sich herausstellte, war das Kaninchen Gold wert. Einmal mehr machte sich sein Kontrolltick bezahlt. Es vermied die Hauptwege, führte sie durch schmale Seitengässchen, Dienstbotentreppen, verlassene Flure. Selten mussten sie sich vor Wachtruppen verstecken, was die letzten Male um einiges koordinierter und ohne Verluste geklappt hatte. Und schliesslich hatten sie ihn erreicht, den Eingang des Ballsaals. Bewacht von nicht mehr als einem halben Dutzend Spielkartensoldaten der Herzkönigin, die Hänsel und Mile mit drei Schwerthieben und einem Feuerstoss erledigt hatten.
Auch das grosse Vorhängeschloss war schnell geknackt. Das einzige was sie jetzt noch von der Büchse der Pandora trennte, was ein gewaltiges Tor aus Ebenholz und das, was sich dahinter verbergen mochte.
»Ich finde, die Ehre gebührt den jungen Herrschern«, verkündete Jeremy Topper und deutete mit einem Kopfnicken auf die Türklinke. Doch ehe eines der Geschwister auch nur die Hand ausstrecken konnte, rief Rosanna: »Blödsinn!«, sprang vor und trat gegen das Holz, sodass die Flügeltüren mit einem Quietschen aufschwang.


~Mile~

Seine Spuren im Staub, der alles im Raum wie grauer Schnee bedeckte, enthüllten den glattgewienerten Parkettboden, in dem sich das Deckengemälde, das einen funkelnden Sternenhimmel zeigte, spiegelte. Im Licht, das durch die fünf riesigen Buntglasfenster an der gegenüberliegenden Wand Einlass hatte, tanzten die durch ihr Eintreten aufgewirbelten Staubkörner, wie es früher einst die Gäste der Feierlichkeiten in diesem Raum getan hatten. Haushohe Säulen aus weissem Marmor umgaben die Tanzfläche, die allein schon die Grösse eines Fussballfeldes hatte. Hinter besagten Säulen standen oder lagen längliche Tische, auf denen einstmals das Buffet ausgestellt worden war. Prächtige Rüstungen und Waffen, Schnitzer-und Bildhauereien, Gemälde und Jagdtrophäen schmückten die Wände links und rechts, wo keine Fenster den Platz einnahmen. Weiter vorne im Raum, gleich unter den Fenstern, ragte eine Erhöhung in Form eines Halbkreises aus dem Boden. Dort lagen einige umgeworfene oder zerbrochene Stühle. Das mussten die Plätze der Monarchen und Herrscher gewesen sein. Das einzige was auf dem Podest noch intakt zu sein schien, war eine hölzerne Büste, auf der ein kleines, schwarzes Kästchen stand.
»Wow!«, rief Sabrina neben ihm. Vorsichtig, als würde sie dem Boden misstrauen, dass er sie tragen würde, setzte sie einen Fuss vor den anderen. »Das ist, als würde man auf Wolken gehen...«
Mile runzelte die Stirn. Er konnte die Begeisterung seiner Schwester nicht ganz teilen. Irgendetwas stimmte hier nicht... Er bückte sich und die Hand in den Staub legte. Weich, wie das Fell einer Katze...
»Alles in Ordnung?«, fragte Red, die sich neben ihm niedergelassen hatte.
»Ich weiss nicht...« Er schüttelte den Kopf. »Sieh nur, fingerdick liegt hier der Staub...«
»Es war lange niemand hier«, antwortete sie und machte ein ebenso nachdenkliches Gesicht wie er.
»Aber wenn die Allmachtspieluhr hier ist, wieso...«
»Seht mal, wir sind ganz aussen«, rief Rosanna, die bereits in der Mitte der Tanzfläche stand und auf die gegenüberliegende Wand deutete, durch deren riesige Fenster das Tageslicht fiel. Der Nebel schien sich mittlerweile verzogen zu haben. Draussen schien die Sonne. Von der Stadt konnte Mile von hieraus nichts sehen, doch die tausend Rauchschwaden, die das Tageslicht trübten, sprachen für sich...
»Bleibt zusammen!«, ermahnte Hänsel die Gruppe. »Wir wissen nicht, was hier für Fallen auf uns lauern könnten.«
»Ich erinnere mich!« rief Jeremy Topper, der Hänsels Warnung nicht einmal gehört zu haben schien. »Oh die Erinnerungen!«, rief er und drehte sich um sich selbst. »Ich erinnere mich an diesen Raum!«
»Zusammenbleiben!«, ermahnte Hänsel sie erneut und dieses Mal schienen ihn tatsächlich alle gehört zu haben.
»Warte mal«, meinte Mile, während er sich wieder aufrichtete und sich zu allen anderen in die Saalmitte begab. »Jeremy, du warst schon hier?«
Der Hutmacher lächelte verlegen. »Ja, aber das ist so lange her... Eines der Feste, die deine Eltern abgehalten hatten... Ja, es muss die Hochzeit gewesen sein.« Die Melancholie schlich sich in seinen Blick und er schüttelte sie mit einem Kopfschütteln ab.
Sero, der sich unter dem Zylinder des Hutmachers verkrochen hatte, liess dumpf vernehmen: »Stimmt, stimmt, die Hochzeit! Was für ein Fest...«
Der Hutmacher nickte verträumt. »Ein andermal...«
»Ich kann es mir genau vorstellen«, murmelte Sabrina. »Mama hat uns oft davon erzählt. Wie sie in einem weissen Kleid über das Parkett geschwebt ist und Paps ihr mit seinen ungelenken Schritten auf die Füsse getreten ist. Wie fröhliche Musik den Raum gefüllt hat...« Sie hielt inne und rümpfte die Nase. »Muss furchtbar kitschig gewesen sein, wenn ich es aus heutiger Sicht betrachte, aber...«
»Hier sind keine Wachen«, unterbrach Red sie auf einmal. »Müssten hier nicht irgendjemand sein und das ganze Bewachen?«
Gretel zuckte mit den Schultern. »Die Dunklen haben vermutlich nicht damit gerechnet, dass es irgendjemand bis hierher schafft...«
»Wo ist diese Spieluhr denn jetzt überhaupt?«, fragte Katmo.
Hänsel deutete auf das Podest. »Vermutlich dort, auf diesem Sockel...«
Die Xilsar, von denen noch zwanzig übriggeblieben waren, blickte zu dem Podest.
»Mile und ich gehen«, beschloss Sabrina. »Darum sind wir doch hier. Um die Spieluhr zu entschärfen.«
Alle nickten.
Seine Schwester legte ihre Hand in seine und er drückte sie fest.
Er schenkte Red noch einen langen Blick, den sie mit einem Lächeln beantwortete.
»Bereit, grosser Bruder?«
»Bereit, kleine Schwester!«
Sie gingen ihren Weg. Der Staub dämpfte ihre Schritte. Von draussen drang das Knallen der Kanonenschüsse.
»Aufstellen!«, kommandierte der Hutmacher und ihre Verbündeten nahmen Stellung, um, sollte irgendetwas schief gehen, ihnen den Rücken zu stärken.
»Wenn das geschafft ist«, murmelte Mile, »haben wir es geschafft. Dann haben wir die Welt gerettet.«
Sie lächelte in ihre Grübchen, was ein Bild war, das er nur zu gerne als Fotografie hätte. »Fast. Vergiss nicht: Die Dunklen haben dadurch zwar die Quelle ihrer grössten Macht verloren, aber besiegt sind sie noch nicht.«
»Aber so gut wie!«
Sie erreichten das Podest und stiegen die Ebenholzstufen hoch. Der Staub an ihren Füssen blieb auf dem roten Samt haften. Sie gingen um einen prunkvollen, aber zerbrochenen Stuhl herum und standen vor dem Sockel.
»Das ist sie?«, fragte sie. »Die Büchse der Pandora?«
Das schwarze Kästchen, das simpler nicht hätte sein können, gab keine Antwort. Es starrte sie nur mit seinem Schlüsselloch an.
»Was jetzt?«, flüsterte er genauso aufgeregt wie ratlos.
Sabrina langte sich an den Hals und zog den Mondsteinschlüssel hervor, den sie an einem Lederband mit sich getragen hatte.
»Willst du sie öffnen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiss nicht, was sonst? Ich sehe hier keinen Drudenfuss am Boden, keine magischen Auren, kein roter Blitz der Macht, aus dem die Barriere geschaffen ist. Nichts, was darauf hindeuten könnte, wie wir die Spieluhr entschärfen können. Wenn die Dunklen Macht aus ihrem Inhalt ziehen, müssen wir vielleicht den Inhalt freilassen.«
»Aber das ist die Büchse der Pandora! Schenkt man den Legenden der sterblichen Welt Glauben, steckt da drin das Übel der Welt. Denkst du, es ist eine gute Idee, die wieder auf die Welt loszulassen?«
Sie zuckte mit den Schultern und erklärte: »Wie oft ist es schon vorgekommen, dass die Märchen, wie wir sie aus unserer Welt kennen, in Wahrheit ganz anders abgelaufen sind. Ich habe dir doch von Brüderchen und Schwesterchen erzählt. Das beste Beispiel! Oder Red! Wer sagt, dass die Büchse der Pandora nicht auch ganz anders ist, als in den Legenden? Und denk an die Prophezeiung: VieleSchlüssel wurden prophezeit, nur einer, der das Übel befreit.«
Mile wog den Kopf hin und her. »Ersteres waren es die Lügen der Grimm, die das zu verantworten haben. Letzteres muss noch gar nichts heissen. Das liesse sich auf viele Arten interpretieren.«
»Ach komm, sonst würde es wohl kaum in der Prophezeiung stehen! Und was sonst sollten wir tun, um die Büchse der Pandora unschädlich zu machen. So lange sie geschlossen ist, nutzen die Dunklen ihre Macht, um die Barriere aufrecht zu erhalten.«
Er biss sich auf die Wange. »Ich weiss nicht Sabrina, ich bekomme zunehmend ein schlechtes Gefühl bei der Sache.«
Sie wurde hellhörig. »Eine Eingebung?«
»Vielleicht...«
Sie schüttelte den Kopf. »Hör mal, wenn du eine Eingebung hast, dann kann ich das Ding nicht öffnen! Aber dann musst du mir sagen, was wir sonst tun sollen!«
Er trat von einem Fuss auf den anderen. Schliesslich schnappte er sich das Kästchen, hielt es über seinen Kopf und hielt inne. »Woher wissen wir eigentlich, ob klappt, was wir vorhaben? Explodiert irgendetwas?«
»Weiss nicht...«
Er senkte den Arm und besah sich das Kästchen genauer. Es schien aus ganz gewöhnlichem Holz, ganz ohne Verzierungen oder sonstigem Schnickschnack. Da war nur diese silberne Schnalle mit dem Schloss. Und das Schlüsselloch. Er hielt sie sich ans Ohr und schüttelte es.
»Hörst du was?«
Er verneinte mit einem Kopfschütteln.
Sabrina biss sich auf die Lippe. »Dann tun wir es!« Sie schluckte. »Aber nur, wenn du zustimmst.«
Er zögerte. Gab es andere Optionen? »Also gut...« Er stellte die Allmachtspieluhr zurück auf den Sockel.
Sabrina holte tief Luft. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie den Schlüssel vorsichtig in das Schloss steckte und ihn drehte.
Es klickte. Mehr geschah nicht.
Mile streckte die Finger nach der Schatulle aus, wollte sie öffnen, da klappte der Deckel mit einem Mal hoch. An einer Metallfeder sprang der abgehackte Kopf eines Raben aus dem Kästchen und stiess ein schrilles Krächzen aus, dessen Echo wie ein Lachen durch den Saal hallte.
Unter dem Parkett begann es zu rumoren. Metallisch und schwer, als würde etwas Grosses bewegt werden.
»Es ist eine Falle!«, brüllte Sabrina. »Lauft!« Ohne seine Hand loszulassen, sprang sie vom Podest.
Die anderen Xilsar lösten sich aus der Schreckstarre und taten es ihr gleich, rannten auf die Flügeltür zu.
Unter ihnen rasselte es, ein Donnern und dann krachte vor der Tür eine schwarze Wand von der Decke. Obsidian.
Ihr einziger Ausgang war versiegelt. Sie waren gefangen...
»Nein!«, brüllte Rosanna, die als erste die Mauer erreichte. Voller Wut schlug sie mit ihrer Keule auf die Wand ein.
Der Hutmacher schüttelte den Kopf. »W-wir müssen uns aufstellen, sie...«
Lachen füllte den Saal. Schrilles und tiefes Lachen, mehrstimmig, die einzige Gemeinsamkeit war Grausamkeit.
»Wo sind sie?«, rief Sabrina, einen Pfeil bereits auf der gespannten Sehne.
Mile zog sein Schwert. Das Lachen kam von überall, er konnte nicht ausmachen, von wo.
»Die mach ich kalt! Die mach ich kalt!«, rief Gretel und fiel in das Gelächter der Dunklen ein.
»Ene, mene, Eckstein, alles muss versteckt sein!«, schallte es von links.
»D-das war Corda«, stammelte Sabrina. »Es sind die Dunklen und... sie sind hier!«
»Zusammenbleiben!«, rief Hänsel. »Kommt her!«
Die Xilsar gehorchten, stellten sich in der Mitte des Tanzsaals auf, Rücken an Rücken.
Das Lachen verklang, es wurde still, da war nur noch ihr Atem...
»Hab dich!«
Mile wirbelte herum und starrte in ein ausdrucksloses, weisses Gesicht. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es sich dabei um eine Maske handelte und dass es sich bei deren Trägerin um niemand geringeres als Corda handelte. Er schrie und riss Kayat hoch, doch da war die Frau auch schon losgerannt und hatte sich hinter einer Säule versteckt. Nur der Kopf ragte noch heraus. Corda hob eine Hand, berührte mit den Fingern ihren Papiermund, auf den ein leuchtend rotes Herz gemalt war, und warf ihm einen Kuss zu.
Hinter ihm brüllte etwas und als er sich umdrehte, sah er sich Auge in Auge mit einem riesigen, grauen Wolf, doppelt so gross und breit wie Oskar.
»Werwolf!«, brüllte Hänsel. »Silber, Gretel!«
Die Xilsar stoben auseinander. Nur das Dämonenjägerduo wagte es, sich dem Untier zu stellen.
Mile rannte zum Podest, um den ganzen Saal im Blick zu haben, als er auf einmal am Kragen gepackt und gegen eine der Säulen geschleudert wurde. Er prallte gegen den Marmor, fiel zu Boden, wo er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, obwohl sich alles drehte.
»Du bist also Mile«, hörte er eine strenge und kalte Stimme feststellen.
Er schaffte es, sich aufzurichten. Etwas zittrig hob er das Schwert, blinzelte, versuchte sein Sichtfeld zu klären.
»So begrüsst du deine Tante?« Mit gespielter Empörung stemmte Nevis die Hände in die Hüften.
Mile liess sein Schwert sinken. Sie sah aus wie seine Mutter...
»Schon besser. Herrje...« Sie kam näher und die Überheblichkeit aus ihren Augen wich etwas anderem. »Ich dachte, du würdest das genaue Ebenbild deines Vaters sein, aber... Ich sehe sie in dir...«
Ihre Haare waren heller, das Gesicht schmaler, die Augen waren engstehender, der Blick stechender und die Kerbe unterhalb der Lippen fehlte, aber ansonsten war die Ähnlichkeit erschreckend.
»Oh du weinst...« Nevis kam näher und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus. Ihre Finger waren kalt wie Eis. »Was ist denn los? Du siehst mich an, als wäre ich ein Geist!«
Mile schluckte. »Du... du siehst aus wie einer...«
Nevis rümpfte die Nase. Aus der Nähe war auch sie etwas zu spitz. »Ich weiss nicht, wie ich das interpretieren soll.«
»Ich meine... du siehst aus wie meine Mutter...« Er konnte nichts tun, er war ihr ausgeliefert, das war ihm sogar bewusst, aber... er konnte nichts machen.
»Ja, das hat man mir früher oft gesagt«, meinte sie mit einem leicht säuerlichen Lächeln. »Früher hat mich das gefreut, heute nicht mehr.« Ihre Hand blieb auf seiner Wange ruhen. »Bei den Himmeln, du hast das rote Haar und die Augen dieses nach Rauch stinkenden Bocks, aber dein Gesicht...«
»Weg von ihm!«, brüllte es auf einmal und wo Nevis eben noch gestanden war, teilte eine Klinge die Luft. Red packte ihn an der Schulter und gab ihm einen Klaps ins Gesicht. »Hey! Mile! Aufgewacht!«
Er blinzelte sie an, jeder Herzschlag nährte den Kloss in seinem Hals. »Das war...«
»Nevis, deine Tante.« Red sah ihn grimmig an. »Muss ich dich daran erinnern, dass sie zu den Dunklen gehört? Sie hat deine Eltern verraten, Mile. Wach auf!«
Er schüttelte den Kopf. »Natürlich!«


~Sabrina~

Damaris stiess ihren Stab auf das Parkett, dass es nur so hallte. Blitze schossen aus seiner Spitze, die gleich zwei Dutzend schwarze Ritter aus dem Nichts erschufen. Die schwarzen Krieger stapften im Gleichschritt auf sie zu.
»Schnappt euch die Eisprinzessin. Der Rest ist egal«, rief die schöne Königin und klatschte in die Hände, was die Ritter dazu veranlasste ihre Schwerter zu ziehen.
Falk, der neben ihr stand, riet ihr: »Ziel zwischen die Visiere. Durch die Rüstung kommst du nicht.«
»Falk, sie hat diese Typen gerade aus dem Nichts gezaubert, ich bezweifle, dass man die überhaupt umbringen kann.«
»Wir werden es sehen!«, rief Rosanna, die johlend auf den erstbesten Ritter zuraste. Mit einem gewaltigen hieb drückte die Barbarentochter ihrem Gegner den Helm ein. Der Ritter zerfiel zu Staub. »Super, man kann sie umbringen!«, jubelte sie.
Durch Rosannas Entdeckung ermutigt folgten die übrigen Xilsar ihrem Beispiel und stürzten sich ins Gefecht. Sie waren weniger als zuvor, denn Hänsel und Gretel waren noch immer in einem Kampf mit dem Werwolf, bei dem es sich natürlich um niemand geringeres als Blutkralle handelte, verwickelt. Oskar, Faritales, Katmo, Bree und Fjore kämpften gegen Dracula, der sich einen Spass daraus machte, seine Gegner mit schnellen Paraden in die Irre zu führen und flink hinter ihren Rücken aufzutauchen. Wo Red und Mile waren, konnte Sabrina nicht ausmachen. Sich mit der Suche nach den beiden aufzuhalten, wäre in diesem Augenblick jedoch ein riesiger Fehler, daher begann sie, einen Pfeil nach dem anderen auf die Visiere der Ritter abzuschiessen. Doch mit jedem, den sie erledigte, erschuf Damaris zwei neue, die sie immer weiter in den Raum zurückdrängten.
Falk wich den Hieben der Ritter geschickt aus, stach zu, traf mit seinem Degen immer genau ins Visier und erledigte einen Ritter nach dem anderen. Jeremy Topper machte sich nicht die Mühe, zu zielen. Er schlug den Rittern gleich den Kopf ab. Die Rabenbrüder arbeiteten im Team, lockten immer zwei bis drei der Ritter ein Stück aus der Formation und erledigten sie dann gemeinsam.
»Die Hexe!«, brüllte es hinter ihr auf einmal und als Sabrina einen Blick über die Schulter wagte, entdeckte sie eine alte, dicke, gedrungene und in Jute gekleidete Frau. Um ihren Hals hing eine Kette, auf die menschliche Überreste gefädelt waren, was den Gestank nach Verwesung hervorrief, den sie verströmte.
Hedwig lachte, murmelte einen Zauber und zeigte auf Gretel.
»Gegenzauber, schnell!«, rief Hänsel und sprang Blutkralle auf den Rücken.
Gretel hob die Hände und begann eine Rune in die Luft zu malen, doch bevor sie den Zauber beenden konnte, holte der Werwolf aus und warf sie um.
Was dann geschah, konnte Sabrina nicht verfolgen, denn einer der schwarzen Ritter hatte sich ihr genähert. Sie musste sich verteidigen. Darum konnte sie nur hören, was hinter ihr vonstattenging. Ein Schrei, ein Krachen und auf einmal segelte ein Körper durch die Luft, den schwarzen Rittern direkt vor die Füsse.
»Gretel!«, schrie Hänsel, doch es war zu spät. Bevor jemand reagieren konnte und Gretel sich aufrichten konnte, bohrte sich die schwarze Klinge eines Schwerts in ihre Brust. Es ging schnell, das Leben verliess ihren Blick.
»Nein! Nein, nicht!«, brüllte Hänsel und preschte ins Gefecht, Blutkralle liess er einfach stehen. Mit ungezügelter Kraft drosch er die Ritter nieder.
Als er fertig war, sank er neben seiner Schwester zu Boden.
Mit einem süffisanten Lächeln schritt Damaris um die Gefallene und ihren Bruder herum, sie hatte aufgehört, weitere ihrer Ritter zu erschaffen. Auch Dracula hatte sein Spielchen beendet und sich aus dem Kampf zurückgezogen. Blutkralle, Corda, Hedwig und eine ganz in weiss gekleidete Frau, die Sabrina noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, gesellten sich hinzu.
»Damit kommt ihr nicht durch!«, rief Mile, der auf einmal neben ihr stand.
»Was soll das, Mile? Ich dachte, wir beide würden uns so gut verstehen?« Die Frau in weiss trat vor und schenkte ihrem Bruder ein bleiches Lächeln.
Obwohl sie wusste, dass das Nevis war, glaubte Sabrina einen kurzen Moment, ihre Mutter vor sich zu sehen.
Etwas riss an ihrer Schulter. Ihr Bruder bedachte sie mit einem traurigen Blick. »Ich weiss... aber... lass dich nicht einlullen...«
Sie schluckte und nickte. Scheinbar hatte ihr Bruder bereits Bekanntschaft mit der Schneekönigin gemacht...
Als Sabrina sich wieder den Dunklen zuwandte musste sie feststellen, dass Nevis hellblaue Augen nun auf sie gerichtet waren. Die Überheblichkeit, mit der sie Mile betrachtet hatte, war aus ihrem Blick verschwunden. Nun wirkte sie... verletzt? Die Schneekönigin schürzte die Lippen. »Wie sie... aber jünger...«
Selbst ihre Stimme glich der von Eira. Sabrina biss die Zähne zusammen. Sie musste etwas finden, indem sich ihre Tante grundlegend von ihrer Mutter unterschied!
Nevis hob die Brauen, was kaum Falten auf ihrer Stirn verursachte. »Aber nun sehe ich auch ihn. Ich dachte, du würdest mehr von deiner Mutter haben, Sabrina, aber du gleichst ihm genauso wie ihr!«
Die Grösse! Nevis war um einiges grösser als ihre Mutter! »Und ich dachte, du hättest weniger von ihr. So wie du sie hintergangen hast, kannst du dich noch im Spiegel ansehen, ohne an der Schuld dieses Verrates zu brechen?« Die Worte waren draussen bevor Sabrina sie zu Ende gedacht hatte. Doch das schmälerte ihren Stolz nicht, als sie Nevis' Blick flackern sah.
»Sie ist nicht auf den Mund gefallen«, lachte Dracula mit einem blutigen Lächeln und klopfte Nevis auf die Schulter. »Aber was sollen all die leeren Worte. Kinder, ihr habt keine Chance, das wisst ihr selbst!«
»Ihr erwartet, dass wir uns ergeben«, stellte Mile kalt fest.
»Exakt«, antwortete der Vampir.
Hedwig trat näher an Gretels Leiche heran. Als sie sie erkannte, schlug sie sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und lachte, dass die fleischigen Hängebrüste bebten. »Kam das Schlachtvieh zum Schlachter heim!« Sie grölte.
»Weg von ihr!«, verlangte Hänsel und schlug mit seinem Chepesch nach ihr. Die Klinge fuhr zu Boden und grub sich durch den Zeh der Hexe, die vor Schmerzen aufjaulte und auf dem fetten Hintern landete.
»Wir geben nicht auf!«, knurrte Mile und hob eine Hand, in der eine Flamme zu lodern begann.
Damaris lachte und die restlichen Dunklen fielen in ihr Gelächter ein. Als sie sich beruhigt hatten, meinte sie: »Schau, mein Junge, ich habe ein Angebot zu machen. Wenn ihr euch ergebt, lassen wir alle am Leben. Wenn nicht, bringen wir euch einen nach dem anderen um.« Sie schenkte ihnen ihr umwerfendes Lächeln, für das die Vogue Millionen ausgegeben hätte, um es auf das nächste Cover drucken zu dürfen.
Sabrina schluckte. Sie erlaubte sich einen kurzen Blick nach links und rechts. Nun waren sie noch achtzehn... Gretel war tot und Jian konnte sie nirgends entdecken... Sie wusste, egal welche Entscheidung sie treffen würde, diese tapferen Wesen würden ihr selbst in den Tod folgen.
»Warum bringt ihr uns nicht alle gleich um?«, fragte Mile neben ihr.
Blutkralle grunzte behaglich. »Sagen wir, wir haben Pläne mit euch. Wir brauchen euch am Stück. Vor allem die Kleine...«
Sabrina wurde heiss und kalt gleichzeitig. »Was für Pläne?«
»Das dauert mir zu lange!«, rief Dracula. »Ich werde eure Entscheidung etwas beschleunigen...«
»Halt!«, brüllte Mile, doch da war der Vampir auch schon losgestürmt und hatte sich Fjore geschnappt.
Der hellblonde Vampir wehrte sich heftig und obwohl er der älteste Blutsauger der Rebellen war, konnte er Dracula nicht das Wasser reichen. Der Dunkle grub seine Zähne tief in den bleichen Hals seines Artgenossen. Sein Opfer schrie und schlug um sich, doch Dracula nuckelte nur selig weiter, bis Fjore erschlaffte. Als der Vampirfürst fertig war, liess er die Leiche des jüngeren Vampirs zu Boden fallen wie einen nassen Sack. Wie eine Sandburg begann Fjore zu zerfallen...
Fassungslos mussten sie zusehen, wie ihr Mitstreiter zu Nichts zerfiel. Nur die Kleider blieben übrig...
»Wie praktisch«, witzelte die Herzkönigin und sprang in den Staubhaufen wie ein Kind in eine Pfütze. Sie wand die schlanke Wespentaille und kicherte auf eine sehr unangenehme Art. Das unnatürlich scharlachrote Haar, das ihr bis zum Kinn reichte, peitschte in alle Richtungen. »Wäre normalerweise eine Sauerei, aber in dem Dreckstall hier macht das gar keinen Unterschied. Staub zu Staub und so...«
Dracula stöhnte wohlig. »Der Nächste?«
Sabrina blinzelte. Sie sah zu ihrem Bruder auf. »Was sollen wir tun?«
»Blutkralle? Wärst du so freundlich?«, forderte Damaris. »Such dir einen aus!«
»Nein, gebt uns mehr Zeit, bitte, wir...«
Der Werwolf dachte nicht daran. Er sprang vor, die Xilsar wichen panisch zurück. Immer wieder schnappte der Wolf zu, bis er endlich etwas zu packen bekam.
Regenjäger brüllte vor Schmerz, als sich die Fänge des Wolfes in sein Bein gruben. Es knackte, als er den Oberschenkelknochen durch-und das Bein abbiss. Der Rabenjunge wurde ohnmächtig...
»Aufhören!«, brüllte Sabrina und rannte zu dem bewusstlosen. »Hellelfen? Valyn?«
Die restlichen vier Rabenbrüder stürmten vor und schnappten sich ihren verletzten Bruder. Sie zogen ihn hinter die Reihen der Xilsar, wo Valyn bereits wartete und sogleich begann, Regenjäger den Beinstumpf abzubinden. Sabrina floh zurück an die Seite ihres Bruders.
»Ihr müsst euch nur geschlagen geben! Es ist so einfach! Kommt schon, wir werden euch schon nichts tun. Ein Leben in Sklaverei ist noch immer besser als gar kein Leben!«, plapperte Corda und sah interessiert an sich herab. Ihr Kleid hatte ein paar Spritzer abbekommen und da es wie ihre Maske aus Papier zu bestehen schien, saugte das Material das Blut gierig auf.
Panisch sah Sabrina sich nach Hilfe um. Hänsel lag noch immer zusammengekauert neben Gretel, Jeremy Topper lag ohnmächtig neben dem Podest und Red sah genauso entsetzt aus wie sie.
»Ihr müsst euch entscheiden«, meinte Falk. »Das ist die Wahl zwischen zwei Übeln. Ich weiss... Aber wenn ihr nichts tut, werden wir sterben! Wir alle! Kämpfen wir!«
»Wir ergeben uns!«
»Mile!« Fassungslos starrte sie ihren Bruder an.
»Sie haben Recht!« Kochende Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Wir haben nicht den Hauch einer Chance!«
»Waffen her!«, säuselte Corda. Die blasse Papiermaske mit den roten Wangen und Herzmund war das perfekte Pokerface.
»Gut«, antwortete Mile, steckte Kayat in die Scheide, löste den Schwertgurt, behielt aber den Griff in der Hand. »Aber davor will ich noch eine Frage geklärt haben!«
Blutkralle schnurrte. »Und die wäre?«
»Wer hat uns verraten?« Seine Stimme war hart und trocken. »Es ist offensichtlich, dass uns jemand verraten hat. Das alles war eine riesige Inszenierung! Ihr wusstet, dass wir von der Allmachtspieluhr und ihrem Versteck wussten, ihr wusstet, dass wir kommen würden! Feivel und Frederick de Monto sind beide tot, es muss also noch einen weiteren Verräter gegeben haben. Wer hat es euch erzählt?«
Wieder schallte das Gelächter der Dunklen von den Wänden, sodass ihr die Nackenhaare zu Berge standen. Damaris war die erste, die sich wieder einkriegte und zu erklären begann: »Feivel stand am Ende der ganzen Sache. Er hat mit seiner Musik Geppetto dazu gebracht, den König zu töten. Doch vor Feivel war da noch Frederick, einer von Draculas treusten Gefolgsleuten. Er hat vermittelt, Feivel die Befehle gegeben. Aber unser wichtigster Mann, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre, unser wichtigster Bote, der, den niemals irgendwer verdächtigen könnte, war ein anderer...«
»Der Gewissenlose, der Gewissenlose war es!«
»Denn wir haben es ihm genommen, sein lästiges Gewissen.«
»Wie passend, dass es die Form eines Insekts hat! Damit haben wir ihn erpresst«
»Wir lehrten ihn das Lügen.«
»Er verdankt uns das Menschsein!«
Falk stöhnte auf. »Zorniges Kind des Krieges!«
»Pinocchio!«, hauchte Red und schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Hey, seid nicht traurig!«, rief Dracula. »Der Kleine hat kein Gewissen! Er hat nur getan, was wir ihm eingebläut hatten, was das Richtige ist. War eine ganz schöne Gehirnwäsche. Die Sandmänner, die in seinen Träumen waren, die können euch Geschichten erzählen über den armen Jungen, da macht ihr keine Nacht mehr ein Auge zu.«
Mile nickte. »Verdammtes Balg«, murmelte er. Seine Stimme zitterte.
»Und jetzt her mit den Waffen, bevor auch ich der Mordlust verfalle«, forderte Corda. »Und dann lasse ich Köpfe rollen. Angefangen mit dem Kleinen ohne Bein. Kein Kopf, kein Bein, fein, fein, fein...« Vor Lachen bog sich ihr graziler Körper und ihre Maske bebte über ihrem Gesicht.
»Legt eure Waffen ab«, befahl Mile und warf Kayat zu Boden. »Na los!«, rief er, als niemand seinem Beispiel folgte.
Langsam hob Sabrina die Hände, zog sich den Köcher über den Kopf. Wie schwer Ellon'da auf einmal war...
Das Klirren und Scheppern der Waffen der Xilsar besiedelte das Schicksal der Rebellen. Eine Zukunft gab es nicht mehr. Der Gewissenlose hatte seinen Auftrag erfüllt, die Falle der Dunklen war zugeschnappt.
Der letzte, der sich noch nicht von seinen Klingen getrennt hatte, war der Monsterschlächter.
Falk seufzte, legte Hänsel eine Hand auf die Schulter. »Hey, Kumpel. Ich weiss ganz genau, wie du dich fühlst, aber... du... wir...« Es seufzte. »Es ist vorbei...«
»Niemals!« Hänsel, der sich die ganze Zeit nicht eingemischt hatte und in stummer Verzweiflung um seine Schwester getrauert hatte, sprang auf einmal auf, schleuderte die Herzkönigin zur Seite und preschte auf Mile zu. Dieser hob abwehrend die Hände, machte den Mund auf, um den wild gewordenen Dämonenjäger zu besänftigen, doch dazu kam er nicht. Hänsel packte ihn, warf ihn sich über die Schulter, raste auf das Podest, hechtete über die zertrümmerten Stühle hinweg, sprang...
Die beiden Körper krachten durch das Fenster, das Glas barst, dann waren sie beide weg...


------------------------

Hallo liebe Leser,

Tja, wo soll ich anfangen?
Erst einmal hoffe ich, dass euch dieses Kapitel gefallen hat. Mir ist bewusst, dass es teils ziemlich brutal geworden ist. Während ich geschrieben habe, hab ich dauernd den Gesichtsausdruck meiner Mutter vor Augen gehabt, den sie dauernd drauf hatte, wenn in Game of Thrones wieder irgendwer auf besonders miese Art zu Tode gekommen ist. »Das muss doch nicht sein, diese Brutalität. Diese Gewaltdarstellungen sind doch widerlich.« Tut mir Leid, Mama, ich weiss, du wärst nicht besonders stolz auf mich, wenn du dieses Kapitel lesen würdest. (Hab ich verboten, Twos zu lesen. Darf sie erst, wenn das Ding komplett überarbeitet ist und einige Schönheitsoperationen hinter sich hat, wenn ihr wisst, was ich meine...)
Gewalt ist nix Schönes und ich hoffe sehr, ihr könnt jetzt noch alle ohne Alpträume einschlafen. Auch die eher Zartbesaiteten. Und sonst tut er mir leid :3

Figuren umzubringen ist auch nicht einfach, tut immer ein bisschen weh. Mal mehr und mal weniger. Hoffe, ihr könnt mich am Ende von Twos noch leiden ;)

Ich hoffe, ich konnte euch auch dieses Mal überraschen. Wer hat geahnt, dass Pinocchio der „Gewissenlose" aus der Prophezeiung ist? Ich fand die Idee eigentlich ziemlich cool.
Aber davon in einem späteren Kapitel mehr.

Aber klar kommen noch mehr Kapitel! Wäre doch eine Schande, würde das Abenteuer der Geschwister so ein Ende haben, nicht wahr?

Wie immer erwarte ich eure Spekulationen mit Freude :D

WICHTIG:
Ich weiss nicht, ob ihr es schon gesehen habt, ich habe allen Followern eine Nachricht auf meinem Profil-kommentier-Dingsbums hinterlassen aber irgendwie kam keine Reaktion xD Daum kopiere ich euch hier den Text mal rein. Danke dafür, iBlali

Hallo liebe Leser,
Wie ihr alle wisst, geht Twos langsam auf das Finale zu. Das bedeutet für euch (hoffentlich) ganz viel Spannung, Tränen der Freude und Trauer, Herzklopfen und Lesespass.
Für mich bedeutet das viel Arbeit, auch Tränen :3, Recherche und Cringe beim Lesen alter Kapitel.
Twos ist mittlerweile ein richtig fetter Schinken, der weit über 1000 Wordseiten lang ist. Eine Stütze war daher auch immer die Prophezeiung von Feuer und Eis, aus der ihr (hoffentlich... vielleicht...) nicht so viel herauslesen und verstehen könnt wie ich. Ich habe auch immer wieder an ihr herumgebastelt und vieles ergänzt. Was ich nicht im grossen Mass gemacht habe, ist zu kürzen. Da war viel Überflüssiges Zeug und Dinge, die so keinen Sinn mehr für mich gemacht haben. Ausserdem bin ich jemand, dem die Geschichten aus den Fingern und dem Herz fliessen und nicht aus dem Kopf. Jedenfalls nicht nur. Darum erzählt die Prophezeiung nicht mehr das, was sie meiner Meinung nach sollte.
Bevor ihr jetzt zu den Steinen greift, um mich zu lynchen: Nein, ich habe die Prophezeiung nicht komplett auf den Kopf gestellt. Nur ein bisschen.
Sie ist jetzt etwas kürzer (noch immer zu lang, aber scheiss drauf!). Meiner Meinung nach ist sie jetzt auch viel schöner und etwas klarer aufgebaut. Der grösste Unterschied zu vorher ist aber der Schluss, der ist fast komplett neu.
Wenn ihr die neue Fassung lesen wollt: Ihr findet sie in "Die Lügen der Grimm", (dem ziemlich überflüssigen und peinlichen Begleitwerk zu Twos) und natürlich auch vollständig in Kapitel 27.
Ich hoffe sehr auf Kritik, ob gut oder schlecht! UND ich bitte euch, eure Analysen und Interpretationen mit mir zu teilen! Das ist das Wichtigste, den so weiss ich, wann ich mich zu klar ausdrücke und wo es mir gelungen ist, den Leser in die Irre zu führen.
Und noch etwas Wichtiges: Wer denkt, dass wenn er/sie die Prophezeiung komplett verstanden hat und somit den Plot von Twos, ja sogar das Ende zu kennen: Du hast dich mächtig geschnitten, denn bekanntlich webt die Schicksalsspinne so zart, kein Windhauch ihr seidig Netz bewahrt. Reisst auch nur der feinste Faden, wäre das ein solcher Schaden, dass alles ist umsonst gewesen, das Ende für ein jedes Wesen.
Ah und noch etwas:
Überall in Twos, wo Auszüge aus der Prophezeiung vorkommen, also irgendwie von Mondkind ausgesprochen, von Jeremy Topper zitiert, von Mile Überlegungen stattfinden, Sabrina sich drüber aufregt oder irgendwas in die Richtung, müsst ihr mir verzeihen, wenn diese Auszüge noch aus der alten Version stammen. Ich versuche diese Stellen natürlich zu finden und auszubessern, aber ich bin nicht Mondkind ;P

Bitte, bitte, bitte tut mir doch den Gefallen und guckt euch das Ding an :)

Wie immer Lied des Kapitels:
Down – Marian Hill
Ich weiss nicht einmal, ob dieses Lied bekannt ist, ich höre nie Radio. Ich finde es jedenfalls echt cool und ich hab es praktisch dauerschleife während des Schreibens gehört. Yo Genitiv.

Belohnt meine Arbeit doch mit ein paar Kommentaren und Votes, wenn es euch gefallen hat, das würde mich sehr freuen.

Alrosssssssss, ich wünsche euch noch einen wunderschönen Morgen/ Mittag/ Abend/ Tag.
Wir lesen uns bald wieder :)

Gehabt euch wohl,
Eure Dreamy

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