Plötzlich Indianer - Eine Zei...

By Booky_2017

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Die siebzehnjährige Marie hatte sich so sehr auf die Kursfahrt mit ihrem Englisch-Leistungskurs gefreut, der... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kaptel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Zugabe

Kapitel 11

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By Booky_2017

„Hallo, weißes Mädchen", rief der bärtige Tom mit seiner volltönenden Stimme.

Ich hielt auf meinem morgendlichen Weg zum Flus inne und drehte mich zu ihm um. Er hatte die letzte Nacht im Zelt des Häuptlings verbracht und dort ein reiches Mahl vorgesetzt bekommen. Noch bis spät in die Nacht hatte man das Gelächter und die Stimmen aus dem Tipi hören können. Die Männer hatten offenbar lustige Jagdgeschichten ausgetauscht. Ohitika war nicht eingeladen gewesen, denn diese Ehre blieb den älteren, angesehenen Kriegern vorbehalten. Ich nahm also an, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, mit dem Häuptling wegen eines Trips zur Höhle zu sprechen.

„Hallo, Tom", erwiderte ich. Der noch leere Wassersack hing lose in meiner Hand.

Er kam auf mich zu und blieb drei Schritte von mir entfernt stehen. Einige Frauen, die in der Nähe beschäftigt waren, beobachteten uns, konnten uns aber nicht verstehen, da er Englisch sprach. „Mary, richtig?", fragte er.

Ich nickte ergeben, ich hatte mich damit abgefunden, dass jeder hier meinen Namen anders aussprach.

„Bist gestern ziemlich schnell abgehauen", sagte er und kratzte sich am Nacken.

Ich schaute auf meine Mokassins herunter. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich ... habe nur schon lange keinen Weißen mehr gesehen."

„Wie lange bist du schon hier?"

„Es müssten jetzt fast zwei Monate sein."

„Und sie haben dich gut behandelt?"

„Ja." Ich war überrascht, als das Wort ohne eine Sekunde zu zögern aus mir herausschoss.

Er zupfte sich an seinem wilden Bart, der nicht nur über sein Kinn und seinen Hals wucherte, sondern auch bis hinauf zu den Wangen reichte. „Nun gut, das hätte ich auch nicht anders erwartet. Mazzukata ist ein anständiger Mann, für einen Indianer."

Ich kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.

„Ich breche bald auf", fuhr er fort. „Wenn du willst, kann ich dich ein Stück mitnehmen, in Richtung des nächsten Forts. Dann kann sich das Militär um dich kümmern; dich zurück zu deinen Eltern bringen oder wo auch immer du herkommst."

Ich schaute ihm zum ersten Mal richtig in die Augen. Grau waren sie, nicht schwarz oder braun wie die aller anderen um mich herum, und umrandet von einer Vielzahl kleiner Fältchen, die tiefe, dünne weiße Furchen in die gebräunte Haut gegraben hatten. Er wirkte vertrauenswürdig. Hätte er mir das Angebot vor einem Monat gemacht, vielleicht sogar vor einer Woche, hätte ich vermutlich ohne viel zu überlegen zugestimmt.

Aber dann dachte ich an Wihinapas tröstende Hand auf meinem Rücken und an Ohitikas ernste Bereitschaft, mir zuzuhören. Und auch an Tatanka Wakons faltiges Gesicht mit den blitzenden, klugen Augen, an die kleine vertrauensvolle Zica, und an Mazzukatas zurückhaltende Autorität ... Bisher hatte man mich nicht wie eine Gefangene behandelt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es mir unter Weißen besser ergehen würde.

„Also?", hakte Tom nach und blinzelte in die tief stehende Sonne, um die Zeit abzuschätzen. „Das Fort ist nur vier Tagesritte entfernt."

Jetzt schlüpfte Wihinapa aus unserem Zelt. Sie lächelte mir zu, sodass ihre weißen Zähne im Sonnenlicht blitzten. Doch es waren vor allem zwei kohlschwarze, unergründliche Augen, die mir in den Sinn kamen, als ich mit fester Stimme zu Tom sagte: „Nein." Ich schüttelte zur Betonung den Kopf. „Danke, aber nein. Ich kann noch nicht hier weg."

Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, wie du willst. Wenn du es dir anders überlegst ... ich komme bestimmt wieder einmal vorbei." Er streckte eine schwielige Hand aus und ich schüttelte sie.

Dann drehte er sich um und stapfte in seinen schweren Stiefeln, die im Boden tiefe, eckige Abdrücke hinterließen, davon. Als ich mich wieder auf den Weg zum Fluss machte, stand auf einmal Ohitika vor mir, dieser Geist, der wie aus dem Nichts erschien und verschwand. Ich atmete scharf ein und fragte mich, ob er alles beobachtet hatte. Und ob er es vielleicht sogar verstanden hatte. Aber nein, so gut war doch sein Englisch noch nicht, oder doch?

„Nach der Büffeljagd, hat Häuptling Mazzukata beschlossen", sagte Ohitika nur und ich wusste sofort, was er meinte. Nachdem die Jagd vorüber war, würde wir uns auf den Weg machen dürfen, um nach der Höhle suchen.

* * *

„Tatanka, Tatanka", hörte man es überall im Dorf.

Es waren Büffel gesichtet worden, weit draußen auf der Prärie. Das Zeltdorf bereitete sich darauf vor, die Tipis abzubrechen und in die Nähe der Herde zu ziehen. Ich fragte mich, ob auch ich die Büffel zu sehen bekommen würde. Das war einer meiner Wünsche gewesen, bevor ich in die USA geflogen war — vor einer Ewigkeit. Ich wollte die Bisonherden auf der Prärie beobachten. Und nun hatte ich diese Möglichkeit vielleicht tatsächlich, und das in einer Zeit, in der die Zahl der Büffel noch Millionen betragen musste.

Ich half Wihinapa dabei, alles zusammenzupacken, denn bei Sonnenaufgang sollte es losgehen. Noch war alles in das erste graue Licht des Tages getaucht. Wir wickelten das hölzerne Koch- und Essgeschirr und die irdenen Schüssel in Felle ein, verstauten Nähutensilien, Nahrungsvorräte und die wenigen anderen Habseligkeiten in Ledertaschen, während Ohitika seine Waffen zusammensuchte — Bogen und Pfeilköcher, Speer und Keule. Das Messer steckte in seinem Gürtel. Dann führte er die Pferde von der Herde zu unserem Zelt. Die Tiere weideten unweit vom Dorf auf der anderen Seite des Flüsschens. Sie wurden alle paar Tage zu einer anderen Stelle getrieben, um immer frisches Gras vorzufinden. Einer der Jugendlichen bewachte sie tagein, tagaus.

Ohitika besaß drei Pferde — den Schecken, der sein bevorzugtes Reittier war und auch als Büffelpferd ausgebildet war, eine sanfte braune Stute, die Wihinapa manchmal ritt, und eine kleine Fuchsstute. Die Anzahl der Pferde galt unter den Lakota als Maß des Wohlstands. Häuptling Mazzukata besaß die meisten: zwölf für sich und seine Familie.

Ich streichelte dem Schecken über die weichen Nüstern. Zum Glück war sein Knöchel geheilt und er konnte wieder gut laufen. Aber die kleine Fuchsstute gefiel mir besonders. Sie hatte eine hübsche Kopfform mit großen, runden Augen, die ein wenig hervorstanden. Dadurch wirkte sie ein bisschen so, als wäre sie noch ein Fohlen, obwohl sie sicher schon älter war. Sie stupste mich vertraulich mit der Nase an und ich kraulte ihr den Hals.

„Malie nimmt die Stute", sagte Ohitika.

Ich blickte ihn erstaunt an. „Ich darf sie reiten?"

„Wenn du kannst", entgegnete er mit leisem Spott in der Stimme.

Das ließ mich zögern. War sie vielleicht nicht so freundlich, wie sie aussah? Zugegebenermaßen hatte ich auch keine Erfahrung damit, sattellos zu reiten. Nicht mal eine richtige Trense hatten die Pferde. Wie sollte ich sie da bitte lenken? Trotzdem nickte ich entschlossen.

Dann war es an der Zeit, das Zelt abzubauen. Ich war erstaunt, wie schnell das ging, obwohl ich noch keine große Hilfe war. Wihinapa schlug die schwere Büffellederwand an einer Seite zurück, sodass die schlanken Zeltstangen freigelegt wurden. Daran kletterte sie dann hinauf wie ein Eichhörnchen und löste an der Spitze die Befestigung, sodass das ganze Zeltwand nach unten rutschte. Eine Nachbarin half mir dabei, sie zusammenzufalten, während Wihinapa die Fichtenstangen wieder herunterrutschte und sie mithilfe einiger anderer Frauen alle nacheinander am Boden ablegte. Zwei der Stangen wurden jeweils an die Seiten eines Lastpferdes gebunden, sodass die Enden auf der Erde schleiften. Zwischen die Stangen spannten wir die zusammengefalteten Zeltwände und unsere anderen Habseligkeiten.

Sobald der erste feurige Streifen der aufgehenden Sonne über dem Horizont auftauchte, war das ganze Zeltdorf verschwunden. Zurück blieben nur die Feuerstellen mit der verkohlten Asche und den Kochgestellen und die Löcher in der Erde, wo zuvor die Zeltstangen gesteckt hatten. Ein paar von den Hunden abgenagte Knochen lagen dazwischen verstreut.

Jetzt formierte sich der lange Zug der Lastpferde, eines nach dem anderen. Auf einigen saßen Frauen, manche mit Babys auf dem Rücken, während die älteren Kinder, die noch zu klein zum Laufen oder Reiten waren, aber zu groß, um von der Mutter getragen zu werden, ganz einfach in Lederdecken gepackt und zwischen die Zeltstangen hinter den Pferden gehängt wurden. Die Schweife der Mustangs fuhren ihnen immer wieder über das Gesicht, aber keines beschwerte sich. Einige der Frauen und älteren Männer gingen zu Fuß, während die Krieger und Jungen am Rand des Zuges ritten.

Ich reihte mich mit der Fuchsstute hinter Wihinapa ein. Wir hatten dem Pferd einen Packen aufgeschnallt und ich würde davor aufsitzen. Nun stand ich vor meinem ersten Problem: wie ohne Steigbügel aufs Pferd kommen? Zum Glück waren die indianischen Ponies nicht so groß. Ich war also zuversichtlich, dass ich es schaffen konnte.

Ich stellte mich neben den Hals der Stute, das Gesicht ihrem Hinterteil zugewandt, wie ich es bei den anderen gesehen hate. Dann griff ich in ihre Mähne, holte Schwung und schnellte mich nach oben, um mein rechtes Bein über ihren Rücken zu befördern. Das Tier trat einen kleinen Schritt nach rechts, aber ich schaffte es trotzdem, mich festzuklammern, und zog mich schließlich ganz nach oben. Sie tänzelte unter mir, aber dann beruhigte sie sich. Ich richtete mich auf und schielte triumphierend zu Ohitika, doch er war auf seinem Schecken schon weiter nach vorn geritten.

Ich versuchte, das Tier mit meinen Schenkeln zu steuern, und stellte erfreut fest, dass es tatsächlich auf den leisesten Druck reagierte. Wir reihten uns hinter Wihinapa auf ihrer Stute ein und warteten darauf, dass Tatanka Wakon, der ganz vorne die Schlange anführte, den ersten Schritt machte.

Als die Sonne hoch am Himmel stand, waren wir bereits mitten in der endlosen Graslandschaft, in der es zu allen Seiten hin nichts anderes zu sehen gab als sanfte Hügel und Täler mit sanft im Wind wiegenden gelblichen Gräsern, die weit vor uns mit dem Horizont zu verschmelzen schienen. Der Himmel hatte ein mattes Hellblau, nicht mehr das intensive Blau des Hochsommers. Kleine Vögel flatterten aus dem Gras um uns herum auf, Kaninchen hoppelten davon, aufgeschreckt von dem Pferdegetrappel und den Hunden, und einmal kamen wir an einer Stadt von Präriehunden vorbei. Die kleinen braunen Nager, die mich an die Erdmännchen im Zoo erinnerten, standen an den Eingängen ihrer Erdhöhlen und warnten mit lauten Pfiffen ihre Artgenossen vor unserer Ankunft. Wenn man ihnen zu nahe kam, verschwanden sie blitzschnell in ihren Löchern.

Am Horizont hinter uns sah ich immer noch die dunklen Erhebungen der Black Hills, die in der dunstigen Atmosphäre leicht verschwommen wirkten. Es kam mir vor, als würde ich die letzte Verbindung zu meinem alten Leben kappen. Ich konnte nur hoffen, dass wir tatsächlich hierher zurückkehren würden.

Mein Hintern tat inzwischen vom stundenlangen Sitzen auf dem Pferderücken höllisch weh. Mittlerweile wäre ich lieber gelaufen, aber ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als mir das anmerken zu lassen. Niemand hier nörgelte oder quengelte, nicht einmal die kleinsten Babys weinten — kein Vergleich zu den Familienwanderungen, die ich in Erinnerung hatte und bei denen Max gefühlt jede Stunde eine Pause machen und etwas essen wollte, sondern ging es nicht weiter ...

Wir hatten noch nicht Halt gemacht und wer Hunger hatte, nahm nur kurz ein wenig Pemmikan aus einem Beutel zu sich und einen Schluck Wasser aus einem Ledersack.

Endlich rief der Häuptling eine Pause aus. Wir waren an einem Wasserlauf angekommen, wo die Pferde trinken konnten. Die Pappeln und Weiden am Ufer boten uns etwas Schatten. Ich schaffte es kaum, kaum vom Pferderücken zu rutschen, so sehr schmerzte die Innenseite meiner Schenkel, mit denen ich mich festgeklammert hatte. Ich stolzierte steifbeinig herum, um mich zu lockern, und Wihinapa lachte gutmütig ihr plätscherndes Lachen, das wie das Gluckern des Flusses klang.

„Vielleicht möchtest du doch lieber laufen?", neckte sie mich.

„Ich überlege es mir", gab ich zurück und ließ mich dann neben ihr ins Gras plumpsen. An den Stamm einer Weide gelehnt, beobachteten wir von hier aus die Kinder, die ebenfalls die Freiheit genossen und im Gras herumtollten, während sich einige der Krieger miteinander berieten. Die ausgesandten Späher waren zurückgekommen und wie es schien, befand sich noch eine weitere Gruppe von Lakota in der Nähe. Sie würden auf uns warten, damit wir die große Jagd gemeinsam durchführen konnten. Aber um sie zu treffen, mussten wir noch bis Sonnenuntergang weiterziehen.

Innerlich ächzend stieg ich wieder auf mein Pferd. Die nächsten Stunden zogen an mir vorüber wie die immer gleiche Landschaft. Eine Weile ritt Ohitika ganz in unserer Nähe neben dem Zug und ich beschäftigte mich damit, seinen braunen Rücken anzustarren, den er vollkommen aufrecht und gerade hielt. Wenn sein Schecke die Richtung wechselte, konnte ich nicht feststellen, wie er ihn dazu gebracht hatte, da er keinen Muskel gerührt zu haben schien. Es war, als gäbe es eine telepathische Verbindung zwischen Pferd und Reiter. Seine schwarzen Haare glänzten im Sonnenlicht wie polierter Onyx. Plötzlich wandte er mir den Kopf zu. Hatte er mein Starren gespürt? Die Vorstellung trieb mir das Blut in die Wangen. Ich spürte, wie sie pochten und ganz heiß wurden, und wandte mich rasch ab. Ohitika trieb sein Pferd an und verschwand hinter einer Bodenwelle.

Als wir an unserem endgültigen Ziel für diesen Tag eintrafen, berührte die Sonne fast den westlichen Horizont. Der Himmel war ein wunderschönes Farbenspiel aus Rot- und Orangetönen. Wir waren alle erschöpft von der langen Reise. Trotzdem mussten wir Frauen nun noch die Zelte für die Nacht aufbauen. Die andere Stammesgruppe hatte ihre Zelte bereits an dem Bach aufgeschlagen, der hier durchs Gras plätscherte und dessen Ufer dicht mit Gehölz bewachsen war. Wieder halfen uns einige Frauen dabei, unser Tipi aufzubauen, denn zu zweit dauerte es zu lange und war fast nicht möglich. Die ledernen Zeltwände waren viel schwerer als unsere heutigen Zeltplanen, und die Zeltstangen waren lang und sperrig. Schließlich stand unser Tipi wieder an seinem gewohnten Platz am Rand des Dorfs, doch war diesmal hinter uns kein Waldrand, sondern die offene Prärie.

Zum Abendessen pflückten wir am Bachufer die reifen blauen Pflaumen , die uns verlockend anleuchteten. Die Kinder und Frauen der anderen Stammesgruppe waren ebenfalls dabei. Natürlich wurde ich wieder mit verstohlenen Blicken beäugt und es sprach sich schnell herum, dass eine Weiße bei uns im Dorf lebte.

Ich sah, wie Thokala-gleschka am Rand des Lagers mit einigen jungen Männern aus der anderen Gruppe redete und in meine Richtung gestikulierte, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Ein paar der Krieger blickten zu mir und selbst in den Schatten der Dämmerung kam es mir so vor, als wären ihre Mienen besonders finster. Irgendwann gesellte Ohitika sich zu ihnen und hörte schweigend zu, die Arme verschränkt. Ich zog mich in unser Tipi zurück, besorgt, aber zu erschöpft, um mir Gedanken darüber zu machen.

Drinnen schichtete ich ein wenig trockenes Holz in der Kuhle auf, die Wihinapa ausgehoben hatte, und machte Feuer. Jetzt gelang es mir schon viel besser, auch wenn ich immer noch länger brauchte als die anderen Frauen.

Wihinapa gähnte ausgiebig und teilte mit mir noch ein Stück Pemmikan, diese Mischung aus getrocknetem Fleisch, Fett und Beeren. Wir saßen schweigend am Feuer. Die Flammen knisterten und füllten das Zelt mit ihrem flackernden Schein. Von draußen drangen noch immer Männerstimmen herein, die ärgerlich anschwollen, dann wieder abebbten. Ich zog die Knie an die Brust und schlang meine Arme darum. Wihinapa öffnete ihre Zöpfe und kämmte sorgfältig ihr Haar, als Ohitika sich durch den Eingang duckte.

Er setzte sich zu uns ans Feuer und starrte eine Weile ebenfalls schweigend in die Flammen. Die Männer draußen schienen immer noch zu diskutieren. Ich schielte fragend zu ihm hin. Er zündete sich eine kunstvoll geschnitzte Pfeife an, die wie ein Adlerkopf geformt war, und begann bedächtig, sie zu rauchen. Ich beobachtete die blauweißen Kringel, die von ihr aufstiegen, im Feuerschein tanzten und sich verflüchtigten. Das Tipi füllte sich mit einem würzigen Duft. Draußen auf der Prärie heulte ein einsamer Wolf und die Hunde im Dorf schlugen an.

Erst nachdem er fertig geraucht, die Pfeife ausgeklopft und sie sorgfältig wieder verstaut hatte, sagte er: „Wir werden die Büffel morgen erreichen. Die Herde zieht nach Süden, in ihre Wintergründe. Es ist eine große Herde, aber eine Gruppe von einigen Dutzend Tieren hat sich von ihr abgespalten und weidet in einem Flusstal. Dort können wir sie einkreisen."

Wihinapa lächelte erfreut, während sie ihre Zöpfe wieder mit einem Lederband umwickelte. „Ohitika wird gute Beute machen, wie jedes Mal", sagte sie zuversichtlich. „Mein Bruder ist ein großer Büffeljäger", fuhr sie an mich gewandt fort, „und sein Pferd ist gut ausgebildet."

Sie war seine Schwester, kein Wunder, dass sie so dachte — aber ich lächelte zurück.

Ohitika ging nicht auf dieses Lob ein, nur seine Züge entspannten sich ein wenig. Er zog seinen Köcher herbei und begann, mit einem Messer die Pfeilschäfte einzukerben. Anhand dieser Markierungen würde man später erkennen, welcher Jäger einen Büffel getötet hatte. Derjenige, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte, hatte den ersten Anspruch auf die Beute, aber wer viel erlegte, gab auch viel an die anderen Dorfbewohner ab, die weniger Erfolg gehabt hatten. So wurde sichergestellt, dass jeder ausreichend Vorräte für den kommenden Winter hatte.

Ich beobachtete ihn eine Weile bei seiner Tätigkeit, dann nahm meinen Mut zusammen und fragte in meinem unbeholfenen Lakota: „Was haben die Männer da draußen besprochen?"

Ohitika hörte nicht auf, zu arbeiten, steckte einen Pfeil zurück in den Köcher und zog einen anderen heraus. Ich glaubte, ein winziges Fältchen zwischen seinen Augen zu sehen. „Die Krieger des anderen Dorfes haben gehört, dass immer mehr Weiße in unsere Jagdgründe eindringen. Weiter südlich entlang des Platte-Flusses durchqueren sie in langen Wanderzügen unser Gebiet und siedeln sich an, schießen unser Wild und verschmutzen die Prärien."

Ich biss mir auf die Lippe und zog eine Lederdecke um meine Schultern.

„Viele junge Krieger unseres Stammes und die der Cheyenne und Arapaho denken, dass wir diese Vordringen nicht länger dulden können. Sie wollen zurückschlagen. Nach der Büffeljagd wollen sie auf den Kriegspfad ziehen und viele aus unserem Dorf werden sich ihnen anschließen. Darunter auch Thokala-gleschka, der die Weißen hasst. Sie wollen die Weißen zurücktreiben in das Land, aus dem sie gekommen sind."

Wihinapa sah erschrocken aus, aber Ohitika schaute nicht sie an, sondern mich. Sein Blick durchbohrte mich förmlich und ich konnte ihm nicht standhalten. „Wird Ohitika mit ihnen ziehen?", fragte ich leise und mit niedergeschlagenen Lidern.

„Ich habe mich noch nicht entschieden", sagte er nach einer kurzen Pause.

Tu es nicht, wollte ich am liebsten rufen. Es hat keinen Sinn.

Ich hatte die Geschichte in meinem Buch nachgelesen und wusste: Egal, wie viele Leben auf beiden Seiten diesem Krieg zum Opfer fielen, die Indianer würden letztlich unterliegen. Wenn Ohitika erst gut genug lesen konnte, würde er es auch erfahren. Ich schauderte. Und wenn er das tat? Würde es seine Handlungen beeinflussen? Würde er sich einfach zurücklehnen und der Geschichte ihren Lauf lassen oder würde er trotzdem kämpfen, weil das das Einzige war, was er tun konnte?

In dieser Nacht lag ich noch lange wach, obwohl meine Gliedmaßen sich anfühlten wie Blei. Um uns herum heulten die Wölfe und der Wind pfiff um die Zelte. Aber mir war zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich tatsächlich Geheimnisse besaß. Geheimnisse, die kein anderer kannte und die das Potenzial hatten, den Lauf der Geschichte zu verändern ...

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